Sie ließ es gern geschehen, denn der Herbstwind pfiff kalt über die leeren Felder; sie lachte sogar über seine Für[pg 229]sorge; aber hinterher kamen die Bedenken. War es recht, daß sie sich von ihm einhüllen ließ? War es nicht eine Vertraulichkeit, die sie gestattet hatte? Würde Fräulein Güssow ihr Benehmen schicklich finden? Ob Nellie wohl so gehandelt haben würde, wie sie, oder ob sie nicht lieber ihren Regenmantel angezogen hätte! Sie konnte es auch thun, er lag im Riemen geschnallt dicht bei ihr.
Mitten in ihren peinlichen Zweifeln und Sorgen vernahm sie ein herzliches Lachen ihres Nachbars. Natürlich brachte sie es sofort mit ihren Gedanken in Verbindung.
»Lachen Sie über mich?« fragte sie beinahe ängstlich.
»Nein, nein!« entgegnete er, »wie kommen Sie zu dieser Frage? Wie würde ich mir je erlauben, eine junge Dame auszulachen! Diese Birne ist an meiner Heiterkeit schuld. Sie fiel mir soeben aus der Wagentasche auf die Hand und erinnerte mich an Mamas letztes Wort, das sie mir nachrief, als ich fortfuhr.«
»Was sagte sie?« fragte Ilse und sah ihn neugierig an.
»Vergiß ja nicht, ›dem Kinde‹ die Birnen zu geben, Leo, sprach sie. Die Kleine wird wohl hungrig sein. Ich glaube,« unterbrach er sich und griff in die Seitentasche, »sie sprach auch von einem Stück Kuchen. Richtig!« rief er lachend und zog ein kleines Paketchen hervor, »da ist er! Darf ich es wagen, gnädiges Fräulein, Ihnen Kuchen und Birnen anzubieten?«
Dieser Verlockung konnte sie nicht widerstehen. »Warum nicht?« entgegnete sie unbefangen und griff zu. »Obst ist meine ganze Leidenschaft und Kuchen esse ich furchtbar gern! In der Pension haben wir nicht viel davon zu sehen bekommen, Fräulein Raimar behauptete, der Magen werde schlecht vom vielen Kuchenessen. Ist das nicht eine furchtbar öde Ansicht?«
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»Ja, eine furchtbar öde Ansicht!« wiederholte er mit ganz ernsthaftem Gesicht, »ich begreife nicht, wie Sie es aushalten konnten, ohne Kuchen zu leben!«
»Manchmal,« erzählte sie, »ließen wir uns heimlich ein Stückchen holen, über Mittag, wenn das Fräulein schlief.«
»So, so!« lachte er, »das sind ja schöne Geschichten, das muß ich sagen!«
»Wir thaten es nicht oft,« entschuldigte sich Ilse, »nur dann und wann, wenn wir gar zu großen Appetit darauf hatten. Finden Sie das unrecht?«
»Daß Sie den Kuchen aßen, finde ich durchaus nicht unrecht,« neckte er sie, »aber daß Sie ihn heimlich holen ließen, gefällt mir nicht. Warum fragten Sie nicht die Vorsteherin um Erlaubnis?«
»Sie sind aber klassisch!« rief Ilse, »dann hätten wir es doch nicht gedurft! Es war doch nichts Böses, was wir thaten, nur ein ganz harmloses Vergnügen, Fräulein Raimar hatte nicht den geringsten Schaden davon, ob wir Kuchen aßen oder nicht.«
»Sie sind eine kleine Rechtsverdreherin!« tadelte er sie lachend, »ob Schaden oder nicht, darauf kommt es gar nicht an. Die Dame hatte ihre Gründe, weshalb sie Ihnen den Genuß des Kuchens verbot. Nummer I: Sie handelten gegen ihren Willen – folglich sind Sie strafbar! Nummer II: Sie thaten es heimlich – das erschwert das Vergehen!«
Sie lachte höchst vergnügt. »Herrgott, sind Sie aber pedantisch!«
»Ich bin Jurist, gnädiges Fräulein, und gehe jeder Sache auf den Grund.«