Der Raritätenladen. Einunddreißigstes Kapitel
Mit weit wankenderen und unsichreren Schritten, als jene gewesen, womit sich Nell dem Gemache genähert hatte, trat sie von der Thür weg und tappte nach ihrem Kämmerchen zurück. Der Schrecken, den sie eben erst ausgestanden, war nichts gegen den, welcher jetzt sich ihrer bemächtigte. Kein fremder Räuber, kein verrätherischer Wirth, der sich bei Beraubung seiner Gäste betheiligte, oder an ihre Betten schlich, um sie in ihrem Schlaf zu ermorden, kein nächtlicher Dieb (wie schrecklich und entsetzlich auch solche Erscheinungen gewesen wären), hätte in ihrer Seele nur die Hälfte des Grausens erwecken können, welches sie empfand, als sie ihren stummen Besuch erkannte. Der grauköpfige alte Mann, der wie ein Gespenst in ihre Kammer schlüpfte, das Gewerbe eines Diebes trieb, während er sie im Schlafe wähnte, dann seine Beute davon trug und mit jenem unheimlichen Entzücken, wovon sie Zeuge gewesen, dieselbe betrachtete – nein, es war schlimmer, unermeßlich schlimmer, und der Gedanke daran für den Augenblick viel schrecklicher, als Alles, was ihr die wildeste Phantasie hätte vormalen können! Wenn er zurückkehrte! Es war kein Schloß oder Riegel an der Thüre, und wenn er, in der Meinung, er habe noch etwas Geld zurückgelassen, wieder zurückkehrte, um es nachzuholen – ein unbestimmtes Entsetzen und Grausen haftete schon an dem Gedanken, er könnte wieder mit demselben verstohlenen Tritte hereinschleichen: und wenn er dann sein Gesicht dem leeren Bette zuwandte, während sie sich dicht vor seinen Füßen zusammenkauerte, um seine Berührung zu vermeiden – nein, es war nicht auszuhalten! Sie setzte sich nieder und lauschte. Horch! Ein Fußtritt auf der Treppe, und nun das langsame Aufgehen der Thüre. Es war zwar nur Einbildung, aber eine Einbildung, die alle Schrecken der Wirklichkeit in sich vereinigte – oder vielmehr, es war noch schlimmer, denn in der Wirklichkeit hätte es mit dem Kommen und Gehen ein Ende gehabt, aber dieses marternde Phantasiebild tauchte immer von Neuem auf und wollte sich durchaus nicht verscheuchen lassen.
Das Gefühl, welches das Kind bedrückte, war das eines düstern und unbestimmten Entsetzens. Sie hatte keine Furcht vor dem lieben, alten Großvater, dessen zärtliche Zuneigung zu ihr eine solche Geistesverwirrung veranlaßt hatte; aber der Mann, den sie in jener Nacht gesehen hatte, hingerissen von den Wechselfällen des Spiels, in ihr Kämmerchen hereinschleichend und das Geld bei dem Flackerscheine des Lichtes zählend, erschien ihr als ein ganz anderes Wesen in seiner Gestalt, als ein monströses Zerrbild seines Aeußern, als eine Erscheinung, vor der sie zurückbebte, und vor der sie sich nur um so mehr fürchtete, da sie ihm so ähnlich war und mit ihr selbst in so naher Verbindung stand. Sie konnte kaum anders, als durch den Gedanken, ihn verloren zu haben, ihren theuern Gefährten mit diesem alten Manne in Verbindung bringen, der ihm so ähnlich, und doch wieder so unähnlich war. Sie hatte geweint, als sie ihn so düster und theilnahmlos gesehen hatte; wie viel Ursache aber hatte sie nicht jetzt, zu weinen!
Die Kleine saß da, wachend und über dem Vorfälle brütend, bis das Schreckensbild in ihrem Geiste so düster und entsetzlich wurde, daß es ihr vorkam, als würde sie eine Erleichterung fühlen, wenn sie die Stimme des alten Mannes hörte, oder ihn auch nur in seinem Schlafe sähe, hoffend, es würden dadurch einige der Besorgnisse verschwinden, welche sich an sein Bild hefteten. Sie stahl sich wieder die Treppe hinunter und in den Gang. Die Thüre war noch immer halb offen, wie sie dieselbe verlassen hatte, und das Licht brannte noch immer wie zuvor.
Sie hatte ihre eigene Kerze in der Hand und wollte, wenn sie ihn wachend fände, sagen, sie sei unwohl und könne nicht schlafen, weßhalb sie hergekommen sei, um nachzusehen, ob er noch Licht habe. Als sie in das Gemach blickte, bemerkte sie, daß er ruhig auf seinem Bette lag, und so faßte sie denn Muth, einzutreten.
Er schlief fest: keine Leidenschaft in seinem Gesichte – weder Habsucht, noch Beklommenheit oder wilde Gier; alles sanft, ruhig und im Frieden. Dieß war nicht der Spieler, nicht der Schatten aus ihrem Kämmerchen; dieß war nicht einmal der abgehärmte und kummergebeugte Mann, dessen Antlitz sie so oft im Grauen des Morgens geschaut hatte – es war ihr lieber alter Freund, ihr harmloser Reisegefährte, ihr guter freundlicher Großvater.
Sie fürchtete sich nicht, als sie seine schlummernden Züge betrachtete, aber ein tiefer, schwerer Kummer lag auf ihrer Seele, und sie fand Erleichterung in ihren Thränen.
»Gott beschütze ihn!« sagte Nell, indem sie sich sanft über ihn beugte und seine ruhige Wange küßte. »Ich sehe jetzt nur zu gut, daß man uns trennen würde, wenn man uns auffände, und daß man ihn ausschlösse von dem Licht der Sonne und des Himmels. Er hat Niemand als mich, um ihm zu helfen. Gott beschütze uns Beide!«
Sie zündete ihre Kerze an, zog sich so schweigend, als sie gekommen war, wieder nach ihrem Kämmerchen zurück, und blieb daselbst den ganzen Rest dieser langen, langen, unglücklichen Nacht auf ihrem Lager sitzen.
Endlich erblaßte ihr schwaches Kerzenlicht in dem auftauchenden Morgen, und sie schlief ein, wurde aber schnell wieder von dem Mädchen geweckt, welches sie nach ihrem Bette geführt hatte. Sobald sie angekleidet war, schickte sie sich an, zu ihrem Großvater hinunterzugehen; zuerst aber untersuchte sie ihre Tasche und fand, daß ihr Geld alles fort und auch nicht ein Sechspencestück zurückgeblieben war.
Der alte Mann war bald zum Aufbruch bereit, und in wenigen Augenblicken befanden sie sich auf ihrem Wege. Es kam Nell vor, als vermeide der Großvater ihr Auge, und als scheine er zu erwarten, daß sie ihm Etwas von ihrem Verluste sage. Sie fühlte, daß sie dieß thun mußte, sonst hätte er die Wahrheit ahnen können.
»Großvater,« sagte sie bebend, nachdem sie etwa eine Meile schweigend gegangen waren, »glauben Sie, daß in jenem Hause dort ehrliche Leute sind?«
»Warum?« entgegnete der alte Mann zitternd. »Warum sollte ich sie nicht für ehrlich halten? – sie haben ehrlich gespielt.«
»Ich will Ihnen sagen, warum ich frage,« versetzte Nell. »Ich habe in der letzten Nacht einiges Geld verloren, und zuverlässig aus meiner Schlafkammer. Wenn es nicht Jemand im Scherz weggenommen hat – nur im Scherz, lieber Großvater, worüber ich natürlich herzlich lachen würde, wenn ich es wüßte –«
»Wer wird auch Geld im Scherz wegnehmen?« erwiderte der alte Mann hastig. »Diejenigen, welche Geld wegnehmen, nehmen es, um es zu behalten. Da kann von keinem Scherze die Rede sein.«
»Dann ist es aus meinem Gemache gestohlen worden, lieber Großvater,« sagte Nell, deren letzte Hoffnung durch die Art, in welcher ihr Gefährte diese Antwort gab, zerstört wurde.
»Aber hast du nicht noch mehr?« fragte der alte Mann; »nicht noch sonst irgendwo Etwas? wurde Alles genommen – jeder Heller – gar Nichts übrig geblieben?«
»Nichts,« versetzte das Kind.
»Wir müssen kriegen,« sagte der alte Mann; »wir müssen erwerben, Nell, ersparen, zusammenscharren, dazu kommen, sei es auf was immer für eine Weise. Kehre dich nicht an diesen Verlust. Sage Niemand etwas davon und wir kriegen es vielleicht wieder. Frage nicht, wie? – wir kriegen es vielleicht wieder, und wohl noch ein Ansehnliches mehr; – aber du mußt es Niemand sagen, damit uns keine Ungelegenheit daraus erwachse. Man hat es dir also aus deiner Kammer genommen?« fuhr er im Tone des Mitleids fort, der sehr gegen die geheimnißvolle Verschmitztheit abstach, mit der er bisher gesprochen hatte. »Arme Nell, arme kleine Nell.«
Das Kind ließ das Köpfchen hängen und weinte. Der mitleidige Ton, in welchem er gesprochen hatte, war gewiß aufrichtig – daran zweifelte Nell nicht im Geringsten; und es trug nicht wenig dazu bei, ihren Kummer nur um so schmerzlicher zu machen, daß sie wußte, es sei um ihretwillen geschehen.
»Rede gegen keinen Menschen, als gegen mich, ein Wort mehr davon,« sprach der alte Mann. »Nein, nicht einmal gegen mich,« fügte er hastig bei, »denn es führt ja doch zu Nichts. Alle bisherigen Verluste sind keine Thräne aus deinen Augen werth, mein Herz. Warum sollten sie's auch, da sie sich wieder zurückgewinnen lassen?«
»So mag es denn verloren sein,« sagte das Kind aufsehend. »So mag es denn ein für allemal verloren sein! Und ich möchte nicht wieder eine Thräne darum vergießen, wenn auch jeder Pence tausend Pfund gewesen wäre.«
»Nun, nun,« versetzte der alte Mann, eine ungestüme Antwort unterdrückend, die ihm eben über die Lippen gleiten wollte, »sie versteht es nicht besser. – – – – Ich sollte dankbar dafür sein.«
»Aber hören Sie mich an,« sagte das Kind angelegentlich. »Wollen Sie mich anhören?«
»Ja, ja, ich will hören,« entgegnete der alte Mann, ohne jedoch zu ihr aufzublicken. »Eine hübsche Stimme. Sie hat immer einen süßen Klang für mich – gerade so, wie die ihrer Mutter; armes Kind!«
»So lassen Sie sich bereden – oh, so lassen Sie sich bereden,« sagte das Kind, »nie mehr an Gewinne oder Verluste zu denken, und kein anderes Glück zu versuchen, als dasjenige, welches wir gemeinschaftlich verfolgen.«
»Wir verfolgen dieses Ziel gemeinschaftlich,« erwiderte ihr Großvater, der noch immer nicht aufzublicken wagte und mit sich selbst zu Rathe zu gehen schien. »Wessen Bild heiligt das Spiel?«
»Sind wir denn schlimmer daran gewesen,« nahm das Kind wieder auf, »seit Sie solcher Sorgen vergessen hatten und wir gemeinschaftlich in die Welt hinauszogen? Haben wir uns nicht froher und glücklicher gefühlt ohne ein Dach zum Schutze für unsere Häupter, als es je in jenem unseligen Hause der Fall war, wo Sie an nichts Anderes denken konnten?«
»Sie hat Recht,« murmelte der alte Mann in dem früheren Tone. »Es darf mich zwar nicht abwendig machen, aber sie hat Recht – kein Zweifel daran.«
»Erinnern Sie sich nur, was wir gewesen sind seit jenem schönen Morgen, als wir demselben für immer den Rücken wandten,« sagte Nell. »Vergessen Sie ja nicht, was wir waren, seit wir all jenes Elend abstreiften – welche friedliche Tage und ruhige Nächte wir verlebten – wie heiter uns die Zeit verstrich – und wie glücklich wir uns fühlten. Wenn wir müde und hungrig waren, gebrach es uns nicht an Erfrischung, und wir schliefen dafür nur um so gesunder. Bedenken Sie nur welche schöne Dinge wir gesehen und wie zufrieden wir gelebt haben. Und was war Schuld an diesem segensvollen Wechsel?«
Er unterbrach sie mit einer Bewegung seiner Hand und verlangte, sie solle jetzt nicht mehr sprechen, denn er sei mit Etwas beschäftigt. Nach einer Weile küßte er sie auf ihre Wange, wobei er ihr immer noch Stillschweigen auferlegte, in die Ferne hinaus schauend, und bisweilen Halt machte, um mit gerunzelter Stirne auf die Erde zu sehen, als gäbe er sich Mühe, seine wirren Gedanken zu sammeln. Einmal erblickte sie Thränen in seinen Augen. Nachdem er es eine Weile also getrieben, nahm er wie sonst, ohne eine Spur der kürzlichen Heftigkeit und Aufregung, ihre Hand in die seinige, und so versank er in allmäligen und merklichen Abstufungen in seine gewohnte ruhige Weise zurück, ganz sich der Leitung des Kindes überlassend.
Als sie wieder in Mitte der staunenerregenden Figurensammlung anlangten, fanden sie, wie sich's Nell gedacht hatte, daß Madame Jarley noch nicht aufgestanden war. Die gute Frau war allerdings über ihr Ausbleiben unruhig geworden und hatte bis um eilf Uhr auf sie gewartet, dann aber sich zu Bette begeben, in der Ueberzeugung, sie seien wahrscheinlich in großer Entfernung von dem Gewitter überfallen worden und hätten das nächste Obdach gesucht, weßhalb sie vor dem Morgen nicht zurückkehren würden. Nell ging alsbald mit großer Emsigkeit an die Ausschmückung und Zurüstung des Saales und hatte noch überdieß die Freude, ihr Geschäft beendigt und noch obendrein sich selbst angekleidet zu haben, ehe der Liebling der königlichen Familie zum Frühstück herunter kam.
»Wir haben,« sagte Madame Jarley nach eingenommenem Morgenimbiß, »während unserer Anwesenheit nicht mehr als acht von Miß Monflathers jungen Damen hier gehabt, und es sind doch deren sechsundzwanzig in der Pension, wie ich von der Köchin erfuhr, als ich ihr bei Ueberreichung eines Freibillets ein paar Fragen vorlegte. Wir müssen sie mit einem Päckchen neuer Zettel ködern, und du wirst sie hintragen, meine Liebe, und sehen, was sie für eine Wirkung üben.«
Da dieser Auftrag von außerordentlicher Bedeutsamkeit war, so rückte Madame Jarley eigenhändig Nell's Hut zurecht und erklärte sodann, sie sehe jetzt wirklich ganz hübsch aus und mache dem Cabinet Ehre; dabei ertheilte sie ihr viele Einschärfungen und gewisse unerläßliche Anweisung über die Straßen rechts, welche sie einzuschlagen, und über die Straßen links, welche sie zu vermeiden habe, und dann entließ sie das Mädchen.
Mit solchen Instructionen versehen wurde es Nell nicht schwer. Miß Monflathers Dameninstitut aufzufinden. Dieses war ein großes Haus mit einer hohen Mauer, und hatte eine große Gartenthüre mit einer großen Messingplatte und einem kleinen Gitter, durch welches Miß Monflathers Zofe jeden Besuch beaugenscheinigte, ehe sie denselben einließ: denn Nichts, was die Gestalt eines Mannes trug – nein, nicht einmal der Milchmann – durfte ohne specielle Erlaubniß dieses Thor passiren. Selbst der Steuereinnehmer, ein stämmiger Mann, welcher eine Brille und einen breitkrämpigen Hut trug, mußte die Steuer durch das Gitter in Empfang nehmen.
Miß Monflathers Thor trotzte dem ganzen Männergeschlechte hartnäckiger, als Thore von Diamant und Erz. Selbst der Fleischer respectirte es als ein unverletzliches Geheimniß und hörte auf zu pfeifen, wenn er die Klingel zog.
Als sich Nell dieser ehrfurchtgebietenden Thüre näherte, drehte sich dieselbe langsam in ihren knarrenden Angeln, und hervor aus dem Hintergründe des feierlichen Haines kam eine lange Reihe von jungen Damen, je zwei und zwei, die Alle offene Bücher und zum Theil auch Sonnenschirme in den Händen hatten. Den Schluß dieser prunkvollen Procession machte Miß Monflathers, die ebenfalls einen lilaseidenen Sonnenschirm trug, und als Adjutanten zwei Lehrerinnen zur Seite hatte, welche sich trotz des Lächelns auf ihren Lippen gegenseitig auf's Bitterste anfeindeten.
Verwirrt durch die neugierigen Blicke und das Geflüster der Mädchen stand Nell mit niedergeschlagenen Augen da und ließ die Procession an sich vorbeiziehen, bis Miß Monflathers, welche den Nachtrab bildete, herankam. Jetzt knixte sie und bot der Dame ihr kleines Päckchen an, worauf Miß Monflathers, nachdem sie dasselbe in Empfang genommen hatte, die Reihe Halt machen ließ.
»Du bist das Kind aus dem Wachsfigurencabinet, nicht wahr?« fragte Miß Monflathers.
»Ja, Madame,« versetzte Nell, hoch erröthend, denn die jungen Damen hatten sich um sie gesammelt und sie bildete den Mittelpunkt, auf den aller Augen gerichtet waren.
»Und glaubst du nicht, du müssest ein sehr verderbtes kleines Kind sein,« sagte Miß Monflathers, welche sich in einer etwas zweideutigen Stimmung befand und nie gerne eine Gelegenheit vorbei ließ, den zarten Gemüthern der jungen Damen moralische Wahrheiten einzuprägen, »da du sonst unmöglich ein Wachsfigurencabinetskind sein könntest.«
Da die arme Nell ihre Lage nie in diesem Lichte betrachtet hatte und also auch nicht wußte, was sie sagen sollte, so blieb sie stumm und erröthete nur noch höher, als zuvor.
»Weißt du nicht,« fuhr Miß Monflathers fort, »daß dieß sehr nichtsnutzig, unweiblich und eine Verkehrung derjenigen Eigenschaften ist, die uns weise und gnädig verliehen wurden, um die expansiven Kräfte durch das Medium der Kultur aus ihrem Schlummer zu wecken?«
Die zwei Hilfslehrerinnen murmelten ihren achtungsvollen Beifall über diesen Ausfall und sahen auf Nell, als wollten sie sagen, daß Miß Monflathers in der That sehr scharf gezielt habe. Dann lächelten sie und blickten auf Miß Monflathers, bei welcher Gelegenheit sich ihre Augen begegneten, und dann warfen sie sich Blicke zu, welche deutlich bekundeten, daß jede sich selbst als Miß Monflathers regelmäßige Lächlerin betrachte, weßhalb die andere kein Recht zum Lächeln habe und in diesem Actus sich jedenfalls eine Anmaßung und Unverschämtheit zu Schulden kommen lasse.
»Fühlst du nicht, wie keinnütze es von dir ist,« nahm Miß Monflathers wieder auf, »ein Wachsfigurencabinetskind zu sein, da du das stolze Bewußtsein haben könntest, nach dem Umfang deiner kindlichen Kräfte die Manufacturen deines Vaterlandes zu unterstützen, deinen Geist durch die beharrliche Betrachtung der Dampfmaschine zu veredeln und ein behagliches und unabhängiges Auskommen von zwei Shillingen neun Pencen, bis zu drei Shillingen wöchentlich zu verdienen? Weißt du nicht, daß du nur um so glücklicher sein würdest, je angestrengter du arbeiten müßtest?«
»Was macht die kleine – –«
murmelte eine der Lehrerinnen als Citat aus Doctor Watts.
»Wie?« fragte Miß Monflathers sich rasch umwendend. »Wer hat das gesagt?«
Natürlich denuncirte jetzt die Lehrerin, welche nichts gesagt hatte, ihre Nebenbuhlerin, welcher Miß Monflathers mit Stirnrunzeln Schweigen befahl – eine Rüge, worüber die angeberische Lehrerin vor Freude fast außer sich gerieth.
»Die kleine emsige Biene,« sagte Miß Monflathers, indem sie sich in die Brust warf, »ist nur auf die Kinder der Vornehmen anwendbar.
›In Büchern, Arbeit, frohem Spiel‹
paßt vortrefflich auf dieselben, und unter Arbeit ist hier Malen auf Sammt, Musternähen und Stickerei verstanden. In solchen Fällen aber,« fuhr sie, mit ihrem Sonnenschirm auf Nell deutend, fort, »und überhaupt bei allen Kindern armer Leute sollte die Leseart so lauten:
›In Arbeit, Arbeit, Arbeit viel,
Laß hingehn meiner Jugend Stunden,
Damit an jeden Tages Ziel,
Mein Wirken löblich werd' erfunden.‹«
Ein dumpfes Beifallgesumme erhob sich nicht nur aus dem Munde der zwei Lehrerinnen, sondern auch unter der Gesammtzahl der Zöglinge, welche alle über dieses Improvisiren in so sublimem Styl von Seite der Miß Monflathers gleichmäßig erstaunt waren; denn obgleich sie längst in dem Rufe einer guten Politikerin stand, so hatte sie sich doch nie zuvor als Originaldichterin gezeigt. Zufällig wurde jetzt entdeckt, daß Nell weinte, und Aller Augen wandten sich ihr auf's Neue zu.
In der That standen ihr Thränen in den Augen, und als sie ihr Taschentuch herauszog, um dieselben abzuwischen, entsank es zufällig ihren Händen. Ehe sie sich aber bücken konnte, um es wieder aufzunehmen, sprang ein Mädchen von ungefähr fünfzehn oder sechszehn Jahren, das etwas seitwärts von den klebrigen gestanden hatte, als ob es nicht eigentlich zu denselben gehöre, herzu und gab es ihr in die Hand. Sie wollte sich eben wieder schüchtern zurückziehen, als sie die Directrice der Anstalt stehen bleiben hieß.
»Ich weiß, das hat Miß Edwards gethan,« sagte Miß Monflathers in bestimmtem Tone. »Gewiß, Niemand anders war es als Miß Edwards.«
Es war Miß Edwards, und Jedermann sagte, es wäre Miß Edwards, und Miß Edwards selbst zog es auch nicht in Abrede.
»Ist es nicht höchst merkwürdig, Miß Edwards,« fuhr Miß Monflathers fort, indem sie ihren Sonnenschirm niederließ, um die Verbrecherin desto strenger in Augenschein nehmen zu können, »daß Sie eine solche Vorliebe gegen die niederen Elasten unterhalten, welche Sie immer auf ihre Seite hinüberzieht? Oder vielmehr, ist es nicht ganz außerordentlich, daß Alles, was ich sage und thue, nicht im Stande ist, Ihnen Neigungen abzugewöhnen, welche Ihnen Ihre ursprüngliche Stellung im Leben unglücklicher Weise zur zweiten Natur gemacht hat. Sie außerordentlich gemein gesinntes Mädchen?«
»Ich habe doch in der That nichts Böses beabsichtigt, Ma'am,« entgegnete eine sanfte Stimme. »Es war weiter nichts, als die Eingebung des Augenblicks.«
»Eingebung?« wiederholte Miß Monflathers verächtlich. »Es nimmt mich Wunder, wie Sie zu der Anmaßung kommen, gegen mich von Eingebungen zu sprechen« – beide Lehrerinnen nickten ihren Beifall – »ich bin ganz erstaunt« – beide Lehrerinnen waren es gleichfalls – »ich glaube, es ist auch eine Eingebung, welche Sie veranlaßt, für jede gemeine und niedrige Person, die Ihnen in den Weg kommt, Partei zu nehmen« – die beiden Lehrerinnen glaubten dasselbe.
»Ich muß Ihnen aber kund thun. Miß Edwards,« fuhr die Vorsteherin mit erhöhter Strenge fort, »daß es Ihnen nicht gestattet ist und – wäre es auch nur um des Beispiels und um der Ehre der Anstalt willen – nicht gestattet sein kann, daher auch nicht gestattet werden soll. Ihren Vorgesetzten in dieser derben Weise Trotz zu bieten. Wenn Sie keinen Grund haben, einen gebührenden Stolz gegen Wachsfigurencabinetkinder zu empfinden, so sind doch junge Damen hier, bei welchen dieß der Fall ist, und Sie müssen sich nach diesen jungen Damen richten oder das Institut verlassen. Miß Edwards.«
Miß Edwards war ein armes, mutterloses Mädchen und befand sich in der Anstalt, wo sie Unterricht erhielt, für Nichts – Andere lehrte, was sie gelernt hatte, für Nichts – verköstigt und beherbergt wurde, für Nichts – und in den Augen aller Insassen des Hauses für unendlich weniger galt, als für Nichts. Die Dienstboten fühlten ihre Ueberlegenheit, denn sie wurden besser behandelt, konnten nach Gutdünken kommen und gehen und genossen einer weit achtbareren Stellung. Die Lehrerinnen standen ohnehin unendlich höher, denn sie hatten seiner Zeit ihre Pensionsgelder bezahlt und wurden jetzt selbst bezahlt. Die Zöglinge kümmerten sich wenig um eine Gefährtin, die Nichts hatte – keine großartigen Geschichten von ihrer Heimath – keine Freunde, die mit Postpferden anfuhren und von der Vorsteherin mit aller Ergebenheit und einem mit Wein und Kuchen besetzten Tisch empfangen wurden – keine unterwürfige Dienerin, welche sie zur Zeit der Ferien nach Hause begleitete – durchaus nichts Gentiles, wovon sie sprechen oder was sie zur Schau stellen konnte. Warum war aber Miß Monflathers immer gereizt und ärgerlich über die arme Schülerin – wie mochte das kommen?
Je nun, die prunkvollste Feder auf Miß Monflathers Hut und der größte Stolz von Miß Monflathers Anstalt war die Tochter eines Baronets – die wirkliche leibhaftige Tochter eines wirklichen leibhaftigen Baronets – die in Folge irgend einer außerordentlichen Verkehrtheit der Naturgesetze nicht nur ein sehr plattes Gesicht, sondern auch einen sehr platten Verstand besaß, während die arme Schülerin sowohl mit einem hellen Geist, als auch mit einem hübschen Gesichte und Aeußeren ausgestattet war. Es scheint unglaublich. Da war denn Miß Edwards, welche nur eine kleine, längst verbrauchte Prämie eingezahlt hatte, und jeden Tag die Baronetstochter ausstach und übertraf, während Letztere doch alle Extralehrgegenstände lernte (oder doch wenigstens Unterricht darin erhielt), und eine Halbjahrsrechnung in dem Betrage von zwei jungen Damen der Anstalt auflaufen ließ, der Ehre und des Rufes gar nicht zu gedenken, welche dem Institute durch einen solchen Zögling erwuchsen. Daher und von ihrer Abhängigkeit stammte Miß Monflathers Widerwillen gegen Miß Edwards; deßhalb behandelte sie dieselbe so verächtlich, deßhalb schmälte sie ohne Unterlaß gegen die Arme, und deßhalb fiel sie buchstäblich über dieselbe in der angedeuteten böswilligen Weise her, obgleich sie sich nur ein wenig Mitleid gegen die kleine Nell hatte zu Schulden kommen lassen.
»Sie werden heute nicht spazieren gehen. Miß Edwards,« sagte Miß Monflathers. »Haben Sie die Güte, sich auf Ihr Zimmer zu begeben und dasselbe nicht ohne Erlaubniß zu verlassen.«
Das arme Mädchen eilte fort, wurde aber plötzlich durch einen unterdrückten Ausruf der Miß Monflathers wieder zum Stehen gebracht.
»Sie ist an mir vorbeigegangen, ohne mir das Compliment zu machen!« rief die Vorsteherin, ihre Augen zum Himmel erhebend. »In der That, sie ging an mir vorbei, ohne dergleichen zu thun, als ob ich anwesend wäre!«
Das Mädchen wandte sich um und verbeugte sich. Nell konnte sehen, daß sie ihre dunkeln Augen zu dem Gesichte ihrer Vorgesetzten erhob, und daß der Ausdruck derselben, wie auch ihre ganze Haltung eine stumme, aber höchst rührende Appellation gegen diese unedle Behandlung an den Tag legte. Miß Monflathers schüttelte jedoch nur den Kopf zur Erwiederung und das große Thor schloß sich hinter einem übervollen Herzen.
»Was dich anbelangt, du gottloses Kind,« sagte Miß Monflathers zu Nell, »so kannst du deiner Gebieterin sagen, wenn sie sich unterfängt, dich noch einmal herzuschicken, so werde ich an die Behörden schreiben, daß sie in den Stock gespannt wird oder im weißen Hemde Kirchenbuße thun muß. Und Du magst dich darauf verlassen, daß du in der Tretmühle spazieren gehen darfst, wenn du wieder herkömmst.«
Die Procession zog zwei und zwei, mit Büchern und Sonnenschirmen, vorbei, und Miß Monflathers rief, um ihre aufgeregten Gefühle zu besänftigen, die Tochter des Baronets zum Spaziergang an ihre Seite, die beiden Lehrerinnen entlassend, die, statt Blicke der Theilnahme zu äußern, nur gelächelt hatten, indem sie denselben auftrug, den Nachtrab zu bilden, und es ihnen dabei überließ, sich ein Bischen mehr zu hassen, weil sie jetzt mit einander gehen mußten.