»Kinder!« unterbrach Orla die Sprechenden, »nun hört auf mit euren Albernheiten, ich habe euch eine höchst wichtige Mitteilung zu machen!«
Wichtige Mitteilung! Grete sperrte Mund und Nase auf und sah gespannt auf Orla, zu der sie sich ganz dicht herangedrängt hatte.
»Nicht hier!« fuhr diese fort, »folgt mir unter die Linde!«
»Unter die Linde?« fragte Annemie ängstlich. »Laß uns doch hier, es ist ja schon dunkel unter dem alten, großen Baum!«
»Ja, und es ist schon spät, wir müssen uns eilen,« fiel die ebenfalls furchtsame Flora ein.
»Mache dir keine Sorge darum, liebste Flora,« gab Orla zurück, »denn höre und staune: Weil heute mein Geburtstag ist, hat Fräulein Raimar auf dringendes Bitten die hohe Gnade gehabt, unsern Aufenthalt im Garten heute abend bis um zehn Uhr zu verlängern!«
»Himmlisch! Furchtbar reizend! Zu nett!« u. s. w. rief es durcheinander und Grete machte sogar einen kleinen, ungeschickten Sprung in die Luft.
»Also auf zur Linde!« kommandierte Orla und schlug den Weg dorthin ein.
Ohne Gegenrede folgten ihr alle, in wenigen Augenblicken waren sie dort. Orla stieg auf eine Bank, die dicht am Stamme lehnte, schlug die Arme untereinander und sah schweigend auf die Mädchen herab, die einen dichten Halbkreis um sie bildeten und mit höchster Spannung auf sie blickten.
»Meine lieben Freundinnen,« hub sie an, da raschelte es über ihnen in den Zweigen. Die Mädchen schraken zusammen.
»Was war das?« fragte Annemie, »Gott, wenn sich im Baume jemand versteckt hätte!«
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»Oder wenn ein Gespenst wieder seinen Spuk triebe!« sprach Melanie mit bebenden Lippen.
»Wie unheimlich ist es hier!« fiel Grete ein, »ich fürchte mich!«
»So ein Gespenst mit großer Feuerauge und fliegender Haar,« meinte Nellie und stieß Ilse an, »o, es wäre furchtbar!«
Orla stand ruhig und unerschrocken da, sie kannte keine Furcht. »Schämt euch!« rief sie den Zagenden zu, »seid ihr erwachsene Mädchen? Kann euch eine harmlose Fledermaus in die Flucht treiben? Geht zurück, wenn ihr euch fürchtet, für Kinder passen meine Worte nicht! Wollt ihr vernünftig sein?«
»Ja, ja!« tönte es zurück, zwar etwas zaghaft, aber die Neugierde trug doch den Sieg über die Furcht davon.
»So hört mich an! Hier an dieser Stätte, unter dem Schutze unsrer geliebten Linde laßt uns einen Bund schließen, der uns in Freundschaft für das ganze Leben vereinen soll. Wie lange wird es dauern und wir verlassen die Pension, und das Schicksal zerstreut uns in alle Winde!«
»In alle Winde!« wiederholte Flora halblaut.
»Nun frage ich euch, soll uns dasselbe für immer trennen? Ich sage: nein! wir werden uns wiedersehen! Wir haben stets treu zusammengehalten, unsre Freundschaft darf nicht wie ein leerer Wahn verrauschen –«
»Wie ein leerer Wahn verrauschen –« gab Flora als Echo zurück.
»Ruhig!« geboten die andern, »laß Orla sprechen!«
»So frage ich euch denn: wollt ihr mit mir in diesem feierlichen Augenblicke geloben, daß ihr heute in drei Jahren zurückkehren wollt? Hier unter der Linde, am siebenten Juli, morgens elf Uhr, soll uns ein frohes Wiedersehen vereinen. Seid ihr mit meinem Vorschlage einverstanden?«