»Morgen ist Sonntag, da können wir ausschlafen!« meinte Grete, die darauf brannte, die geheimnisvoll angedeuteten Geschichten zu hören. »Wo sind denn aber Ilse und [pg 172]Nellie?« unterbrach sie sich plötzlich und sah sich um; »ich habe Ilse den ganzen Abend nicht gesehen. Hatte sie wirklich Kopfschmerzen? Kommt, wir wollen uns zu ihnen schleichen und nachsehen!«
Doch dieser allgemein Beifall findende Vorschlag kam nicht zur Ausführung. Eben als sie auf den Zehen einige Schritte gethan, stand Miß Lead wie ein Nachtgespenst vor ihnen.
»Wo wollt ihr hin?« fragte sie erzürnt. »Habe ich euch nicht Ruhe geboten? Sofort legt euch nieder, – und morgen werde ich euren Ungehorsam der Vorsteherin melden!«
So wurde es denn still in den oberen Räumen. Die plaudernden Lippen verstummten nach und nach – die Augen schlossen sich zu süßem Schlummer und ein gütiger Traumgott führte die Schlafenden zurück in den festlichen Saal. Noch einmal ließ er die Musik erklingen und die junge Schar im lustigen Tanze dahinfliegen. –
»O wie öde ist die Wirklichkeit!« war Melanies erstes Wort, als sie erwachte.
* * *
In dem Krankenzimmer dachte man nicht an Schlaf, noch weniger an glückliche Träume. Traurig sah es dort aus. Lilli tobte zwar nicht mehr, aber sie lag ohne Teilnahme da. Das Fieber war noch immer im Zunehmen begriffen. Als die Vorsteherin eintrat, erhob sich der Arzt und teilte ihr seine Befürchtung mit. Ilse schluchzte leise in sich hinein; es wurde ihr so schwer, sich zu beherrschen.
»Geh zu Bett, Ilse,« sprach Fräulein Raimar sanft zu ihr, »du darfst nicht länger hier verweilen.«
Der Arzt stimmte energisch bei, und so schmerzlich bittend das junge Mädchen auch die Vorsteherin ansah, dieselbe beharrte bei ihrem Willen.
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»Du bist ein gutes Kind,« sagte sie weich und ihre Stimme klang wie verhaltene Thränen, »aber ich darf deinen Wunsch nicht erfüllen. Ein längerer Aufenthalt hier könnte deiner Gesundheit schaden. Du kannst dem Kinde auch nicht helfen, – sieh hin – es kennt dich – uns alle nicht mehr!«
Bevor sie das Zimmer verließ, trat Ilse noch einmal zögernd und leise an Lillis Bett. Zitternd ergriff sie die kleine, fieberheiße Hand, beugte sich nieder und drückte einen Kuß darauf. »Gute Nacht, Liebling,« hauchte sie leise, »gute Nacht!«