Als der Tag zu Ende war, als Ilse allein in ihrem Zimmer saß, um zur Ruhe zu gehen, hielt sie zuvor noch eine [pg 243]Einkehr in ihr Herz. Der heutige Tag war so reich an wechselvollen und freudigen Eindrücken gewesen, was lag nicht alles zwischen Abend und Morgen! Trennung und Wiedersehn! War sie wirklich erst heute früh von Lindenhof abgefahren, und hatte sie erst gestern morgen die Pension verlassen? Der Abschied von dort schien schon so weit hinter ihr zu liegen. –
Es war so süß, mit wachen Augen noch etwas zu träumen, und sie mochte noch nicht an den Schlaf denken. Ihr Blick fiel auf den geöffneten Reisekoffer und sie bekam Lust, denselben auszupacken. Sie fing auch an, einige Sachen herauszunehmen und in die herrlich geschnitzte Kommode zu räumen, dabei mußte sie sich an Nellie erinnern; es fiel ihr ein, wie treu und lustig sie ihr geholfen hatte, damals, am ersten Tage in der Pension. Die gute, geduldige Nellie! Wäre sie doch gleich bei ihr!
Als sie ihr Tagebuch aus dem Koffer nahm, behielt sie es sinnend in der Hand. Was es enthielt, waren nur weiße Blätter, denn nie hatte sie das Bedürfnis gefühlt, ihm etwas anzuvertrauen. Wie in halber Zerstreuung schloß sie es auf und legte es geöffnet auf den Schreibtisch. Sie griff nach der Feder, tauchte sie ein und plötzlich – wie von einer inneren Macht getrieben, schrieb sie die Worte nieder: »Seit ich ihn gesehen –«
Weiter kam sie nicht. Sie warf die Feder weit von sich und hielt beide Hände vor ihr heißerglühtes Gesicht. Eine tiefe Beschämung preßte ihr die Brust zusammen. Was hatte sie geschrieben, wessen Bild hatte ihr die Worte diktiert?
Als ob sie sich auf einem schweren Unrecht ertappt, so schnell schloß sie das Buch und barg es in einem versteckten Fach ihres neuen Schreibtisches. Fort mit den thörichten Gedanken, die ihr Unruhe machten und an denen nur Cha[pg 244]missos Lieder die Schuld trugen! Sie wollte sie niemals wieder lesen – niemals! –
Drei Wochen waren Ilse im elterlichen Hause vergangen und sie fühlte sich so glücklich und wohl darin, wie nie zuvor. Gleich in den ersten Tagen hatte sie ihre Zeit nützlich eingeteilt. Auf ihren Wunsch gab ihr der Prediger noch einige Nachhilfestunden in verschiedenen wissenschaftlichen Fächern. Er war überrascht über die Fortschritte seiner früheren Schülerin, besonders aber freute er sich über ihren Ernst, ihre Beständigkeit beim Lernen. Er hatte sich nicht geirrt, als er die Pension einen Segen für Ilse genannt.
Auch Frau Anne segnete das Institut, das aus dem wilden Kinde eine liebliche, sinnende Jungfrau geschaffen hatte. Eine solche Umwandlung hatte sie vor Jahr und Tag kaum für möglich gehalten. An Ilses gutem Herzen hatte sie niemals gezweifelt, aber sie war überrascht von der geduldigen Liebe, die sie dem kleinen Bruder entgegenbrachte. Nur der Amtsrat konnte sich noch nicht in sein verändertes Kind finden. Manchmal sah er es prüfend von der Seite an, als ob er fragen wollte: »Ist sie es, oder ist sie es nicht?«
»Ich weiß nicht,« sagte er eines Tages zu seiner Gattin, »Ilse ist mir zu zahm geworden. Ich kann mir nicht helfen, aber mein unbändiges Kind mit dem Loch im Kleide gefiel mir besser, als die junge Dame im modischen Anzuge.«