Ilse wandte den Kopf, und als ihr Auge flüchtig die Gestalt eines jungen Mannes streifte, erfaßte sie eine unnennbare Angst. Was wollte er von ihr – warum redete er sie an? Sie verlor alle ruhige Fassung und nur der eine Gedanke beherrschte sie: Du darfst ihn nicht anhören! – Als [pg 225]ob sie nichts gehört habe, ging sie weiter, und als sie bemerkte, daß sie verfolgt wurde, beschleunigte sie ihre Schritte. Wie ihr das Herz klopfte vor Angst und Aufregung!
»Sie haben etwas verloren, gnädiges Fräulein, wollen Sie nicht die Güte haben, mir einen Augenblick Gehör zu schenken!« rief er dringend.
Nun stand sie still, aber sie wagte nicht, sich nach ihm umzusehen. Er benützte schnell diesen Moment und trat vor sie hin. Mit einem leichten, spöttischen Lächeln betrachtete er den kleinen Backfisch, der so ängstlich und blöde vor ihm davonlief. Schon schwebte ihm eine etwas ironische Bemerkung auf den Lippen, die er indes unterdrückte, als er in das liebliche, rosige Antlitz sah. Mit niedergeschlagenen Augen und in ängstlicher Verlegenheit stand sie vor ihm. – ›Wie eine Waldblume‹ hatte Tante Rat zu ihm gesagt, jetzt wußte er, wen sie damit gemeint.
»Ich fand diesen Brief dort,« sprach er, »gehört er vielleicht Ihnen?«
Ein flüchtiger Blick belehrte Ilse, daß er den Brief ihres Papas in der Hand hielt. »Ja,« sagte sie, ziemlich beschämt über ihr albernes Davonlaufen, »er gehört mir.« – Sie nahm ihn in Empfang, ohne den jungen Mann anzusehen.
»Ich danke Ihnen,« fügte sie noch hinzu und wollte mit einer schüchternen Verbeugung weitergehen.
»Und war die Adresse an Sie gerichtet?« fragte er weiter, so daß sie zögernd still stand.
Doch bevor er noch ihre Antwort abwartete, rief er plötzlich erfreut und lachend zugleich: »Sie – Sie sind Fräulein Ilse Macket! ich sehe die Photographie in Ihrer Hand! Das ist ein wundervoller Spaß!«
Erstaunt blickte Ilse ihn an, und nun sah sie zum ersten Male in das hübsche, von der Sonne etwas gebräunte Gesicht des jungen Gontrau.
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»Verzeihen Sie mein unschickliches Lachen,« entschuldigte er sich, »aber Sie werden dasselbe verstehen, wenn ich Ihnen Aufklärung gegeben habe. – Zuvor erlauben Sie, daß ich mich Ihnen vorstelle, mein Name ist Gontrau.« – Er hob den weichen Filzhut ab und begrüßte sie in liebenswürdiger, ehrerbietiger Weise.
»Gontrau!« rief Ilse strahlend vor Freude, »ist’s wahr, Gontrau? Aber Sie sind doch nicht – doch nicht –«
»Der Landrat?« ergänzte er ihre Frage. »Nein, der bin ich nicht, nur sein Sohn.«
»Ich war recht einfältig, daß ich Ihnen davonlief,« sprach sie errötend, »aber ich wußte nicht, wer Sie waren; ich hielt Sie für einen fremden Herrn, der mich ausfragen wollte. Ach, Sie glauben nicht, wie ich mich geängstigt habe, als ich so ganz allein hier stand! Wie ein verirrtes Kind kam ich mir vor, das nicht weiß woher und wohin. Nun bin ich froh, furchtbar froh! Aber wo sind Ihre Eltern?« plötzlich fiel es ihr ein, daß dieselben nicht anwesend waren. »Bitte, führen Sie mich zu ihnen.«