Rückkehr nach Cincinnati. Eine Fahrt in der Stage-Coach von Cincinnati nach Columbus und von da nach Sandusky. Dann über den Eriesee zu den Niagarafällen
Da ich durch das Innere des Staates Ohio reisen und bei dem Städtchen Sandusky, wohin uns der Weg nach dem Niagara führen mußte, »die Seen streifen« wollte (wie man hier sagt), mußten wir von St. Louis denselben Weg, auf dem wir gekommen waren, wieder zurück bis Cincinnati machen.
Da es sehr schönes Wetter war und das Dampfboot, statt weiß Gott wie früh am Morgen abzugehen, die Abreise zum dritten- oder viertenmal wieder auf den Nachmittag verschob, fuhren wir inzwischen nach einem alten französischen Dorfe am Flußufer, welches eigentlich Carondelet heißt, aber den Spitznamen »Vide poche« bekommen hat, und bestellten das Dampfboot dahin, das uns später abholen sollte.
Der Ort bestand aus wenigen ärmlichen Hütten und zwei oder drei Wirtshäusern, deren Speisekammern in einem Zustand waren, der allerdings den Spitznamen des Dorfes rechtfertigte, denn in keinem der drei Wirtshäuser konnte man etwas zu essen bekommen. Endlich jedoch, nachdem wir etwa eine halbe Meile zurückgegangen waren, fanden wir ein einzeln stehendes Haus, wo wir Schinken und Kaffee auftrieben; da blieben wir, um die Ankunft des Bootes zu erwarten, welches schon von weitem, vom Rasenplatz vor der Türe aus, wenn es kam, zu sehen sein mußte.
Es war eine hübsche, anspruchslose Dorfschenke, und wir nahmen unser Mahl in einem sonderbaren kleinen Zimmer ein, worin ein Bett stand und einige alte Ölgemälde hingen, die zu ihrer Zeit wahrscheinlich in einer katholischen Kapelle oder einem Kloster ihren Dienst getan hatten. Das Essen war gut und wurde mit musterhafter Reinlichkeit serviert. Die Wirtsleute waren ein charakteristisches altes Pärchen, mit dem wir lange plauderten und das vielleicht ein sehr gutes Musterbeispiel für jene Art von Leuten im Westen ist.
Er war ein alter Bursche mit einem ausgedörrten, scharf markierten Gesicht, der im letzten Kriege mit England in der Miliz gedient und alles mitgemacht hatte, nur keine Schlacht; und auch die hätte er beinah mitgemacht, um ein Haar, wie er uns sagte. Er war sein Lebelang ruhelos und unstet gewesen, immer nach Veränderung begierig, und war immer noch der alte; denn wenn ihn nichts zu Hause hielte, sagte er, indem er mit Hut und Hand nach dem Fenster wies, an dem seine Frau saß, würde er seine Büchse putzen und morgen nach Texas gehen. Er war einer von den vielen, diesem Erdteil angehörigen Abkömmlingen Kains, die von Geburt auf bestimmt zu sein scheinen, die Pioniere des großen, immer vorrückenden Menschenheeres zu machen, die mit Freuden von Jahr zu Jahr weiter als Außenposten vorrücken und einen heimischen Herd nach dem andern hinter sich lassen und endlich sterben, unbekümmert; deren Gräber Tausende von Meilen von den immer weiterwandernden Menschengeschlechtern zurückgelassen werden.
Seine Frau war eine gute, häuslich gesinnte alte Seele, die mit ihm aus »der Königin der Städte« Philadelphia gekommen war. Aber sie fand keinen Geschmack an diesen westlichen Einöden und hatte auch keine Ursache dazu. Denn alle ihre Kinder waren hier nach und nach in der Kraft und Blüte ihrer Jugend langsam am Fieber hingesiecht. Ihr Herz blute, sagte sie, wenn sie an sie denke; und von ihnen selbst mit Fremden in dieser verlassenen Gegend zu sprechen erleichterte ihr Herz und wurde ihr ein schmerzliches Vergnügen.
Gegen Abend kam das Dampfboot an, und wir nahmen Abschied von der armen Alten und ihrem abenteuerlustigen Gatten, um uns wieder an Bord der »Messenger« zu begeben, die uns diesmal den Mississippi abwärts führen sollte.
Wenn die Bergfahrt auf diesem Strom, da das Boot nur langsam die sich entgegenstemmenden Wellen überwindet, schon langweilig ist, so ist es das Hinabschießen in den wirbelnden Strom fast noch mehr. Bei einer Schnelligkeit von 12-15 Meilen die Stunde muß sich das Boot durch ein Labyrinth schwimmender Baumstämme drängen, die man in der Dunkelheit häufig vorher nicht bemerkt. Die ganze Nacht hindurch wurde das Läuten der Glocken nicht fünf Minuten lang unterbrochen, und nach jedem Läuten wurde das Schiff erschüttert, bald von einem einzigen Stoß, bald von einem Dutzend in schneller Aufeinanderfolge, deren schwächster mehr als hinreichend schien, den schwachen Kiel wie einen Strohhalm zu zerbrechen. Wenn man nach Sonnenuntergang in die schmutzigen Wogen hinabblickte, so schien der Strom von Ungeheuern zu wimmeln, wie diese schwarzen, ungeschlachten Massen sich auf der Oberfläche wälzten oder plötzlich wieder auftauchten, wenn das Boot, seinen Weg durch eine Schar dieser Stämme suchend, ein paar davon unter das Wasser gedrückt hatte. Zuweilen mußte der Dampfer eine Zeitlang anhalten, und dann umdrängten sie uns von allen Seiten, eine schwimmende Insel um uns bildend. Wir mußten dann warten, bis sich der hemmende Gürtel irgendwo trennte, wie schwarze Wolken, vom Wind auseinandergerissen, und uns die Weiterfahrt gestattete.
Bei guter Zeit nächsten Morgen erblickten wir abermals jenen abscheulichen Morast, Cairo genannt, wo wir anhielten, um Holz einzunehmen. Unser Nachbar war eine Barke, deren Planken kaum noch zusammenhielten. Sie war am Ufer befestigt und trug in großen Buchstaben die Inschrift »Kaffeehaus«. Wenn ich nicht irre, war dieses schwimmende Paradies ein Zufluchtsort für die Uferbewohner während der Zeit, wo der Mississippi ihre Häuser zwei oder drei Monate lang unter seinen schlammiger Fluten begräbt. Doch als wir von hier aus südwärts blickten, hatten wir die Freude, den unleidlichen Strom in unabsehbarer Länge seine schlammigen Gewässer nach New Orleans wälzen zu sehen; und bald durchschnitten wir die gelbe Grenze, die quer über die Mündung des Ohio läuft, und schwammen wieder auf dessen klaren Gewässern in der frohen Hoffnung, den Mississippi nie wiederzusehen, außer in unruhigen Träumen. Der Übergang aus dem erstem in seinen heiterern Nachbar ist wie der Wechsel von Qual zu Ruhe oder wie das Erwachen aus scheußlichen Träumen zu einer angenehmen Wirklichkeit.
Wir erreichten in der Mitte der vierten Nacht Louisville und benutzten mit Vergnügen das vortreffliche Hotel dieser Stadt um hier zu übernachten. Am nächsten Tag fuhren wir mit der »Ben Franklin«, einem schönen Postdampfer, nach Cincinnati, wo wir kurz nach Mitternacht ankamen. Da wir dem Schlafen auf Schiffbetten keinen Geschmack mehr abgewinnen konnten, waren wir wach geblieben, um sogleich an Land zu gehen. Über die finstern Decks andrer Boote, durch Labyrinthe von Maschinen und lecken Sirupfässern tasteten wir unsern Weg bis auf die Straße, klopften den Portier des Hotels, wo wir schon bei unserm frühern Hiersein gewohnt hatten, heraus und befanden uns kurz darauf wieder auf festem Lande in einem behaglichen Zimmer.
Wir blieben bloß einen Tag in Cincinnati und setzten dann unsere Reise nach Sandusky fort. Da die Art, wie wir reisten – mit der Stage-Coach bis Columbus und von da weiter mit einer Mietkutsche –, das mit der schon beschriebenen Reise begonnene Charakterbild vervollständigt, wird mich der Leser gewiß begleiten, wenn ich ihm das Versprechen gebe, daß ich die Reise mit möglichster Schnelligkeit machen werde.
Das Ziel für die erste Hälfte unserer Reise war Columbus. Es ist 120 Meilen von Cincinnati entfernt, aber die ganze Straße und das ist eine seltene Wohltat – ist makadamisiert, so daß man in der Stunde sechs Meilen fährt.
Wir brechen um 8 Uhr morgens auf, und zwar in einer großen Postkutsche, so dickbäuchig, daß ich ernste Besorgnisse für ihre Gesundheit hege. Jedenfalls ist sie wassersüchtig, denn sie hat inwendig für zwölf Passagiere Platz. Aber wunderbarerweise ist sie auch glänzend und sehr reinlich gehalten, denn sie ist fast noch neu; und sie rattert lustig durch die Straßen von Cincinnati.
Unser Weg führt uns durch eine schöne Gegend, überall angebaut und die besten Hoffnungen auf eine überreiche Ernte bietend. Zuweilen fahren wir durch ein Feld, wo die steifen Maisstengel wie ein Feld voll Spazierstöcke aussehen, dann wieder durch ein Gehege, wo der Weizen in einem Labyrinth von Baumstümpfen hervorsprießt. Überall erblickt das Auge die primitiven Einfriedungen, die aus ungeschälten Baumstämmen bestehen, und wenn dies auch eben nicht hübsch aussieht, so sind doch die Farmhäuser alle reinlich, und man könnte fast glauben, man reise durch Kent.
Wir halten oft unterwegs an den öden Wirtshäusern an, um die Pferde zu tränken. Der Kutscher steigt herunter und füllt den Eimer und bringt ihn den Pferden. Fast nie kommt jemand, ihm zu helfen, und selten umstehen uns neugierige unbeschäftigte Zuschauer. Zuweilen, wenn wir die Pferde gewechselt haben, macht es Schwierigkeiten, den Wagen wieder in Gang zu bringen. Das liegt an der mangelhaften Methode der Amerikaner, ihren Pferden die ersten Rudimente der Bildung beizubringen. So ein junges Pferd wird eingefangen, angeschirrt und vor den Wagen gespannt, ohne daß man es fragt. Endlich aber, nachdem die Pferde sich genügend ausgetobt haben, setzen wir uns doch in Bewegung, und die Reise wird im gewöhnlichen Trabe fortgesetzt.
Zuweilen, wenn wir anhalten, kommen ein paar halbbetrunkene lockere Brüder aus der Tür gewankt, die Hände in den Hosentaschen, oder sie sitzen in Schaukelstühlen oder auf dem Geländer der Kolonnade oder auf dem Fensterbrett. Sie haben selten ein Wort für uns oder für ihre Gesellschafter, sondern sitzen schweigend da, die Pferde und den Wagen mit trägen Augen anstarrend. Der Wirt sitzt gewöhnlich mitten unter ihnen und scheint von der ganzen Gesellschaft der zu sein, den die Angelegenheiten des Hauses am wenigsten angehen. Er steht in demselben Verhältnis zu seinem Wirtshaus wie der Kutscher zu seinem Wagen und seinen Passagieren; was auch im Bereich seines Geschäftes geschehen möge, ihm ist es vollkommen gleichgültig, und er läßt sich gewiß kein graues Haar darüber wachsen.
Das häufige Wechseln des Kutschers bringt keine Abwechslung in dem Charakter desselben zutage. Er ist immer schmutzig, mürrisch und schweigsam. Wenn sein Geist oder sein Körper nur die geringste Anlage zur Aufgewecktheit und Regsamkeit hat, so besitzt er jedenfalls auch die Fähigkeit, diese Eigenschaften mit bewundernswertem Geschick zu verbergen. Er spricht nie, wenn man neben ihm auf dem Bock sitzt, und wenn man ihn anredet, antwortet er, wenn man ihn in sehr redseliger Laune trifft, einsilbig, sonst gar nicht. Er macht den Mitreisenden auf nichts auf dem Wege aufmerksam und sieht sich nach nichts um; er scheint der Welt und des Lebens müde zu sein. Die Honneurs seiner Kutsche zu machen fällt ihm gar nicht ein; ihn gehen bloß die Pferde etwas an. Der Wagen folgt, weil er hinten dran hängt und auf Rädern ruht, nicht, weil Reisende darin sind. Zuweilen, wenn das Ende einer langen Teilstrecke naht, kommt das unharmonische Bruchstück eines Wahlliedes aus seinem Munde; aber sein Gesicht singt nie mit; es ist nur seine Stimme, und oft nicht einmal die.
Er kaut stets Tabak und spuckt stets und belastet sich nie mit einem Taschentuch. Die Folgen dieser Tugenden für den Passagier im Coupé, vorzüglich wenn er auf der dem Winde entgegengesetzten Seite sitzt, sind nicht angenehm.
Wenn die Kutsche einmal anhält und man die Stimmen der Innenpassagiere hören kann, oder wenn einer von den Zuschauern sie anredet oder diese miteinander sprechen, wird man immer eine Phrase merkwürdig oft wiederholen hören. Es ist eine sehr gewöhnliche und nicht vielversprechende Phrase, nämlich: »Yes, Sir«; aber sie wird allem möglichen angepaßt und füllt jede Pause des Gesprächs aus. Etwa so: Zeit der Handlung: ein Uhr mittags; Szene: der Ort, wo wir zum Mittagessen anhalten. Die Kutsche fährt vor der Tür eines Wirtshauses vor. Das Wetter ist warm, und einige unbeschäftigte Personen treiben sich an der Tür und in der Umgebung des Gasthauses herum, auf den Beginn der Mahlzeit wartend. Unter ihnen befindet sich ein untersetzter Herr mit einem braunen Hut, der sich in einem Stuhl vor der Schenke schaukelt.
Wie die Kutsche anhält, guckt ein Herr mit einem Strohhut aus dem Wagenfenster.
Strohhut zu dem untersetzten Herrn mit dem braunen Hut:
Ich schätze, das ist Richter Jefferson, nicht?
Braunhut schaukelt sich immer noch und spricht sehr langsam und ohne alle Betonung: Yes, Sir.
Strohhut: Warmes Wetter, Richter.
Braunhut: Yes, Sir.
Strohhut: Hatten ein paar kalte Tage letzte Woche.
Braunhut: Yes, Sir.
Strohhut: Yes, Sir.
Eine Pause. Sie betrachten einander mit sehr ernsthaftem Gesicht.
Strohhut: Ich schätze, Ihr habt die Sache mit dem Gemeinderichter jetzt abgemacht?
Braunhut: Yes, Sir.
Strohhut: Wie fiel das Urteil aus, Sir?
Braunhut: Für den Angeklagten, Sir.
Strohhut fragend: Yes, Sir?
Braunhut beteuernd: Yes, Sir.
Beide nachdenkend und auf den Boden blickend: Yes, Sir. Wieder eine Pause. Sie sehen sich wieder an, noch ernster als vorhin.
Braunhut: Die Kutsche kommt heut ein bißchen spät, schätze ich.
Strohhut zweifelnd: Yes, Sir!
Braunhut die Uhr herausziehend: Yes, Sir; fast zwei Stunden zu spät.
Strohhut zieht die Augenbrauen in größtem Erstaunen in die Höhe: Yes, Sir?
Braunhut entschieden, indem er die Uhr wieder einsteckt: Yes, Sir.
Alle übrigen Innenpassagiere unter sich: Yes, Sir.
Kutscher sehr mürrisch: 's ist nicht wahr.
Strohhut zum Kutscher: Nun, ich weiß nicht, Sir. Es hat ziemlich lange gedauert auf den letzten fünfzehn Meilen.
Das ist eine Tatsache.
Da der Kutscher nicht antwortet und offenbar keine Lust hat, über eine Sache zu streiten, die ihm so ganz und gar gleichgültig ist, sagt ein anderer Passagier: »Yes, Sir«; worauf der Herr mit dem Strohhut in Anerkennung seiner Höflichkeit erwidert: »Yes, Sir.« Der Strohhut fragt hierauf den Braunhut, ob er nicht meine, daß die Kutsche, in der er sitze, neu sei. Worauf der Braunhut abermals antwortet: »Yes, Sir.«
Strohhut: Ich glaubte es auch. Ziemlich starker Firnißgeruch, Sir?
Braunhut: Yes, Sir.
Alle übrigen Innenpassagiere: Yes, Sir.
Braunhut zu der Reisegesellschaft im allgemeinen: Yes, Sir.
Nachdem diese große Anstrengung der geselligen Talente der Reisegesellschaft überstanden ist, öffnet der Strohhut die Tür und steigt aus, und die übrigen Passagiere folgen ihm. Nach kurzem Warten sitzen wir mit den regelmäßigen Tischgästen der Schenke an der Tafel, haben aber nichts zu trinken als Tee und Kaffee. Da beides sehr schlecht und das Wasser noch ungenießbarer ist, verlange ich Branntwein; aber wir sind in einem Mäßigkeitsgasthaus, und geistige Getränke sind weder für Geld noch für gute Worte zu haben. Unter diesem unsinnigen Tee- und Kaffeezwang muß der Reisende häufig genug in Nordamerika leiden; aber ich habe nie bemerkt, daß das zarte Gewissen diese der Mäßigkeit opfernden Wirte vermocht hätte, ein mehr als gewöhnlich genaues Verhältnis zwischen der Qualität ihrer Getränke und dem Preise derselben zu beobachten; im Gegenteil habe ich sie eher im Verdacht, erstere zu verringern und letzteren zu erhöhen, um sich auf diese Weise für den verminderten Absatz der geistigen Getränke zu entschädigen. Jedenfalls wäre es das einfachste für Personen von so zartem Gewissen, gar kein Wirtshaus zu führen.
Nach Aufhebung der Tafel setzen wir uns in einen anderen Wagen, der uns vor der Tür erwartet (denn die Wagen sind unterdes gewechselt worden), und treten unsere Reise wieder an. Die Gegend ist ebenso fruchtbar wie die, welche wir am Vormittag durchreisten, und erst am Abend erreichen wir die Stadt, wo wir Tee und Abendessen einnehmen wollten. Wir halten erst vor dem Postamt, um die Postsäcke abzugeben, und dann fahren wir durch die gewöhnlich breite Straße, an beiden Seiten mit zahlreichen Läden besetzt, unter denen sich die der Tuchhändler durch ein großes Stück scharlachrotes Tuch an der Tür auszeichnen, zum Hotel. Wir finden eine große Tischgesellschaft vor, aber still und schweigsam wie gewöhnlich. Doch präsidiert eine hübsche, ruhige Wirtin an der Tafel, und uns gegenüber sitzt ein Schullehrer aus Wales mit Frau und Kind, der aufs Geratewohl mit großen Erwartungen, denen der Erfolg nicht entsprach, hierher ausgewandert ist, um Unterricht in den alten Sprachen zu geben. Alles das unterhält uns genügend, bis das Mahl vorüber ist und ein anderer Wagen bereitsteht. Bei hellem Mondschein brechen wir auf und fahren bis Mitternacht, wo wir anhalten, um abermals den Wagen zu wechseln. Diesmal müssen wir wohl eine halbe Stunde in einem elenden Zimmer warten, mit einem kaum noch erkennbaren Bildnis Washingtons über dem rauchigen Kamin und einem großen Wasserkrug auf dem Tisch. Über den letzteren fallen die Passagiere mit solchem Eifer her, daß man sie für eifrige Schüler des Doktor Sangrado halten möchte. Unter ihnen befinden sich ein sehr kleiner Knabe, der Tabak kaut wie ein sehr großer, und ein sehr langweiliger Herr, der mit Zahlen und statistischen Belegen über alles, selbst über die Poesie, spricht, und das stets in demselben Ton, mit der allerernstesten Bedächtigkeit. Er setzte sich neben mich und erzählte mir, daß der onkel einer gewissen Dame, die ein gewisser Kapitän entführt und geheiratet habe, in dieser Gegend wohne und daß besagter onkel von so tapferer und blutdürstiger Gemütsart sei, daß es ihn nicht wundern werde, wenn er besagtem Kapitän nach England folge, »und ihn niederschießt, wo er ihn findet«. Aber die Müdigkeit hatte meinen Widerspruchsgeist rege gemacht, und ich erlaubte mir, an der Ausführbarkeit derartiger Pläne zu zweifeln. Ich versicherte ihm, daß sein Onkel, wenn er den Eingebungen seiner tapfern Seele folge, sich jedenfalls eines Morgens ganz unvermutet in Old Bailey wiederfinden würde und daß er gut daran tue, vor seiner Abreise sein Testament zu machen, da er es jedenfalls brauchen werde, ehe er lange in England gewesen sei.
So geht es die ganze Nacht hindurch, doch bald bricht der Tag an, und die ersten heitern Strahlen der Sonne begrüßen uns, riesig lange Schatten über den Weg werfend. Ihr Licht fällt auf eine öde Gegend mit verkrüppelten Bäumen und schmutzigen, ärmlichen Hütten, eine wahre Wüste mitten im Walde, mit üppig wucherndem Unkraut wie auf der Fläche stehenden Wassers; giftige Pilze schießen aus dem Boden, wo sich der seltne Fußtritt des Menschen in den schwammigen Boden gedrückt hat, und gelbe, korallenartige Schwämme quellen aus den Ritzen der Hütten hervor; ein widerwärtiger Anblick so nahe vor den Toren der Stadt. Aber das Gebiet wurde vor langen Jahren schon angekauft, und da der Eigentümer nicht zu entdecken ist, kann es der Staat nicht zurückkaufen. So bleibt die Strecke öde inmitten fleißig bebauten Landes, wie ein Fleck, geschändet und verflucht durch eine gräßliche Tat.
Wir gelangten kurz vor sieben Uhr nach Columbus und blieben daselbst einen Tag und eine Nacht; wir bekamen in einem sehr großen, noch unausgebauten Hotel, das Neill House genannt, vortreffliche Zimmer, die elegante Möbel aus poliertem Nußholz hatten und, gleich den Zimmern einer italienischen Villa, auf einen schönen Portikus und eine steinerne Veranda gingen. Die Stadt ist sauber und hübsch, folglich soll sie noch vergrößert werden. Sie ist der Sitz der Staatsgesetzgebung von Ohio und erhebt deshalb auf einige Anerkennung ihrer Wichtigkeit Anspruch.
Da am Morgen darauf keine Stage-Coach auf der Straße ging, die wir einschlagen wollten, nahm ich einen Extrawagen um einen billigen Preis nach Tiffin, einer kleinen Stadt, von wo eine Eisenbahn nach Sandusky führt. Dieser Extrawagen war eine gewöhnliche vierspännige Stage-Coach, wie ich sie schon früher beschrieben habe; er wechselte Pferde und Kutscher, gehörte aber uns ausschließlich für die ganze Fahrt. Damit wir auf jeder Station sicher unsere Pferde bekämen und von keinem blinden Passagier belästigt würden, gaben uns die Eigentümer eine Art von Agenten mit auf den Bock, der uns den ganzen Weg begleiten sollte. Unter dieser Eskorte und außerdem mit einem Eßkorb voll schmackhafter kalter Speisen, Obst und Wein versehen, fuhren wir den folgenden Tag halb sieben Uhr in der Früh wohlgemut ab und freuten uns nicht wenig, daß wir für uns allein waren.
Es war gut, daß wir so vortrefflicher Laune waren, denn der Weg, den wir an diesem Tag zurücklegten, war imstande, jedes Temperament, das nicht entschieden auf anhaltend Schön stand, noch einige Zoll unter Stürmisch herunterzuschütteln. Bald wurden wir in der Kutsche alle auf einen Haufen zu Boden geschmissen, bald zerschlugen wir uns die Köpfe an der Decke. Jetzt lag der Wagen mit einer Seite tief im Kot, und wir hielten uns ängstlich an der andern fest; dann lag er den beiden ersten Pferden des Viergespanns auf der Kruppe; dann endlich hob er sich wieder wie toll in die Luft empor, und alle vier Pferde standen auf dem Gipfel einer unübersteigbaren Anhöhe, sahen sich gleichgültig nach uns um und schienen zu sagen: »Spannt uns nur aus. Es geht nicht.« Die Kutscher, die hier dennoch auf eine wunderbare Weise fortkommen, drehen und zerren und schrauben dabei ihr Gespann so merkwürdig herum, daß es nichts Ungewöhnliches war, wenn man zum Fenster hinausblickte, den Kutscher scheinbar ganz müßig dasitzen zu sehen, einen Zügel in jeder Hand, als spielte er bloß Kutschieren wie die kleinen Kinder, während die Vorderpferde plötzlich zum Hinterfensterchen der Kutsche hereinguckten, als hätten sie Lust, hinten aufzusteigen. Eine große Strecke ging es über eine sogenannte Corduroy-Straße, die darin besteht, daß man Baumstämme in einen Morast wirft, wo sie von selbst sich fest zusammenfügen sollen. Der leichteste Stoß, mit dem das schwere Fuhrwerk von einem Balken auf den andern stürzte, war hinreichend, einem alle Knochen im Leibe zu rädern. Eine solche Masse schmerzhafter Empfindungen auf einmal kann man unmöglich anderswo kennenlernen, außer wenn man vielleicht den Versuch machte, in einem Omnibus auf die Kuppel von St. Paul hinaufzufahren. Nicht ein einziges Mal den ganzen Tag war der Wagen in einer Stellung oder Bewegung, an die wir bei uns gewöhnt wären. Nicht ein einziges Mal gebärdete er sich wie irgendein Fuhrwerk auf der Welt, das auf Rädern geht.
Und doch war es ein schöner Tag und die Temperatur köstlich. Wir näherten uns ja dem Niagara und der Heimat. Gegen Mittag stiegen wir in einem frischen, lieblichen Walde aus und nahmen unser Diner auf einem umgestürzten Baume ein; die besten Tafelreste überließen wir einem Hüttenbewohner, und die schlechtesten teilten wir mit den Schweinen, die in dieser Gegend, zur größten Freude unseres Kommissariats in Kanada, zahlreich sind wie Sand am Meere. Dann machten wir uns wieder lustig auf die Reise.
Als die Nacht hereinbrach, wurde der Weg immer enger und enger, bis er sich zuletzt so zwischen den Bäumen verlor, daß der Kutscher nur instinktmäßig den Weg zu finden schien. Wir hatten wenigstens die tröstliche Überzeugung, daß er nicht einschlafen konnte, denn jeden Augenblick stieß das eine oder andere Rad so heftig gegen einen Baumstrunk, daß er sich zusammennehmen mußte, um nicht vom Bock zu fallen. Ebensowenig Grund hatten wir, von zu schnellem Fahren die geringste Gefahr zu fürchten, da die Pferde auf diesem Boden genug zutun hatten, wenn sie gehen wollten; zum Scheuwerden hatten sie gar keinen Platz: eine ganze Herde wilder Elefanten hätte in einem solchen Wald mit unserer Kutsche nicht durchgehen können. Wir stolperten also ganz ruhig und zufrieden weiter.
Diese Baumstümpfe, die dem Reisenden in Amerika aufstoßen, sind etwas ganz Seltsames; wessen Auge nicht daran gewöhnt ist, der erstaunt über die zahllosen und ewig wechselnden Gestalten, die sie annehmen, sobald es dunkel wird. Bald sieht er eine griechische Urne mitten im einsamen Feld stehen, bald ein Weib, an einem Grabhügel weinend; jetzt sieht er einen ganz gewöhnlichen alten Gentleman mit den Daumen in beiden Armlöchern seiner weißen Weste, dann einen Studenten, der über seinem Buch liegt; jetzt einen kauernden Neger, dann wieder ein Pferd, einen Hund, eine Kanone, einen Bewaffneten; einen Buckligen, der den Mantel abgelegt hat und in das Mondlicht hervortritt. Oft machten sie mir so viel Vergnügen wie die optischen Gläser einer Zauberlaterne, aber nie folgten die Verwandlungen der Laune meiner Phantasie, vielmehr schienen sie sich mir gegen meinen Willen aufzudrängen; und, seltsam genug, zuweilen erkannte ich in ihnen das Widerspiel von Figuren und Bildern aus längst vergessenen Kinderbüchern.
Bald wurde es aber selbst für diese Unterhaltung zu dunkel, und die Bäume standen so dicht zusammen, daß ihre dürren Äste von beiden Seiten gegen die Kutsche schlugen und wir genötigt waren, den Kopf hübsch drin zu behalten. Es blitzte auch drei volle Stunden hindurch, und jeder einzelne Blitz war hell, bläulich und lang anhaltend; und wie die leuchtenden Strahlen zwischen dem dichten Gezweige hindurchschossen und der Donner dumpf über den Baumwipfeln hinrollte, konnte man sich kaum des Gedankens erwehren, daß der dunkle, dichte Wald bei dem Wetter nicht eben die beste Umgebung sei.
Endlich, zwischen zehn und elf Uhr abends, zeigten sich in der Ferne einige schwache Lichter, und Upper Sandusky, ein indianisches Dorf, wo wir bis zum Tagesanbruch ausruhen sollten, lag vor uns.
In der einzigen Schenke des Dorfes, einem Blockhaus, war alles schon zu Bett gegangen, doch öffnete man uns bald, als wir anpochten, und machte uns etwas Tee in einer Art von Küche oder Gaststube, deren Wände, statt mit Tapeten, mit alten Zeitungen beklebt waren. Die Schlafkammer, die mir und meiner Frau angewiesen wurde, war ein großes, niedriges, gespenstisches Zimmer; auf dem Ofen lag ein Haufen dürres Reisig; die beiden Türen ohne Schloß und Riegel, einander gerade gegenüber, gingen in das nachtdunkle, wilde Land hinaus und waren so eingerichtet, daß die eine immer die andere durch den Luftzug aufstieß: eine neue architektonische Erfindung, die ich mich nicht erinnere je vorher schon gesehen zu haben und die ich nicht ohne Verlegenheit entdeckte, nachdem ich zu Bett gegangen war, da ich für unsere Reisebedürfnisse eine beträchtliche Summe in Gold in meiner Reisetoilette hatte. Indes türmte ich etwas Gepäck gegen die Tür auf, und die Schwierigkeit war behoben; doch würde ich auch im entgegengesetzten Falle gewiß nicht schlechter geschlafen haben.
Mein Bostoner Freund kroch in sein Bett hinauf, irgendwo unterm Dach, wo ein anderer Gast bereits gewaltig schnarchte. Doch wurde er bald so unerträglich von den Flöhen gebissen, daß er wieder umkehrte und Schutz suchend sich in die Kutsche flüchtete, die vor dem Hause stand. Das war, nach dem Erfolg zu urteilen, kein kluger Schritt, denn die Schweine witterten ihn bald aus, und da sie die Kutsche für eine Art von Pastete, mit einer Art von Fleisch gefüllt, ansahen, fingen sie an, so scheußlich ringsherum zu grunzen, daß er sich fürchtete, wieder herauszukriechen und, am ganzen Leibe zitternd, bis zum Morgen drin liegen blieb. Und als er endlich erlöst war, konnte man ihn nicht einmal mit einem Glas Branntwein erwärmen; denn in den indianischen Dörfern verbietet die Gesetzgebung, aus weisen und wohlwollenden Absichten, Spirituosen auszuschenken. Diese Vorsichtsmaßregel nützt aber soviel wie nichts; denn die Indianer verschaffen sich dennoch Branntwein, und zwar teuerern und schlechteren, von den umherziehenden Hausierern.
Eine Ansiedlung von Wyandot-Indianern bewohnt diesen Ort. Unter der Gesellschaft beim Frühstück war ein sanfter alter Herr, der seit vielen Jahren von der Regierung der Vereinigten Staaten als Unterhändler zwischen ihr und den Indianern angestellt war. Eben hatte er mit diesem Volke wieder einen Vertrag abgeschlossen, durch welchen sie sich für ein ansehnliches Jahrgehalt verpflichteten, sich kommendes Jahr auf ein Gebiet zurückzuziehen, das ihnen angewiesen worden war. Rührend war die Schilderung, die er mir von ihrer treuen Anhänglichkeit an das Land ihrer Jugend und vorzüglich an die Gräber ihres Stammes entwarf. Er hatte viel solche Auswanderungen mit angesehen, und stets war es ihm ein peinlicher Anblick gewesen, obgleich er wußte, daß sie zu ihrem eigenen Besten hinwegzogen. Die Auswanderungsfrage war vor ein paar Tagen von diesem Stamme verhandelt worden; sie hatten eigens dazu eine Hütte gebaut, deren Balken noch jetzt vor der Schenke auf der Erde umherlagen. Nachdem die Redner gesprochen hatten, stellten sich die Bejahenden und Verneinenden einander gegenüber, und jedes erwachsene Mannsbild stimmte, wenn die Reihe an ihn kam. Sobald das Resultat bekannt war, gab die (ansehnliche) Minorität den übrigen nach, und alle Opposition hörte auf.
Wir begegneten später einigen dieser armen Indianer; sie ritten auf langhaarigen Ponies und sahen Zigeunern so ähnlich, daß ich, wenn sie mir in England begegnet wären, sicher geglaubt hätte, die Kinder jenes ruhelosen Wandervolkes vor mir zu sehen.
Wir brachen gleich nach dem Frühstück wieder auf und kamen auf einem womöglich noch schlechteren Wege als gestern gegen Mittag in Tiffin an, wo wir von dem Extrawagen Abschied nehmen mußten. Um zwei Uhr setzten wir uns auf die Eisenbahn, mit der es aber nicht so rasch ging, denn sie ist schlecht gebaut und der Boden feucht und sumpfig; wir kamen am Abend, zur Dinerzeit, in Sandusky an. Wir kehrten in einem bequem eingerichteten kleinen Hotel am Ufer des Eriesees ein, blieben da über Nacht und hatten keine andere Wahl, als den folgenden Tag zu warten, bis ein nach Buffalo bestimmtes Dampfboot käme. Die Stadt, welche ziemlich uninteressant und schmutzig aussah, hatte etwas von einem englischen Badeort außerhalb der Saison.
Unser Wirt, der sich's sehr angelegen sein ließ, es uns so bequem wie möglich zu machen, war ein hübscher Mann in den mittlern Jahren, der aus Neuengland, wo er geboren und erzogen war, hierher übersiedelt war.
Wenn ich sage, daß er fortwährend mit dem Hut auf dem Kopf zum Zimmer aus und ein ging oder sich hinstellte, um ebenso ungeniert zu plaudern, oder sich auf unser Sofa hinflegelte, die Zeitung aus der Tasche zog und zu lesen anfing, so erwähne ich das nur als charakteristisch für die Sitten des Landes, nicht etwa, um mich darüber zu beschweren oder weil es unangenehm gewesen wäre. In der Heimat würde ein solches Benehmen mich gewiß beleidigen, weil es bei uns nicht Sitte ist und folglich unverschämt wäre; aber in Amerika denkt ein gutmütiger Mensch der Art damit seine Gäste nur recht gastlich zu bedienen; und ich hatte ebensowenig das Recht – und wie ich offen sagen kann, ebensowenig Lust –, an sein Benehmen unseren englischen Maßstab zu legen, wie es mir einfallen konnte, mit ihm zu streiten, weil er nicht groß genug war, um unter Ihrer Majestät Grenadiere zu gehen. Ebensowenig ärgerte ich mich über eine possierliche alte Frau, eine Art Oberaufseherin in der Wirtschaft, die, wenn sie uns zu essen brachte, sich behaglich auf dem ersten besten Stuhl niederließ, eine große Nadel hervorzog und sich fortwährend damit die Zähne stocherte, wobei sie uns gravitätisch ansah (auch dann und wann uns mehr zu essen nötigte), bis es Zeit war, die Tafel aufzuheben. Genug, daß man überall, nicht bloß hier, uns mit der größten Artigkeit und Gefälligkeit entgegenkam und uns im allgemeinen den geringsten Wunsch an den Augen absah.
Wir nahmen eben, einen Tag nach unserer Ankunft, an einem Sonntag, ein zweites Diner ein, als ein Dampfboot sich sehen ließ und am Kai anlegte. Da es nach Buffalo ging, eilten wir sogleich an Bord und ließen bald Sandusky weit hinter uns.
Es war ein großes Fahrzeug von fünfhundert Tonnen und hübsch ausgerüstet, obwohl es Hochdruckmaschinen hatte, bei denen mir immer zumute war, als wohnte ich im ersten Stock einer Pulvermühle. Die Ladung bestand übrigens aus Mehl, von dem einige Fässer auf dem Deck standen. Der Kapitän, der zu uns heraufkam, um ein wenig zu plaudern und einen Freund von sich einzuführen, setzte sich, ein moderner Bacchus, rittlings auf eins dieser Fässer, zog ein großes Taschenmesser heraus und fing an während des Plauderns zu »schnitzeln«, indem er dünne Späne von den Rändern abschälte. Und er schnitzte so fleißig und herzlich, daß, hätte ihn nicht bald jemand abgerufen, vom ganzen Faß vielleicht nichts als Mehl mit Hobelspänen übriggeblieben wäre.
Nachdem wir einen oder zwei flachgelegene Orte berührt hatten, wo sich immer ein niedriger Damm mit einem stumpf artigen Leuchtturm, wie eine Windmühle ohne Flügel, in den See hinausstreckte, kamen wir um Mitternacht nach Cleveland, wo wir bis um neun Uhr am folgenden Morgen liegenblieben.
Ich war förmlich neugierig auf diese Stadt, denn ich hatte in Sandusky ein Stück Clevelandische Literatur in Gestalt einer Zeitung zu Gesicht bekommen, die sich gar stark über Lord Ashburtons Ankunft in Washington, zur Beilegung der Differenzen zwischen Nordamerika und Großbritannien, hatte vernehmen lassen; sie sagte, wie Amerika bereits als Säugling das stolze England »gepeitscht« habe und als Jüngling es immer noch peitsche, so sei es klar, daß Amerika auch in reifem Mannesalter das stolze England notwendig peitschen müsse; und sie versicherte allen echten Amerikanern, wenn Mr. Webster nur seine Schuldigkeit tue und den englischen Lord geschwind wieder heimschicke, so werde man binnen zwei Jahren »den Yankee Doodle im Hyde Park singen und ›Heil dir, Columbia‹ in den Hallen von Westminster«. Cleveland ist eine hübsche Stadt, und ich hatte die Genugtuung, das Redaktionsbüro des eben erwähnten Journals von außen anzusehen. Den großen Geist, der jene Artikel verfaßte, hatte ich leider nicht das Glück zu sehen, aber ich zweifle nicht, daß er in seiner Art ein Wundermann ist und seinen auserwählten Kreis von Verehrern hat.
An Bord unseres Schiffes war ein Gentleman, den, wie ich, ohne es zu wollen, durch die dünne Scheidewand zwischen unserem und seinem und seiner Frau Staatsgemach hörte, meine Anwesenheit sehr beunruhigte. Ich weiß nicht, wieso oder warum, aber ich ging ihm nicht aus dem Sinn und schien ihm sehr zu mißfallen. Zuerst hörte ich, wie er flüsterte – und das komischste war, daß er mir's gleichsam ins Ohr sagte –: »Boz ist noch immer an Bord, mein liebes Kind.« Nach einer langen Pause setzte er klagend hinzu: »Boz hält sich sehr zurückgezogen«, was allerdings richtig war, denn ich befand mich unwohl und hatte mich mit einem Buch in der Hand hingelegt. Jetzt dachte ich, er sei mit mir fertig, allein ich hatte mich getäuscht; denn nach einer langen Pause, während der er sich, glaub ich, unruhig von einer Seite auf die andere wälzte, ohne einschlafen zu können, brach er wieder aus und flüsterte: »Mir scheint, Boz wird gleich wieder ein Buch schreiben und alle unsere Namen hineinbringen!« und über diese eingebildeten Folgen seines Zusammenseins mit Boz in einem Boot stöhnte und verstummte er.
Wir legten um acht Uhr dieses Abends an der Stadt Erie an und blieben da eine Stunde liegen. Zwischen fünf und sechs Uhr morgens gelangten wir nach Buffalo, wo wir frühstückten; und da wir den großen Fällen jetzt zu nah waren, um anderswo geduldig auszuhalten, fuhren wir um neun Uhr desselben Morgens mit der Eisenbahn nach Niagara.
Es war ein jämmerliches Wetter, frostig und rauh; feuchter Nebel fiel, und die Bäume sahen in jener nordischen Region ganz dürr und winterlich aus. Sooft der Zug hielt, horchte ich, um das Brausen zu hören; fortwährend strengte ich mein Auge an und spähte nach der Richtung hin, wo, wie ich am Lauf des Stromes sah, die Fälle sein mußten; und jeden Augenblick erwartete ich das Sprühen und Stäuben der Fälle zu erblicken. Wenige Minuten, ehe wir hielten, aber auch nicht früher, sah ich zwei große weiße, langsam und majestätisch aus der Tiefe der Erde aufsteigende Wolken. Das war alles. Endlich stiegen wir aus, und da hörte ich zum erstenmal das mächtige Brausen der Wasser und fühlte den Boden unter meinen Füßen erzittern.
Das steile Ufer war schlüpfrig von Regen und halbgetautem Eis. Ich weiß kaum, wie ich hinabgekommen bin, aber ich befand mich bald unten und kletterte dann mit zwei englischen Offizieren über einige Felsblöcke, betäubt von dem Getöse, halb blind von dem Wasserstaub und naß bis auf die Haut. Wir standen am Fuße des amerikanischen Falles. Ich sah eine ungeheure Wassermasse, aus großer Höhe herabtosend, aber hatte keinen Begriff von Form oder Lage oder etwas anderem als betäubender Unermeßlichkeit.
Als wir in dem kleinen Boot saßen und über den angeschwollenen Fluß unmittelbar vor den beiden Wasserfällen setzten, fing ich an zu fühlen, was es war; aber ich war wie betäubt und unfähig, das Ungeheure des Schauspiels zu fassen. Erst als ich auf dem Tafelfelsen stand und auf die gewaltige, hinabstürzende glänzend grüne Flut hinabblickte, überkam die ganze Gewalt und Erhabenheit des Anblickes meine Seele.
Da, als ich fühlte, wie nahe ich jetzt meinem Schöpfer stand, war der erste und dauerndste Eindruck des erhabenen Anblicks – Friede. Seelenfrieden; ruhiges Erinnern an Verstorbene; seelenerquickende Gedanken an ewige Ruhe, ewiges Glück; nichts von Schrecken oder Entsetzen. Der Niagara prägte sich in mein Herz als ein Bild der Schönheit ein, um dort unwandelbar und unauslöschlich zu bleiben, bis sein Puls aufhört zu schlagen.
Oh, wie während der zehn denkwürdigen Tage, die ich auf diesem heiligen Boden zubrachte, das Drängen und Treiben des gewöhnlichen Lebens zurücktrat und immer kleiner und unbedeutender erschien! Welche Stimmen zu mir herauf tönten aus dem Wogendonner; welche längst von der Erde entschwundenen Gesichter mich anblickten aus den leuchtenden Tiefen; welche göttliche Verheißung in diesen Engelstränen glänzte, in diesen vielfarbigen, funkelnden Tropfen, die in der Luft herumstäubten und um die wundersam glänzenden Gewölbe tanzten, mit denen der ewigwechselnde Regenbogen den Kampf der Gewässer überspannte!
Ich verließ während der ganzen Zeit meines Dortseins die kanadische Seite nicht wieder. Denn drüben auf dem andern Ufer waren Menschen, und an solchen Orten vermeidet man gern fremde Gesichter. Den ganzen Tag umherzuwandern und die Fälle von allen Punkten aus zu betrachten; auf der Kante des Great-Horse-Shoe-Falles zu stehen und zu sehen, wie das eilende Wasser Kraft sammelte, ehe es an den Rand der Felsen kam, und doch wieder zu zögern schien, ehe es in den Schlund hinabschoß; von dem Flusse unten dem Herabsturz der Wassermassen zuzusehen; auf die benachbarten Höhen zu klettern und durch die Bäume hindurch das Wasser schäumend und tosend durch die Rapids dem Sturz entgegeneilen zu sehen; in dem feierlichen Schatten der Felsen stromabwärts sinnend zu weilen und zu sehen, wie der Strom, von keiner sichtbaren Gewalt bewegt, aufbrauste und wirbelte und den Widerhall erweckte, tief unter seiner Oberfläche noch durchkrampft von dem Sturz; den Niagara vor sich zu haben, von der Sonne beschienen und von dem Monde, glühend rot von den letzten Strahlen der Sonne oder grau, wenn die Schatten des Abends langsam auf ihn herabsanken; Tag für Tag ihn zu sehen und in der Nacht zu erwachen und seine nimmer schweigende Stimme zu hören: das war genug.
In jeder ruhigen Stunde denke ich jetzt: immer noch tosen und stürzen und toben diese Wassermassen den ganzen Tag lang; immer noch umgürten Regenbogen ihre Mitte. Immer noch, wenn die Sonne darauf scheint, glänzen und glühen sie wie geschmolzenes Gold. Immer noch, wenn der Himmel trübe ist, stürzen sie herab wie Schnee oder scheinen herunterzustäuben wie ein großer verwitternder Kalkfels auf einen Sturz oder herabzurollen wie dichter, weißer Qualm. Aber immer scheint der gewaltige Strom zu sterben, wie er herunterdonnert, und immer steigt aus seinem unergründlichen Grabe das schauerliche Gespenst von ewigem Nebel und Wasserstaub, das diese Stätte mit denselben Schauern umschwebt hat, als noch Finsternis über den Wassern schwebte und die erste der Fluten vor der Sintflut – das Licht – über die Schöpfung strömte, Gottes Wort gehorsam.