Mein liebes Kind!
Möge dieses Buch Dein treuer Freund in der Fremde sein. Wenn Dein Herz schwer ist, flüchte zu ihm und teile ihm mit, was Dich bedrückt. Es wird verschwiegen sein und Dein Vertrauen nie mißbrauchen.
Gedenke in Liebe
Deiner
Mama.
Ohne ein Wort zu sagen, legte Ilse das Buch beiseite. Sie empfand keinen Funken Freude über die reizende Ueberraschung, auch blieben die liebevollen Worte der Mutter ohne Eindruck auf sie.
»Freut dir das Buch nicht?« fragte Nellie, die sich über diese Gleichgültigkeit wunderte.
Ilse schüttelte den Kopf. »Was soll ich damit?« fragte sie und ihr hübscher, frischer Mund zog sich trotzig in die Höhe, »ich schreibe niemals etwas hinein. Ich werde froh sein, wenn ich meine Aufgaben gemacht habe. Zu langen, unnützen Geschichten habe ich keine Zeit und keine Lust.«
»Ich würde viel Freude haben, wenn ich ein Mutter hätte, die mir so beschenkte,« sagte Nellie traurig.
»Ist deine Mutter tot?« fragte Ilse teilnehmend.
»O sie ist lange, lange tot,« entgegnete Nellie. »Sie starb, als ich noch eines klein Baby war. Meine Vater ist auch tot – ich bin ganz allein. Niemand hat mir recht von Herzen lieb.«
»Arme Nellie,« sagte Ilse und ergriff ihre Hand. »Aber du hast Geschwister?«
»O nein! keine Schwester – ganz allein! Ein alte onkel laßt mir in Deutschland ausbilden, und wenn ich gutes Deutsch gelernt habe, muß ich ein Gouvernante sein.«
»Gouvernante!« rief Ilse erstaunt. »Du bist doch viel zu jung dazu! Alte Mädchen können doch erst Gouvernanten werden!«
[pg 35]
Ueber diese naive Anschauung mußte Nellie herzlich lachen, und nun war ihre traurige Stimmung wieder verschwunden und ihre angeborene Heiterkeit brach hervor, wie der Sonnenstrahl durch graue Wolken. Auf Ilse aber hatte Nellies Verlassensein einen tiefen Eindruck gemacht.
»Laß mich deine Freundin sein,« bat sie in ihrer kindlich offnen Weise, »ich will dich auch sehr lieb haben.«
»Gern sollst du meine Freundin sein,« entgegnete Nellie und reichte Ilse die Hand. »Du hast mich von der erste Augenblick so nett gefallen.«
Der große Koffer war nun leer, und Nellie ergriff den kleinen und war eben im Begriffe die Riemen desselben loszuschnallen, als Ilse ihr ihn unsanft aus der Hand nahm.
»Der bleibt geschlossen!« sagte sie, »du darfst nicht sehen, was darin ist!«
»O je! Was du machst so böse Augen!« rief Nellie und stellte sich höchst erschrocken. »Hast du Heimlichkeiten in der kleine Koffer? Ist wohl Kuchen und Wurst darin?«
Nellie begleitete ihre Worte mit so komischen Gebärden, daß Ilse lachen mußte. Sie bereute auch schon ihre Heftigkeit.
»Ich war recht heftig, Nellie, sei mir nicht böse,« bat sie. »Wenn du mich nicht verraten willst, dann werde ich dir zeigen, was darin ist; aber gieb mir die Hand darauf, daß du schweigen wirst.«
Nellie legte den Zeigefinger auf den Mund und besiegelte mit einem Händedrucke ihre Verschwiegenheit.
Jetzt nahm Ilse den Schlüssel, den sie am schwarzen Bande um den Hals trug, und als sie eben im Begriffe war aufzuschließen, wurde zum Abendessen geläutet.
»O wie schade!« rief Nellie, die vor Neugierde brannte, die geheimnisvollen Schätze zu sehen. »Nun müssen wir hinunter und erst nach die Schlafgehen können wir auspacken!«