Der Raritätenladen. Sechsundsechzigstes Kapitel
Als Richard Swiveller erwachte, kam er nach und nach zu dem Bewußtsein, daß sich flüsternde Stimmen in seiner Kammer vernehmen ließen. Er blickte zwischen den Vorhängen hinaus und entdeckte Herrn Garland, Herrn Abel, den Notar und den ledigen Herrn, welche sich um die Marquise gesammelt hatten und mit großer Angelegentlichkeit, obgleich in sehr gedämpftem Tone, mit ihr sprachen – ohne Zweifel, weil sie ihn zu stören fürchteten. Er zögerte nicht, sie wissen zu lassen, daß diese Vorsicht unnöthig sei, und alle vier Herren näherten sich alsbald seinem Bette. Der alte Herr Garland war der Erste, der die Hand ausstreckte und fragte, wie er sich befinde.
Dick war eben im Begriffe, zu antworten, daß es besser mit ihm gehe, obgleich er immer noch sehr schwach sei, als seine kleine Wärterin die Besucher, als wäre sie eifersüchtig auf ihre Einmengung, bei Seite schob, sich nach dem Kissen drängte, das Frühstück vor ihn hinstellte und darauf bestand, daß er es nehmen müsse, ehe er sich der Anstrengung des Sprechens oder Hörens unterzöge. Herr Swiveller, der jetzt eigentlich gefräßig war und die ganze Nacht durch erstaunlich deutliche und zusammenhängende Träume von Hammelskeulen, Doppelstarkem und ähnlichen Leckereien gehabt hatte, fühlte sogar gegen den schwachen Thee und die trockene Röstschnitte so unwiderstehliche Versuchungen, daß er unter einer Bedingung einwilligte, zu essen und zu trinken.
»Und diese besteht darin,« sagte Dick, indem er den Druck von Herrn Garland's Hand erwiederte, »daß Sie mir diese einzige Frage der Wahrheit gemäß beantworten, ehe ich einen Tropfen oder Bissen zu mir nehme. Ist es zu spät?«
»Um das Werk zu vollenden, das Sie in der letzten Nacht so gut begonnen haben?« versetzte der alte Herr. »Nein. Beruhigen Sie sich darüber. Ich versichere Sie, es ist nicht der Fall.«
Durch diese Kunde getröstet, verfügte der Kranke mit scharfem Appetit über sein spärliches Mahl, obgleich augenscheinlich lange nicht mit jenem Genuß, den seine Wärterin an den Tag legte, als sie ihn essen sah. Die Art, wie dieß geschah, war folgende: – Herr Swiveller hielt die Röstschnitte oder die Theetasse in seiner linken und nahm, je nachdem es sich fügte, bald einen Bissen, bald einen Schluck, wobei er beharrlich in seiner Rechten eine Hand der Marquise dicht eingeschlossen hielt; dann konnte er auch wohl hin und wieder, sogar im Akte des Schluckens, inne halten, um mit vollem Ernste und der größten Gravität die gefangene Hand zu drücken oder auch zu küssen.
So oft er etwas in den Mund brachte, war es nun Festes oder Flüssiges, so strahlte das Gesicht der Marquise über alle Beschreibung; aber wenn er ihr eines oder das andere der genannten Anerkennungszeichen zu Theil werden ließ, dann wurde ihr Gesicht überschattet und sie begann zu schluchzen. Mochte sie sich nun aber in ihrem lachenden, oder in ihrem weinenden Freudenzustande befinden, so konnte sie sich nicht entbrechen, einen appellirenden Blick an die Anwesenden ergehen zu lassen, welcher zu sagen schien: »Sie sehen diesen Menschen – kann ich dafür?« – und da diese hiedurch, gewissermaßen zu Mitspielern in dem Auftritte gemacht wurden, so antworteten sie regelmäßig durch einen andern Blick: »Nein. Gewiß nicht.«
Diese Pantomime dauerte so lange fort, als der Kranke frühstückte, und da der Kranke selbst, so blaß und abgezehrt er war, keine unbedeutende Rolle darin spielte, so darf man wohl fragen, ob bei irgend einem Mahle, wo vom Anfang bis zum Ende kein gutes oder böses Wort gefallen, so viel durch an sich so geringe und unbedeutende Gebärden ausgedrückt wurde.
Endlich – und um die Wahrheit zu sagen – nach nicht sehr langer Zeit hatte Herr Swiveller so viel Röstschnitten und Thee versorgt, als ihm klüglicherweise in diesem Stadium der Wiedergenesung gestattet werden konnte. Aber die Sorgfalt der Marquise hatte hiemit noch kein Ende, denn sie verschwand auf einen Augenblick und kehrte alsbald wieder mit einem Becken frischen Wassers zurück, worauf sie ihm Gesicht und Hände wusch, das Haar bürstete, und mit einem Worte ihn so schmuck und blank machte, als es unter solchen Umständen überhaupt möglich war; und alles dieß geschah so rasch und geschäftsmäßig, als ob er ein ganz kleiner Knabe und sie seine erwachsene Wärterin sei. Allen diesen verschiedenen Dienstleistungen unterwarf sich Herr Swiveller in einer Art von dankbarem Erstaunen, das sich nicht durch Worte schildern ließ. Als die Marquise endlich fertig war und sich in eine Kammerecke zurückgezogen hatte, ihr eignes armseliges Frühstück einzunehmen, das inzwischen kalt genug geworden war, wandte er sein Gesicht einige Augenblicke ab, und wechselte mit der Luft herzliche Händedrücke.
»Meine Herren,« sagte Dick, indem er sich wieder aufraffte und den Köpf umwandte, »Sie werden mich entschuldigen. Wenn man so weit heruntergekommen ist, als ich, so wird man leicht erschöpft. Jetzt bin ich wieder frisch und zum Sprechen geeignet. Es geht, wie überhaupt hier, auch knapp mit den Stühlen her, aber wenn Sie so gut sein wollen, auf das Bett zu sitzen – –«
»Was können wir für Sie thun?« fragte Herr Garland wohlwollend.
»Wenn Sie jene Marquise in wirklichem, nüchternem Ernste zu einer Marquise machen könnten, so würde ich's Ihnen Dank wissen, wenn Sie es auf der Stelle thäten. Da dieß aber nicht der Fall ist, und es sich nicht darum handelt, was für mich geschehen kann, sondern was Sie für Jemand anders thun wollen, so bessere Ansprüche an Sie hat, so bitte ich Sie, mich wissen zu lassen, was Sie beabsichtigen.«
»Wir sind hauptsächlich deßhalb hergekommmen,« sagte der ledige Herr, »denn Sie werden demnächst auch nach einen andern Besuch erhalten. Wir fürchteten, Sie würden besorgt sein, wenn Sie nicht von uns selbst erführen, welche Schritte wir einzuschlagen gedenken, und kamen deßhalb her, ehe noch überhaupt etwas geschehen ist.«
»Meine Herren,« erwiederte Dick, »ich danke Ihnen. Wenn man in einer so hülflosen Lage ist, wie Sie mich hier sehen, so wird man natürlich besorgt und ängstlich. Doch lassen Sie sich nicht stören, Sir.«
»Wohlan denn, Sie sehen, mein lieber Freund,« fuhr der ledige Herr fort; »wie zweifeln nicht im Mindesten an der Wahrheit dieser Enthüllung, welche zu so gelegener Zeit an's Licht gekommen ist –«
»Sie meinen die ihrige?« sagte Dick, auf die Marquise deutend.
»Natürlich. Wir zweifeln nicht im Geringsten daran und eben so wenig, daß eine zweckmäßige Benützung derselben dem armen Jungen augenblickliche Befreiung erwirken wird. Demungeachtet steht es aber sehr in Frage, ob wir ohne weitere Hülfsmittel dadurch in den Stand gesetzt werden, Quilp als den Haupthebel dieser Schurkerei zu packen. Ich muß Ihnen sagen, daß dieses Bedenken durch die besten Autoritäten, welche wir in diesem Augenblicke zu Rathe ziehen konnten, fast zur Gewißheit geworden ist. Sie werden mit uns gleicher Ansicht sein, daß es eine Schmach wäre, ihm nur die entfernteste Möglichkeit des Entkommens zu lassen, wenn wir es ändern können; denn ohne Zweifel sagen Sie auch, wie wir, wenn Jemand sich salviren muß, so möge es lieber jeder Andere sein, als er.«
»Ja,« entgegnete Dick, »gewiß. Das heißt, wenn Jemand muß – aber auf mein Wort, ich möchte nicht, daß dieß der Fall wäre. Gesetze sind für alle Grade hier, das Laster zu zügeln in Andern sowohl, als in mir – und so weiter, Sie wissen ja – erscheint es Ihnen nicht auch in diesem Lichte?«
Der ledige Herr lächelte, als ob das Licht, in welches Herr Swiveller die Frage gestellt hatte, nicht das klarste von der Welt wäre, und schickte sich sofort an, auseinanderzusetzen, daß sie in erster Instanz zur List ihre Zuflucht nehmen müßten, und daß es ihre Absicht sei, zu versuchen, ob sich nicht von der zarten Sarah ein Geständniß erpressen lasse.
»Wenn sie findet, wie viel wir wissen,« fügte er bei, »wie wir zu dieser Kunde gelangt sind, und daß sie bereits offenbar compromittirt ist, so dürfen wir recht sehr hoffen, daß wir in die Lage kommen, durch ihre Beihülfe die beiden Andern nachdrücklich zur Strafe zu ziehen. Wenn wir es so weit bringen könnten, so dürfte sie meinetwegen frei ausgehen.«
Dick hörte diesen Vorschlag keineswegs sehr gnädig an, denn er bewies mit so viel Wärme, als sein Zustand ihm gestattete, daß man diese alte Hexe (er meinte damit Sarah) weit schwieriger zu behandeln finden dürfte, als Quilp selbst – daß sie gegen Drohungen, Einschüchterungen oder Schmeichelworte eine höchst wenig versprechende und unnachgiebige Person sein würde – daß sie eine Art von metall sei, das sich nicht leicht schmelzen und in Formen gießen lasse – kurz, daß man ihr nichts anhaben könne, und nothwendig einer Niederlage entgegensehen müsse. Er versuchte es jedoch umsonst, sie zu Einschlagung eines andern Weges zu bereden.
Wir haben den ledigen Herrn als denjenigen bezeichnet, der ihren vereinten Plan auseinandersetzte, obgleich wir eher hätten andeuten sollen, daß sie Alle durcheinander sprachen, und daß, wenn Einer von ihnen zufällig für einen Augenblick schwieg, er schnappend und keuchend dastand, um bei der nächsten Gelegenheit wieder einfallen zu können. Mit einem Worte, sie hatten jene Höhe von Ungeduld und Hast erreicht, wo der Mensch keiner Ueberredung, keinen Vernunftgründen mehr zugänglich ist, und man würde leichter den ungestümsten Sturm, der je getobt, von seiner Bahn abgelenkt, als es über sie vermocht haben, ihren Entschluß noch einmal in Erwägung zu ziehen. Nachdem sie außerdem Herrn Swiveller gesagt hatten, wie sie Kit's Mutter und die Kinder nicht aus dem Gesicht verloren, wie sie Kit stets im Auge gehabt und unablässig bemüht gewesen, eine Milderung seines Urtheils zu erwirken, wie sie fast wahnsinnig geworden ob den unwiderleglichen Belegen seiner Schuld und den mehr und mehr entschwindenden Hoffnungen, seine Unschuld darzuthun, und wie er, Richard Swiveller, ganz ruhig sein dürfte, denn Alles würde zwischen jetzt und heute Abend in's Reine kommen – nachdem sie alles dieß gesagt, und noch viele freundliche und herzliche Worte in Beziehung auf seine Person beigefügt hatten (deren Erwähnung hier unnöthig ist), nahmen Herr Garland, der Notar, und der ledige Herr in einem kritischen Augenblicke Abschied, da Herr Richard Swiveller zuverlässig in ein neues Fieber verfallen wäre, dessen Folgen sich als verhängnißvoll hätten erweisen mögen.
Herr Abel blieb zurück und schaute sehr oft aus seine Uhr oder nach der Kammerthüre, bis Herr Swiveller durch eine Erschütterung außen auf der Flur, welche das ganze Haus erbeben und die Arzneiflasche auf dem Kamingesims klirren machte, aus einem kurzen Schlummer geweckt wurde. Die Störung schien von irgend einer Riesenlast herzurühren, die von den Schultern eines Lastträgers niedergelassen wurde.
Sobald dieser Ton zu Herrn Abels Ohr gelangte, sprang er auf, humpelte nach der Thüre, öffnete sie – und siehe! da stand ein starker Mann mit einem mächtigen Korbe, der, als er in die Stube gezogen und alsbald ausgepackt wurde, solche Schätze von Thee, Kaffee, Wein, Zwieback, Orangen, Trauben, zum Braten zugerichtetem Geflügel, Kälberfuß-Gelée, Arrow-root, Sago und anderen köstlichen Stärkungsmittel entlud, daß die kleine Dienstmagd, welche nie an die Möglichkeit gedacht hatte, daß es solche Dinge anderswo, als in den Laden gebe, in ihrem einzigen Schuh wie an den Boden gewurzelt dastand, während ihr der Mund im Einklang mit den Augen wässerte und das Sprachvermögen gänzlich entschwunden war. Dieß war aber nicht der Fall bei Herrn Abel oder bei dem baumstarken Mann, der den Korb, so groß er war, in einem Nu ausgeleert hatte, oder bei der niedlichen alten Dame, welche so plötzlich erschien, daß man meinen konnte, sie sei gleichfalls aus dem Korbe gekommen, sintemal derselbe wenigstens groß genug dazu gewesen wäre. Die letztere bewegte sich ruhig und lautlos auf den Zehen hin und her – bald da, bald dort, bald überall zumal – und fing an, die Gelée in Theetassen zu füllen, in kleine Pfännchen Hühnerbrühe zu machen, für den Kranken Orangen zu schälen, sie in kleine Stückchen zu schneiden und die kleine Magd mit Gläsern voll Wein und den auserlesensten Bissen von dem ganzen Vorrath zu bewirthen, bis ein substantielleres Mahl zu ihrer Erfrischung bereitet werden konnte. Diese ganze Erscheinung war so unerwartet und wirkte so verwirrend, daß Herr Swiveller, als er zwei Orangen nebst etwas Gelée genossen und sich, nach Entfernung des starken Mannes, der den leeren Korb mit sich fortnahm, in dem unbestrittenen Besitz des ganzen Ueberflusses sah, in dem Bette zurücksank und wieder einschlief, da er durchaus unfähig war, in seinem Geiste Betrachtungen über solche Wunder anzustellen.
Inzwischen hatten sich der ledige Herr, der Notar und Herr Garland nach einem gewissen Kaffeehaus begeben, und von hier aus an Miß Sally Braß ein Schreiben erlassen, welches dieselbe in kurzen und geheimnißvollen Ausdrücken ersuchte, einen unbekannten Freund, der sich mit ihr zu besprechen wünsche, so schleunig als möglich mit einem Besuche zu beehren.
Dieß Schreiben entsprach seinem Zweck so gut, daß zehn Minuten nach der Rückkehr des Boten, der die richtige Ueberlieferung anzeigte, Miß Braß persönlich angemeldet wurde.
»Ich bitte, Ma'am,« sagte der ledige Herr, der sich allein im Zimmer befand, »setzen Sie sich.«
Miß Braß nahm mit ungemein steifer und kalter Förmlichkeit Platz, dem Anschein nach – wie es auch der Fall war – nicht wenig überrascht, als sie entdeckte, daß ihr Miethsmann und der geheimnißvolle Korrespondent eine Person seien.
»Sie erwarteten wohl nicht, mich zu sehen?« fuhr der ledige Herr fort.
»Ich habe nicht viel darüber nachgedacht,« versetzte die Schöne, »sondern nahm an, es handle sich um eine Geschäftssache irgend einer Art. Wenn es wegen des Logis ist, so geben Sie natürlich meinem Bruder eine regelmäßige Aufkündigung – oder leisten Zahlung. Das ist sehr leicht bereinigt. Sie sind die Partie, an die wir uns halten müssen, und in einem solchen Fall ist gesetzliches Geld und gesetzliche Aufkündigung so ziemlich das gleiche.«
»Ich bin Ihnen verbunden für diese gute Meinung,« entgegnete der ledige Herr, »und bin ganz mit Ihren Ansichten einverstanden. Aber das ist nicht der Handel, über den ich mit Ihnen zu sprechen wünsche.«
»Ah,« sagte Sally, »dann wollen Sie mir nur die Einzelnheiten angeben. Vermuthlich handelt es sich um eine Geschäftssache, die in unser Fach einschlägt?«
»Je nun, es hat allerdings Beziehung zur Justiz.«
»Sehr wohl,« entgegnete Miß Braß. »Sie können sich ebensogut an mich, als an meinen Bruder wenden. Was die Entgegennahme von Instruktionen oder das Ertheilen eines Rathes betrifft, so kann ich Ihnen zur Zufriedenheit dienen.«
»Da jedoch außer mir noch andere Partien betheiligt sind,« sprach der ledige Herr, indem er die Thüre des Nebenzimmers öffnete, »so thun wir wohl besser, die Sache gemeinschaftlich zu besprechen. Miß Braß ist da, meine Herren!«
Herr Garland und der Notar traten mit sehr ernsten Mienen herein, rückten ein paar Stühle an die Seite des ledigen Herrn und bildeten so eine Art von Mauer um die zarte Sarah, welche sie in eine Ecke zwängten. Ihr Bruder Sampson würde unter solchen Umständen gewiß einige Verwirrung und Beklommenheit an den Tag gelegt haben; sie aber, ohne im Mindesten aus der Fassung zu kommen, zog ihre Dose heraus, und nahm eine Prise Schnupftabak.
»Miß Braß,« sagte der Notar, der bei dieser Krisis das Wort nahm, »wir Leute vom Fach verstehen einander, und wenn wir wollen, können wir das, was wir zu sagen haben, in wenige Worte zusammenfassen. Sie haben in öffentlichen Blättern kürzlich eine entlaufene Magd ausgeschrieben?«
»Wohl,« versetzte Miß Sally, während eine plötzliche Röthe ihre Züge überflog, »und was weiter?«
»Sie ist aufgefunden, Ma'am,« sagte der Notar, der mit einer raschen Schwenkung sein Schnupftuch herauszog; »sie ist aufgefunden.«
»Wer hat sie aufgefunden?« fragte Sarah hastig.
»Wir, Ma'am – wir drei. Erst gestern Abend, sonst würden Sie schon früher von uns gehört haben.«
»Und nun ich von Ihnen gehört habe,« sagte Miß Braß, indem sie entschlossen ihre Arme übereinander schlug, als wäre sie im Begriff, etwas bis auf den Tod in Abrede zu ziehen, »was haben Sie mir zu sagen? Natürlich haben Sie sich um ihrer Willen etwas in den Kopf gesetzt. Beweisen Sie es – weiter sage ich nichts. Beweisen Sie es. Sie haben sie aufgefunden, sagen Sie. So mögen Sie denn erfahren, wenn Sie es nicht wissen, daß sie die arglistigste, lügenhafteste, diebischste und heuchlerischste kleine Hexe aufgefunden haben, welche je an's Licht der Welt trat. – Ist sie vielleicht hier in der Nähe?« fügte sie bei, indem sie spähend umherschaute.
»Nein, sie ist zur Zeit nicht hier,« versetzte der Notar. »Aber sie ist ganz in Sicherheit.«
»Ha!« rief Sally, indem sie mit einem solchen Ingrimm eine Prise aus der Dose holte, als wäre sie in dem Akte begriffen, der kleinen Magd die Nase aus dem Gesicht zu drehen; »sie soll von nun an in gehörige Sicherheit kommen; ich bürge Ihnen dafür.«
»Ich hoffe so,« entgegnete der Notar. – »Ist es Ihnen gleich nach ihrem Weglaufen nicht aufgefallen, daß zwei Schlüssel zu ihrer Küchenthüre vorhanden sind?«
Miß Sally nahm eine weitere Prise, drehte den Kopf zur Seite und blickte mit krampfhaft verzogenem Mund auf den Frager; aber in ihrem Gesichte war ein Ausdruck von Verschmitztheit zu erkennen, der sich nicht beschreiben läßt.
»Zwei Schlüssel,« wiederholte der Notar, »von denen der eine ihr Gelegenheit gab, Nachts, während Ihr sie fest eingeschlossen glaubtet, durch das Haus zu streifen, und vertrauliche Berathungen mit anzuhören – unter andern jene besondere Conferenz, welche heute von einem Friedensrichter zu Protokoll genommen werden soll, und Sie sollen Gelegenheit haben, die Angabe mit anzuhören: – ich meine nämlich jene Berathung, welche Sie und Herr Braß den Abend zuvor mit einander hielten, als jener höchst unglückliche und unschuldige junge Mensch des Diebstahls angeklagt wurde, und zwar nur in Folge eines schändlich ausgesponnenen Planes, von dem ich weiter nichts sagen kann, als daß auf ihn alle die Beiwörter nebst noch einigen kräftigeren passen, welche Sie der unglücklichen kleinen Zeugin beizulegen beliebten.«
Sally nahm abermals eine Prise. Ihr Gesicht zeigte zwar eine wunderbare Fassung, es fiel aber doch in die Augen, daß sie sehr überrascht war, und daß sie, gegenüber der kleinen Dienstmagd, eine ganz andere Bezüchtigung erwartet hatte.
»Lassen wir das, Miß Braß,« fuhr der Notar fort. »Sie haben zwar eine große Gewalt über Ihr Gesicht, aber Sie fühlen doch, wie ich sehe, daß durch einen Zufall, von dem Sie sich nichts träumen ließen, dieses heillose Complott entdeckt worden ist, und zwei der Betheiligten müssen vor den Richter gestellt werden. Nun kennen Sie die für derartige Fälle angedrohten Strafen, weßhalb ich nicht nöthig habe, mich weiter darüber zu verbreiten; ich will Ihnen daher nur einen Vorschlag machen. Sie haben die Ehre, die Schwester eines der größten Schurken zu sein, die ungehangen umherlaufen, und sind, wenn ich mir gegen eine Dame diesen Ausdruck erlauben darf, in jedem Betracht seiner ganz würdig. Aber im Bunde mit euch Zweien steht ein Dritter, ein Schuft Namens Quilp, der die erste Triebfeder des teuflischen Planes, und, wie ich glaube, bei Weitem der schlechteste ist. Um seinetwillen, Miß Braß, erweisen Sie uns die Gunst, die ganze Geschichte zu enthüllen. Ich will Sie dabei erinnern, daß ein solcher Schritt Sie, uns gegenüber, in eine sichere und ungefährdete Stellung bringen wird – Ihre gegenwärtige ist jedenfalls keine wünschenswerthe – und daß sie Ihrem Bruder nicht schaden können, denn gegen ihn und gegen Sie haben wir, wie Sie hören, bereits vollkommen hinreichende Belege. Ich will nicht sagen, daß wir aus Rücksichten der Barmherzigkeit diesen Weg einschlagen (denn offen gestanden, Ihre Compromittirung in der Sache wäre uns sehr gleichgültig), aber wir sehen uns zu dieser Nothwendigkeit veranlaßt, und ich empfehle Ihnen dieselbe als die beste Politik, die Sie beobachten können. Die Zeit,« fügte Herr Witherden bei, indem er seine Uhr zog, »ist indeß bei einer solchen Angelegenheit außerordentlich kostbar. Theilen Sie uns daher Ihren Entschluß so schleunig als möglich mit, Ma'am.«
Miß Braß sah mit lächelndem Gesicht der Reihe nach jeden der drei Anwesenden an, nahm dann etliche Prisen, und da ihr durch dieß Manöver sehr wenig Tabak übrig geblieben war, so wanderte sie mit dem Zeigefinger und dem Daumen rund in der ganzen Dose herum, um eine vierte aufzubringen. Nachdem sie über diese in gleicher Weise verfügt und die Dose in ihre Tasche gesteckt hatte, sprach sie:
»Und soll ich diesen Vorschlag auf der Stelle annehmen oder verwerfen?«
»Ja,« antwortete Herr Witherden.
Das bezaubernde Wesen öffnete eben die Lippen, um eine Erwiederung zu geben, als auch plötzlich die Thüre geöffnet wurde und der Kopf des Herrn Sampson Braß in dem Zimmer zum Vorschein kam.
»Entschuldigen Sie,« sagte dieser Herr hastig. »Warte noch einen Augenblick.«
Mit diesen Worten, und ohne sich an das Erstaunen zu kehren, das seine Erscheinung veranlaßte, kroch er herein, machte die Thüre zu, küßte seinen schmierigen Handschuh so knechtisch, wie ein Sklave den Staub küßt, und machte eine höchst kriechende Verbeugung.
»Sarah,« sagte Braß, »zügle deine Zunge, wenn ich bitten darf, und laß mich sprechen. Meine Herren, wenn ich es auszusprechen vermöchte, welche Freude es mir macht, drei solche Männer in einer glücklichen Eintracht der Gefühle und in einer beseligenden Harmonie der Gesinnung zu sehen, so würden Sie mir, denke ich, kaum glauben. Aber obgleich ich unglücklich bin – ja, sogar verbrecherisch, meine Herren, wenn ich mir solche harte Ausdrücke in einer Gesellschaft wie diese erlauben darf – so habe ich doch meine Gefühle, wie andere Menschen. Ich hörte oft von einem Poeten, welcher die Bemerkung machte, daß Gefühle das gemeinschaftliche Loos aller Menschen seien. Diese Aeußerung hätte ihn unsterblich machen müssen, und wenn er ein Ferkel gewesen wäre.«
»Wenn du nicht ein vollkommener Dummkopf bist,« entgegnete Miß Braß barsch, »so halte dein Maul.«
»Sarah, meine Liebe,« versetzte ihr Bruder, »ich danke dir. Aber ich weiß, was ich thue, mein Schatz, und will mir daher die Freiheit nehmen, mich demgemäß auszudrücken. Herr Witherden, Ihr Schnupftuch hängt aus der Tasche heraus – wollen Sie mir erlauben, es zu – –«
Während Herr Braß näher trat, um diesem Versehen abzuhelfen, wich der Notar mit der Miene großen Widerwillens zurück.
Braß, der neben und außer seinen gewöhnlichen gewinnenden Eigenschaften ein zerkratztes Gesicht, eine grüne Binde über einem Auge und einen schrecklich zerknüllten Hut hatte, hielt inne und schaute mit einem kläglichen Lächeln umher.
»Er meidet mich,« sagte Sampson, »selbst wo ich, wie ich sagen möchte, glühende Kohlen auf sein Haupt sammeln will. Wohl! Ach! ich bin ja nur ein einstürzendes Haus, und die Ratten (wenn es mir erlaubt ist, eine solche Vergleichung einem Gentleman gegenüber zu ziehen, den ich über alles achte und liebe) weichen von mir. Meine Herren – was Ihre jetzige Unterredung betrifft, so will ich bemerken, daß ich zufällig meine Schwester auf ihrem Wege hierher entdeckte, und da ich neugierig war, wohin sie gehe, und – darf ich so zu sprechen wagen? – von Natur aus argwöhnisch bin, so folgte ich ihr. Seitdem habe ich gehorcht.«
»Wenn du nicht toll bist,« fiel ihm Miß Sally in's Wort, »so halte jetzt inne, und sprich kein Wort weiter.«
»Meine liebe Sarah,« versetzte Braß mit ungeminderter Höflichkeit, »ich danke dir verbindlichst, will aber dem ungeachtet fortfahren. Herr Witherden, da wir die Ehre haben, Mitglieder desselben Standes zu sein – des andern Herrn gar nicht zu gedenken, da er mein Miethsmann gewesen ist, und so zu sagen die Gastfreundlichkeit meines Daches genossen hat – so sollte ich meinen, Sie hätten mir in erster Instanz diesen Vorschlag machen können. Ja, gewiß, so hätten Sie's halten sollen. Nein, mein werther Sir,« rief Braß, als er bemerkte, daß der Notar im Begriffe war, ihn zu unterbrechen, »lassen Sie mich ausreden, wenn ich bitten darf.«
Herr Witherden schwieg, und Braß fuhr fort. »Wenn Sie mir die Gunst erweisen wollen,« sagte er, indem er die grüne Binde erhob und ein Auge sichtbar werden ließ, das schrecklich mit Blut unterronnen war, »dieß anzusehen, so werden Sie natürlich in Ihrem Innern fragen, wie ich dazu kam. Wenn Sie von da auf mein Gesicht schauen, so wird sich der Wunsch in Ihnen regen, zu erfahren, was die Ursache von all diesen Rissen ist. Und wenn Sie dann meinen Hut betrachten, so finde ich's begreiflich, daß Sie erfahren möchten, wie er in den Zustand kam, in welchem Sie ihn sehen. Meine Herren,« fügte Braß bei, indem er mit geballter Faust ungestüm auf den zuletzt genannten Artikel schlug, »auf alle diese Fragen habe ich nur die eine Antwort – Quilp ist Schuld daran.«
Die drei Herren sahen einander an, ohne jedoch zu sprechen.
»Ich sage,« fuhr Braß fort, indem er seitlich auf seine Schwester blickte, als spreche er nur zu ihrer Belehrung, wobei er sich mit einer beißenden Bosheit ausdrückte, die in einen schroffen Gegensatz zu seiner gewöhnlichen Geschmeidigkeit trat, »daß ich auf alle diese Fragen nur antworten kann – Quilp – Quilp, der mich in sein Höllenloch lockt und seine Lust daran hat, wenn er zusehen und lachen kann, während ich mich versenge, verbrenne, quetsche und mich selbst verwunde – Quilp, der nie, nein, nicht ein einzigesmal während unseres gegenseitigen Verkehrs mich anders behandelt hat, als einen Hund – Quilp, den ich immer aus dem Grunde meiner Seele haßte, aber nie so sehr, als in der letzten Zeit. Er benimmt sich gerade in dieser Angelegenheit, als ob er gar nichts damit zu schaffen gehabt habe, obwohl er der erste Anlaß dazu war. Ich kann ihm nicht trauen. In einer seiner heulenden, wüthenden und auflodernden Launen würde er, glaube ich, ausplaudern, und wenn es sich um einen Mord handelte, ohne an sich selbst zu denken, so lange er mich in Schrecken jagen kann. Nun,« sagte Braß, indem er seinen Hut wieder aufnahm, die Binde über seine Augen zog und im Uebermaße seiner Kriecherei sich fast bis in den Staub bückte, »wohin kann alles dieß noch führen – zu welchem Ende, glauben Sie, meine Herren, wird es führen? – Sind Sie wohl im Stande, zu errathen, was das Ziel und Ende davon ist?«
Niemand sprach. Braß stand eine kleine Weile schmunzelnd da, als ob er irgend einen auserlesenen Schwank vorgebracht hätte, und fuhr dann fort:
»Um mich also kurz auszusprechen, es führt dahin: wenn einmal die Wahrheit herauskommt und so klar daliegt, daß man ihr nicht mehr widerstehen kann – und es ist in ihrer Art etwas gar Großes und Erhebendes um die Wahrheit, meine Herren, obgleich sie, wie andere große und erhabene Dinge, zum Beispiel Donnerwetter und dergleichen keine allzugroße Freude bei denen, welche Zeuge davon sein müssen, veranlaßt – so halte ich es für besser, auf diesen Menschen loszugehen, als daß ich ihn auf mich losgehen lasse. Es ist mir klar, daß ich fertig bin. Wenn daher Jemand lachen soll, so ist es besser, daß ich es thue und den Vortheil davon ziehe. Liebe Sarah, beziehungsweise gesprochen bist du sicher. Ich erzähle diese Umstände nur in meinem eigenen Interesse.«
Hierauf erzählte Herr Braß in großer Eile die ganze Geschichte, indem er so schwer als möglich auf seinen liebenswürdigen Auftraggeber ablud, sich selbst aber gewissermaßen in dem Lichte eines Heiligen hinstellte, obgleich er zugab, daß er nicht ganz frei von menschlichen Schwächen sei. Er schloß folgendermaßen:
»Nun, meine Herren, ich bin nicht der Mann, der eine Sache nur halb thut. Stehe ich für einen Penny ein, so bin ich auch bereit, es auf ein Pfund ankommen zu lassen. Sie dürfen mit mir anfangen, was Ihnen beliebt, und mich hinnehmen, wo es Ihnen gefällig ist. Wollen Sie es schriftlich haben, so können wir es im Augenblick zu Papier bringen. Ich bin überzeugt, daß Sie schonsam mit mir umgehen werden, und verlasse mich zuversichtlich darauf. Sie sind Männer von Ehre und haben gefühlvolle Herzen. Die Noth drängte mich, Quilp's Anforderungen nachzugeben, denn obgleich die Noth kein Gesetz kennt, so hat sie doch ihre Advokaten. Auch bei Ihnen weiche ich der Nothwendigkeit, und außerdem der Klugheit, in Vereinigung mit Gefühlen, die schon geraume Zeit in mir thätig waren. Bestrafen Sie Quilp, meine Herren. Legen Sie ihm tüchtig auf. Zermalmen Sie ihn. Treten Sie ihn unter die Füße. Er hat mir's seit langer, langer Zeit ebenso gemacht.«
Nachdem Sampson seine Rede also geschlossen hatte, hemmte er den Sturm seines Zornes, küßte abermals seinen Handschuh und lächelte, wie nur Parasiten und Schmarotzer lächeln können.
»Und dieß,« sagte Miß Braß, indem sie ihren Kopf erhob, den sie bisher auf ihre Hände gestützt hatte, und den Sprecher vom Wirbel bis zur Zehe mit einem bitteren Hohngelächter betrachtete, »dieß ist wirklich mein Bruder! Dieß mein Bruder, für den ich mich abgemüht, für den ich gearbeitet habe, und von dem ich glaubte, daß er etwas von einem Manne an sich hätte!«
»Liebe Sarah,« entgegnete Sampson, indem er beständig seine Hände rieb, »du beunruhigst unsere Freunde. Außerdem – du hast dich in deinen Hoffnungen getäuscht, Sarah, weißt nicht, was du sagst, und stellst dich daher bloß.«
»Ja, du armselige Memme,« erwiederte die liebenswürdige Dame, »ich verstehe dich. Du fürchtetest, ich möchte dir zuvorkommen. Aber meinst du, ich hätte mir nur ein Wort entlocken lassen? Mit Hohnlachen würde ich sie zurückgewiesen haben, und wenn sie mich zwanzig Jahre verhört und vor den Gerichten herumgeschleppt hätten.«
»Hi, hi!« lachte Braß schafmäßig, denn in der Tiefe seiner Erniedrigung schien er wirklich sein Geschlecht mit dem seiner Schwester vertauscht zu haben, während jeder Funke von Männlichkeit, der möglicherweise in ihm hätte glimmen können, auf die letztere übergegangen war. »Du meinst so, Sarah, du meinst wirklich so; aber du würdest ganz anders gehandelt haben, mein guter Kerl. Du hast doch den Grundsatz des Füchschens nicht vergessen – unseres verehrten Vaters, meine Herren – ›traue keinem Menschen‹. Dieß ist die Maxime, die einem durch's Leben hilft. Wenn du in der That nicht schon im Begriffe warst, deine Sicherheit zu erkaufen, als ich mich zeigte, so vermuthe ich doch, daß du es jetzt bereits gethan haben würdest. Und deshalb habe ich für mich selbst gehandelt, und dir sowohl die Mühe als die Schande erspart. Die Schande, meine Herren,« fügte Braß bei, indem er sich von dem Gefühl für den genannten Affekt in einem leichten Grad bewältigen ließ, »wenn von einer solchen die Rede ist, ruht auf mir. Es ist besser, wenn ein Frauenzimmer davon verschont bleibt.«
Trotz aller Achtung gegen die bessere Einsicht des Herrn Braß, insbesondere aber gegen die Autorität seines großen Vorfahren möchten wir doch in Demuth bezweifeln, ob das erhebende Princip, welches der letztere Herr empfohlen und sein Nachkomme so treulich befolgt hatte, immer auch ein kluges ist, oder in der Erfahrung die gewünschten Resultate zur Folge hat. Dieß ist jedoch außer Frage nur ein kecker und anmaßender Zweifel, insoferne viele ausgezeichnete Charaktere, die man Menschen von Welt, durchtriebene Bursche, schlaue Füchse, verschmitzte Gesellen, Kapitalgeschäftsleute und dergleichen nennt, diesen Grundsatz zu ihrem Polarstern und Compaß gemacht haben und Tag für Tag noch machen. Doch mag es gestattet sein, ein solches Bedenken höflich anzudeuten. Als einen Beleg hiefür erlauben wir uns, zu bemerken, daß Herr Braß sich am Ende wohl weit besser aus der Sache gezogen hätte, wenn er nicht all zu argwöhnisch gewesen und die Behandlung der Geschichte ohne Einmischung von Spähen und Horchen seiner Schwester überlassen geblieben wäre; oder wenn er auch nur, trotz seines Spähens und Horchens, sich nicht so gar sehr beeilt hätte, ihr den Rang abzulaufen, was ohne Mißtrauen und Eifersucht von seiner Seite gleichfalls unterblieben wäre. So wird sich's denn immer treffen, daß derartige Weltmenschen, welche stets im Harnisch aufziehen, sich eben so oft gegen das Gute, als gegen das Böse wehren – abgesehen von der Unbequemlichkeit und Abgeschmacktheit, alle Zeit mit einem Mikroskop die Wache beziehen und bei den unschuldigsten Anlässen sich in einen Panzer schnallen zu lassen.
Die drei Herren sprachen einige Augenblicke abseits mit einander. An dem Ende ihrer sehr kurzen Berathung deutete der Notar auf Schreibmaterialien, welche auf dem Tische lagen, und deutete Herrn Braß an, daß er, wenn er seine Aussagen schriftlich abzugeben wünsche, hiezu Gelegenheit habe. Zu gleicher Zeit fühlte er sich veranlaßt, ihm zu bemerken, daß er sie sogleich zu einem Friedensrichter begleiten, und daß er in allem, was er thue oder sage, sich ganz von seiner eigenen Klugheit leiten lassen müsse.
»Meine Herren,« sagte Braß, indem er seine Handschuhe auszog und im Geiste vor ihnen im Staube kroch, »ich will der Schonung, mit der Sie mich, wie ich weiß, behandeln werden, Ehre machen; und da ich, ohne eine solche Schonung, nachdem einmal die Enthüllung gemacht ist, von allen dreien die schlechteste Stellung habe, so dürfen Sie sich darauf verlassen, daß ich meine Brust rein machen werde. Herr Witherden, eine Art von Schwäche liegt auf meinem Geiste – wenn Sie mir die Gunst erweisen wollten, zu klingeln, und ein Glas von etwas Warmem und Gewürztem zu befehlen, so würde ich, ungeachtet aller Vorgänge, das melancholische Vergnügen haben, Ihre Gesundheit zu trinken. Ich hatte gehofft,« fügte Braß bei, indem er mit einem traurigen Lächeln umhersah, »eines Tages gegenwärtige drei Herren hinter dem Mahagonitisch meines bescheidenen Besuchszimmers in Bevis Marks zu sehen. Aber Hoffnungen sind unsicher. Du mein Himmel!«
Herr Braß fand sich hinsichtlich dieses Punktes so außerordentlich ergriffen, daß er nichts mehr sprechen oder thun konnte, bis eine Erfrischung angelangt war. Nachdem er sich daran gelabt hatte, und zwar für seinen aufgeregten Zustand ziemlich reichlich, setzte er sich nieder, um zu schreiben.
Die liebliche Sarah schritt, während ihr Bruder so beschäftigt war, bald mit verschlungenen Armen, bald die Hände auf dem Rücken zusammengelegt, mit männlichen Tritten in dem Zimmer auf und ab, und machte nur bisweilen Halt, um ihre Dose herauszuziehen und an dem Deckel zu kauen. Sie fuhr in dieser Leibesübung fort, bis sie ganz ermattet war, und warf sich dann auf einen Stuhl in der Nähe der Thüre, wo sie einschlief.
Man hat seitdem mit einigem Grund vermuthet, daß dieser Schlummer nur verstellt war, da es ihr gelungen war, in der Dunkelheit des Abends unbemerkt zu entschlüpfen. Ob dieß eine absichtliche und im vollen Wachen ausgeführte Verabschiedung, oder ein somnambüles Adieu war, mag als Gegenstand der Conjectur stehen bleiben; jedenfalls sind über einen Punkt – und zwar den Hauptgrund – alle Parteien einig. So viel ist gewiß, mochte sie in was immer für einem Zustande weggegangen sein, sie kehrte nimmer zurück. Da wir bereits der Dunkelheit des Abends gedachten, so wird man daraus folgern, daß Herr Braß eine geraume Zeit durch die Vollziehung seines Geschäftes in Anspruch genommen wurde. Er kam erst spät damit zu Stande; aber als er endlich fertig war, verfügte sich dieser Ehrenmann mit den drei Freunden in einer Miethkutsche nach dem Privatarbeitszimmer eines Friedensrichters. Dieser bereitete Herrn Braß einen warmen Empfang und behielt ihn an einem sicheren Ort, damit er ja des Vergnügens nicht entbehre, ihn morgen wieder zu sehen, worauf er die andern mit der erfreulichen Betheuerung entließ, daß mit dem nächsten Tage unfehlbar ein Haftbefehl gegen Herrn Quilp erlassen werden solle, und daß eine geeignete Auseinandersetzung aller Umstände den Staatssekretär (der zum Glück in der Stadt war) ohne Zweifel veranlassen würde, Kit ohne Zögerung auf freien Fuß zu setzen.
Und nun hatte es in der That den Anschein, als ob sich Quilp's boshafte Laufbahn ihrem Ende nähere, und als ob die Wiedervergeltung, die – namentlich, wo sich's um die schwersten Verbrechen handelt – oft so langsam geht, seine Fährte aufgespürt hätte und ihn schnell und sicher zu ereilen droht. Uneingedenk ihres leisen Trittes, geht das Opfer in eingebildetem Triumphe seinen Weg. Aber sie schleicht ihm auf der Ferse nach, und, einmal im Gange, läßt sie sich nicht wieder abwenden.
Sobald die drei Herren ihr Geschäft beendigt hatten, eilten sie nach Herrn Swiveller's Wohnung zurück, dessen Besserung so schnelle Fortschritte machte, daß er eine halbe Stunde hatte aufsein und sich ganz gemüthlich unterhalten können. Frau Garland war schon seit einiger Zeit nach Hause gegangen, aber Herr Abel befand sich noch immer bei dem Kranken. Nachdem ihm der ganze Verlauf des Geschehenen mitgetheilt war, verabschiedeten sich die beiden Herren Garland und der ledige Herr, als geschehe es in Folge vorhergegangener Verabredung, und ließen den Patienten und den Notar mit der kleinen Magd allein.
»Da Sie sich um so viel besser befinden,« sagte Herr Witherden, sich neben seinem Bette niedersetzend, »so wage ich es, Ihnen eine Neuigkeit mitzutheilen, von der ich auf dem Wege meines Berufes Kunde erhalten habe.
Der Gedanke einer Mittheilung in Geschäftssachen durch einen Herrn, dessen Beruf mit gerichtlichen Angelegenheiten in Verbindung stand, schien Richard durchaus keine erfreuliche Vorahnung zu bereiten. Vielleicht bezog er sie in seinem Innern auf einige ausstehende Rechnungen, wegen deren er bereits unterschiedliche drohende Schreiben erhalten hatte. Sein Gesicht verlängerte sich, als er entgegnete:
»Ohne Anstand, Sir. Ich hoffe jedoch, daß es nicht von allzu unangenehmer Beschaffenheit ist?«
»Wenn ich dieß glauben könnte, so würde ich eine gelegenere Zeit für meine Eröffnung wählen,« erwiederte der Notar. »Lassen Sie sich vorerst bedeuten, daß meine Freunde, welche heute hier gewesen sind, nichts davon wissen, und daß ihr Wohlwollen gegen Sie ein ganz freiwilliges ist, ohne daß sie dabei auf Wiederersatz zählten. Es dürfte für einen gedankenlosen, unbekümmerten Menschen gut sein, dieß zu wissen.«
Dick dankte ihm und sagte, »er hoffe, daß dieß der Fall sein werde.«
»Ich habe um Ihretwillen einige Nachfragen angestellt,« fuhr Herr Witherden fort, »ohne mir's träumen zu lassen, daß ich Sie unter Verhältnissen finden würde, wie diejenigen sind, welche uns zusammenführten. Sie sind der Neffe von Rebecca Swiveller, die unverehelicht zu Cheselbourne in Dorsethire gestorben ist.«
»Gestorben?« rief Dick.
»Gestorben. Wenn man mit diesem Neffen hätte zufrieden sein können, so wären Sie jetzt (so sagt das Testament, und ich sehe keinen Grund, warum ich es bezweifeln sollte) im Besitze von 25,000 Pfund. So aber ist Ihnen blos eine jährliche Leibrente von 150 Pfunden zugefallen. Ich denke indeß, ich kann Ihnen auch hiezu Glück wünschen.«
»Sir,« sagte Dick, der zumal lachte und schluchzte, »das können Sie. So es Gott gefällt, wollen wir noch aus der armen Marquise eine Gelehrte machen! Sie soll in Seide einhergehen und etwas Namhaftes aufstecken können, oder ich will nicht wieder von diesem Bette aufstehen.«