Der Raritätenladen. Neunundzwanzigstes Kapitel
Madame Jarley hatte ohne Frage einen erfinderischen Geist. Inmitten der verschiedenen Kunstgriffe, um Besuche für die Ausstellung anzulocken, blieb die kleine Nell nicht vergessen. Der leichte Karren, auf welchem der Räuber gewöhnlich seine Spazierfahrt durch die Stadt machte, war heiter mit Flaggen und Fahnen verziert, und der Räuber stand darin, wie immer das Miniaturbild seiner Geliebten betrachtend, während Nell mit künstlichen Blumen geschmückt, an seiner Seite saß; und in diesem ceremoniösen Aufzuge fuhr sie jeden Morgen durch die Stadt, unter Trommeln und Trompetenklang die Zettel aus einem Körbchen vertheilend. Die Schönheit des Kindes, gepaart mit ihrer zarten und schüchternen Haltung, erregte an dem Orte kein kleines Aufsehen. Der Räuber, welcher bisher die Quelle des ausschließlichen Interesses für die Straßen gewesen war, wurde zu einem Gegenstande von bloß secundärer Bedeutung, der nur dadurch Wichtigkeit erhielt, daß er einen Theil der Ausstellung bildete, für welche das Mädchen der kräftigste Magnet war.
Erwachsene Leute begannen sich für die helläugige Kleine zu interessiren; und etliche Dutzend Knaben verzweifelten in Liebesschmachten, ihre Gefühle durch Packete von Nüssen und Aepfeln an den Tag legend, welche sie beständig mit einer kleinen Adresse an der Thüre des Wachsfigurencabinets niederlegten.
Dieser wünschenswerthe Eindruck ging an Madame Jarley nicht verloren, welche bald, damit Nell nicht zu wohlfeil werde, den Räuber wieder allein ausschickte und die Erstere in ihrem Ausstellungssaale behielt, wo sie alle halbe Stunden die Figuren zur großen Zufriedenheit des bewundernden Publikums erklärte.
Und dieses Publikum war durchaus kein Geringes, denn es umfaßte auch eine große Menge junger Damen aus den Erziehungsinstituten, deren Gunst sich zu verschaffen Madame Jarley alle Mühe aufgeboten hatte, indem sie das Gesicht und das Costüme des Herrn Grimaldi als Clown so weit veränderte, daß er den Herrn Lindley Murray in einer Attitüde darstellte, wie er eben seine englische Grammatik abfaßt, und eine Mörderin von großem Renomee in Mistreß Hanna Moore umwandelte. Miß Monflathers, die an der Spitze der Hauptanstalt dieser guten Stadt stand, hatte die Aehnlichkeit der beiden Abbilder anerkannt und sich herabgelassen, mit acht auserwählten jungen Damen die Ausstellung privatim zu besuchen und über die außerordentliche Correctheit der Nachbildungen ganz außer sich zu sein. Herr Pitt in einer Nachtmütze, einem Schlafrock und ohne Stiefel, stellte mit außerordentlicher Genauigkeit den Dichter Cowper dar; und die Königin Maria von Schottland war in einem Männeranzuge, in einer schwarzen Perücke und einem weißen Hemdkragen ein so vollendetes Ebenbild des Lord Byron, daß die jungen Damen bei dem Anblick laut aufschrieen. Miß Monflathers tadelte jedoch diesen Enthusiasmus und benützte die Gelegenheit, Madame Jarley einen Verweis zu ertheilen, daß sie bei ihrer Sammlung keine strengere Auswahl treffe, indem sie bemerkte, seine Lordschaft habe gewisse freie Ansichten gehegt, welche sich mit der Ehre eines Wachsfigurencabinets nicht vertrügen, und noch einiges über Dechant und Kapitel beifügte, was Madame Jarley nicht verstand.
Obgleich Nell von ihren Obliegenheiten hinreichend in Anspruch genommen wurde, so fand sie doch in der Besitzerin des Wachsfigurencabinets eine sehr freundliche und rücksichtsvolle Frau, der es nicht bloß um ihre eigene Gemächlichkeit zu thun war, sondern die auch wünschte, daß sich ihre ganze Umgebung behaglich fühle; und wir bemerken nebenbei, daß das letztere sogar bei Personen, die an viel schöneren Orten als in Caravanen leben, eine weit seltenere und ungewöhnlichere Erscheinung ist, als das erstere, und keineswegs als dessen nothwendige Folge betrachtet werden kann. Die Popularität unserer jungen Freundin brachte ihr von den Besuchern des Cabinets unterschiedliche kleine Gaben ein, von welchen ihre Gönnerin nie einen Abtrag verlangte, und da ihr Großvater gleichfalls gut behandelt und als brauchbar erfunden wurde, so hatte sie keine Ursache, die Uebernahme ihres neuen Geschäftes zu bereuen, welches ihr auch nur durch die Rückerinnerung an Quilp und durch die Furcht getrübt wurde, er möchte wieder zurückkehren und ihnen einen Tags plötzlich in den Weg treten.
Quilp war in der That ein perpetuirlicher Alp für die Kleine, denn sein häßliches Gesicht und seine verkrümmte Gestalt schwebten ihr unablässig vor der Seele. Um der größeren Sicherheit willen schlief sie in dem Saale, wo die Wachsfiguren standen, obgleich sie selbst hier, wenn sie ihr Nachtlager aussuchte, sich der quälendsten Beklemmung nicht erwehren konnte, indem sie sich in einem oder dem andern jener todtengleichen Gesichter eine Aehnlichkeit mit dem Zwerg vorstellte, und diese Einbildung wurde bisweilen so übermächtig, daß sie fast glaubte, er habe die Figur entfernt und sich in ihre Kleider gesteckt. Dann waren es ihrer so viele mit großen Glasaugen – und wie sie so, eine hinter der andern, um ihr Bett herstanden, da sahen sie alle lebenden Wesen so ähnlich, und doch wieder so unähnlich in ihrem grauenhaften, starren Schweigen, daß sie um der Figuren selbst willen sich entsetzte und oft dalag, die dunkeln Gestalten betrachtend, bis sie es nicht mehr länger auszuhalten vermochte, sondern aufstehen und Licht machen, oder an das offene Fenster sitzen mußte, um wenigstens in den glänzenden Sternen Gesellschaft zu finden. Zu solchen Zeiten kam ihr oft das alte Haus und das Fenster, an dem sie allein zu sitzen pflegte, in das Gedächtniß; und dann dachte sie auch wohl an den armen Kit und an alle seine Freundlichkeit, bis ihr die Thränen in die Augen traten und ein sanftes Lächeln sich mit ihrer Wehmuth mischte.
In solchen Stunden nächtlichen Schweigens kehrten ihre Gedanken oft und ängstlich zu ihrem Großvater zurück, und sie hätte wohl wissen mögen, in wie weit er sich ihres früheren Lebens erinnere und ob er je den Wechsel ihrer Lage und ihrer kürzlichen Hülflosigkeit in vollem Umfange gefühlt habe. Während ihres Wanderzugs hatte sie selten hieran gedacht, aber jetzt konnte sie sich der Betrachtung nicht erwehren, was wohl aus ihnen werden mußte, wenn er krank wurde oder ihr selbst die Kräfte versagten. Er war sehr geduldig und willig, fühlte sich glücklich in der Ausführung jedes kleines Geschäftes und war froh, daß er sich nützlich machen konnte; aber stets blieb er in demselben theilnahmlosen Zustande, ohne daß es den Anschein hatte, als ob es je besser mit ihm werden würde – kurz, er war ein bloßes Kind – ein armes, gedankenloses, an nichts theilnehmendes Wesen – ein harmloser, thörichter alter Mann, in dem nur die zärtliche Liebe und Aufmerksamkeit für seine Enkelin lebte, – empfänglich für angenehme und schmerzliche Eindrücke, aber sonst todt für Alles. Diese Ueberzeugung war sehr schmerzlich für sie, und es erfüllte sie mit Trauer, sehen zu müssen, wie er zuweilen müssig neben ihr saß, lächelnd und ihr zunickend, wenn sie sich umsah, oder wenn er irgend ein kleines Kind liebkoste und auf- und abführte, was er oft stundenlang zu thun pflegte, verwirrt durch die einfachen Fragen des kleinen Gefährten und doch so geduldig in seiner Schwäche, deren er sich beinahe bewußt zu sein schien, denn er demüthigte sich sogar vor dem Geiste eines Kindes – dies mit ansehen zu müssen, erfüllte sie mit solcher Trauer, daß sie oft in Thränen ausbrach, sich in irgend einen Winkel zurückzog und auf die Knie niederfiel, um für seine Wiederherstellung zu beten.
Aber ihr bitterster Schmerz bestand nicht gerade in diesem Anblick, denn er war dann wenigstens zufrieden und ruhig – auch nicht in ihren einsamen Betrachtungen über seinen veränderten Zustand, obgleich sie eine schwere Heimsuchung für ein so junges Herz war. Es sollten noch weit tiefere und schwerer Leiden kommen.
Eines Abends, nachdem sie nichts mehr zu thun hatten, ging Nell mit ihrem Großvater spazieren. Sie hatten mehrere Tage lang das Haus nicht mehr verlassen können, und da das Wetter warm war, so streiften sie weit umher. Vor der Stadt draußen schlugen sie einen Fußpfad ein, der durch liebliche Felder führte, in der Hoffnung, er werde wieder in die Straße einbiegen, welche sie verlassen hatten, und ihnen auf diesem Wege die Heimkehr möglich machen. Er machte jedoch einen viel weitern Bogen, als sie vorausgesetzt hatten, weßhalb sie sich verlocken ließen, bis Sonnenuntergang weiter zu gehen, und da sie um diese Zeit den Weg, welchen sie suchten, gefunden hatten, so machten sie Halt, um auszuruhen.
Der Himmel hatte sich allmälig umwölkt und war nun schwarz und drohend, die Richtung ausgenommen, wo die scheidende Sonne in voller Glorie Massen von Gold und glühendem Feuer aufthürmte, dessen glimmende Asche hie und da durch den schwarzen Schleier brach und ihren röthlichen Schein auf die Erde hinunter warf. Der Wind begann in hohlem Gemurmel zu stöhnen, als die Sonne hinunterging, um den heitern Tag anderswo hinzutragen, und an ihre Stelle traten Schaaren finsterer Wolken, die mit Blitz und Donner drohten. Bereits fielen große Regentropfen und das vorwärts segelnde Wettergewölke zog andere Massen in den Raum, den sie eben verlassen hatten, und verbreitete sich über das ganze Firmament. Man hörte das dumpfe Rollen fernen Donners, dann zuckten Blitzstrahlen auf, und endlich schien das Düster einer Stunde sich in einen Augenblick zusammengeballt zu haben.
Da die beiden Spaziergänger Anstand nahmen, unter einem Baum oder einer Hecke Schutz zu suchen, so eilten sie auf der Landstraße fort, in der Hoffnung, ein Haus zu finden, das ihnen ein Obdach böte gegen das Gewitter, welches jetzt mit Macht losbrach und in jedem Augenblicke an Ungestüm zunahm. Durchnäßt von den Regengüssen, betäubt durch den ohrzerreißenden Donner, und verwirrt durch das Leuchten der zackigen Blitze, wären sie wahrscheinlich an einem einzelstehenden Hause vorüber gegangen, ohne dessen zu gewahren, wenn nicht ein an der Thüre stehender Mann ihnen zugerufen hätte, daß sie eintreten sollten.
»Eure Augen sollten jedenfalls besser sein als die anderer Leute, wenn Ihr Euch so wenig aus der Gefahr macht, durch den Blitz geblendet zu werden,« sagte er, indem er von der Thüre zurücktrat und bei dem Aufzucken eines neuen Blitzstrahls mit der Hand die Augen beschattete.
»Warum wolltet Ihr Vorbeigehen, he?« fügte er bei, als er die Thüre zugemacht hatte und über die Hausflur nach einem Hinterzimmer voranging.
»Wir sahen das Haus nicht, bis wir Sie rufen hörten,« versetzte Nell.
»Nimmt mich nicht Wunder,« entgegnete der alte Mann, »zumal bei einem solchen Blitzen. Nun, Ihr werdet gut thun, an das Feuer zu treten und Euch ein wenig zu trocknen. Braucht Ihr etwas, so könnt Ihr ja rufen. Und wenn Ihr nichts braucht, so dürft Ihr keinen Anstand nehmen, es zu sagen. Dieß hier ist ein Wirthshaus, weiter nichts. ›Der tapfere Soldat‹, steht bei der ganzen Gegend in gutem Ansehen.«
»Heißt dies Haus ›der tapfere Soldat‹, Sir?« fragte Nell.
»Ich hätte geglaubt, Jedermann wüßte dieß,« erwiederte der Wirth. »Wo kommt Ihr her, wenn Ihr ›den tapferen Soldaten‹ nicht so gut kennt, als Euren Katechismus? Dieß ist der tapfere Soldat von James Groves – Jem Groves – der ehrliche Jem Groves, ein Mann von unbeflecktem, moralischem Charakter und Besitzer von einer guten, trockenen Kegelbahn. Hat Jemand etwas gegen Jem Groves zu sagen, so soll er es Jem Groves in's Gesicht sagen, und Jem Groves kann ihn jedenfalls mit einem Kunden bedienen, auf den man unter allen Umständen vierzig Pfund gegen vier wetten darf.
Mit diesen Worten klopfte sich der Sprecher auf die Weste, um damit anzudeuten, daß er der so hoch gepriesene Jem Groves sei, boxte dann wissenschaftlich auf ein Porträt des Jem Groves los, welches seinerseits aus einem schwarzen Rahmen über dem Kamingesims auf die Gesellschaft im Allgemeinen herunterboxte, und trank schließlich, ein halbvolles Glas Grog an seine Lippen setzend, Jem Groves Gesundheit.
Da der Abend schwül war, so war ein großer Schirm als Barriere gegen die Hitze des Feuers durch die Stube gezogen. Es schien, als ob Jemand auf der andern Seite dieses Schirmes über Herrn Groves' Bravour Zweifel geäußert und dadurch Anlaß zu diesen egoistischen Ergießungen gegeben hätte, denn Herr Groves bekräftigte seine Herausforderung, indem er mit seinen Knöcheln kräftig gegen die spanische Wand schlug und sodann inne hielt, als erwarte er von der andern Seite eine Antwort.
»Es gibt nicht viele Leute,« sagte Herr Groves, als die Antwort ausblieb, »die es wagen dürften, Jem Groves unter seinem eigenen Dache in den Weg zu treten. Ich kenne nur einen einzigen Mann, der die Kraft dazu hat, und der noch obendrein keine hundert Meilen von hier entfernt ist. Aber er ist ein ganzes Dutzend werth, und er mag daher von mir sagen, was er will, – das weiß er.«
Als Erwiederung auf die schmeichelhafte Anrede ertönte eine sehr rauhe und heisere Stimme, welche Herrn Groves befahl, »sein Maul zu halten und ein Licht anzuzünden.« Zugleich bemerkte auch dieselbe Stimme, der genannte Herr »habe gar nicht nöthig, seinen Athem mit Renommiren zu erschöpfen, denn die meisten Leute wüßten recht wohl, aus welchem Teige er gebacken sei.«
»Nell, sie – sie spielen Karten,« flüsterte der alte Mann, der sich plötzlich für Alles interessirte. »Hörst du es nicht?«
»Sorge für Licht,« fuhr die Stimme fort: »es ist so dunkel, daß man nur mit knapper Noth die Augen auf den Karten unterscheiden kann; und schließe, so schnell du kannst, den Laden – willst du? Dein Bier wird vermuthlich wegen des Donnerwetters auch schlechter werden. – Gewonnen! Sieben Shillinge und sechs Pence an mich, alter Isaac. Herüber damit!«
»Hörst du, Nell – hörst du sie?« flüsterte der alte Mann abermals, und zwar noch angelegentlicher, als er das Geld auf dem Tische klingen hörte.
»Hab' ich doch nicht erlebt ein solches Unwetter,« sagte eine scharfe, schrille und höchst unangenehme Stimme, als ein fürchterliches Donnergekrache verhallt war, »seit der Nacht, wo der alte Luke Withers dreizehn Mal hinter einander gewann auf dem Rothen. Wir haben gesagt alle, daß in ihm steckt des Teufels Glück und sein eigenes! und 's ist gewesen eine Art Nacht für den Teufel zum Ausgehen und Massematten zu machen, und ich denke, er hat ihm geschaut über die Schulter, nur hat man ihn nicht können sehen.«
»Ah!« entgegnete die rauhe Stimme; »trotz allen Gewinnes des alten Luke durch Dick und Dünn in den letzten Jahren, erinnere ich mich doch noch der Zeit, wo ihm das Glück übel genug mitspielte. Er konnte nie einen Würfelbecher oder eine Karte in die Hand nehmen, ohne gerupft, geplündert und rein ausgezogen zu werden.«
»Hörst du, was er sagt, Nell?« flüsterte der alte Mann, – »hörst du das, Nell?«
Das Kind sah mit Staunen und Bestürzung das ganze Aeußere des Großvaters, das eine volle Umwandelung erlitten hatte. Sein Gesicht glühte vor Begier, seine Augen leuchteten, seine Zähne waren auf einander gepreßt, sein Athem ging kurz und schwer, und seine Hand, die er auf ihren Arm gelegt hatte, zitterte so heftig, daß Nelly unter ihrem Drucke zusammenbebte.
»Du bist mein Zeuge,« flüsterte er, zum Himmel sehend, »daß ich immer so sagte, daß ich es wußte, davon träumte, diese Wahrheit fühlte und daß es so sein muß! Wie viel Geld haben wir, Nell? Nun, ich habe ja gestern Geld bei dir gesehen. Wie viel Geld haben wir? gieb es her.«
»Nein, nein, lassen Sie mich's behalten, Großvater«, sagte das Kind erschrocken. »Wir wollen fortgehen von hier. Kehren wir uns nicht an den Regen. Bitte lassen Sie uns gehen.«
»Gib es her, sage ich,« entgegnete der alte Mann ungestüm. »B'st, b'st, du mußt nicht weinen, Nell. Wenn ich dich hart angelassen habe, meine Liebe, so hab' ich's nicht so bös gemeint. Es geschieht zu deinem Besten. Ich habe dir Unrecht gethan, Nell, aber es soll noch gut gemacht werden; ja, ich will es wieder gut machen. Wo ist das Geld?«
»Nehmen Sie mir's nicht,« versetzte das Kind; »bitte, nehmen Sie mir es nicht, lieber Großvater. Um unserer Beider willen, lassen Sie mich's behalten, oder lasten Sie mich's wegwerfen. – Es liegt besser auf der Straße, als daß Sie es jetzt nehmen. Kommen Sie, lassen Sie uns gehen.«
»Gieb mir das Geld,« entgegnete der alte Mann; »ich muß es haben. So – so – du bist meine gute Nell. Ich will's eines Tages wieder gut machen, Kind. Fürchte nicht – ich will's wieder gut machen!«
Sie zog ein Beutelchen aus der Tasche. Er griff mit derselben stürmischen Ungeduld darnach, welche sich bereits in seinen Worten ausgesprochen hatte, und eilte auf die andere Seite des Schirms. Es war unmöglich, ihn zurückzuhalten, und das Kind folgte ihm zitternd auf der Ferse.
Der Wirth hatte ein Licht auf den Tisch gestellt und war eben damit beschäftigt, den Fenstervorhang niederzulassen. Die Personen, welche man sprechen gehört hatte, waren zwei Männer, zwischen denen ein Spiel Karten und einiges Silbergeld lag, während die gespielten Partien mit Kreide an der spanischen Wand ausgezeichnet waren. Der Mann mit rauher Stimme war ein gedunsener Kerl von mittleren Jahren, mit starkem, schwarzem Ohrenbarte, breiten Backen, einem groben, weiten Mund und einem Stierhalse, den er ziemlich offen zur Schau trug, da sein Hemdkragen nur durch eine lose, strickartige rothe Halsbinde zusammengehalten wurde. Er hatte einen bräunlich weißen Hut auf, und neben ihm lehnte ein dicker Knotenstock. Der Andere, welchen sein Camerad Isaac genannt hatte, war eine etwas schmächtige Figur, gebeugt und hochschulterig, mit einem unheimlichen Gesichte und einem höchst bösartigen und schuftigen Schielen.
»Nun, alter Herr,« sagte Isaac, sich umsehend, »kennen Sie Einen von uns? Diese Seite des Schirms ist privat, Sir.«
»Ich hoffe, doch Niemand zu beleidigen?« versetzte der alte Mann.
»Mein Seel, Sir, freilich ist's eine Beleidigung,« entgegnete der Andere, dem Alten in's Wort fallend, »wenn man sich eindrängt bei ein paar Herrn, die für sich sind beschäftigt.«
»Wenigstens war es nicht meine Absicht,« entgegnete der alte Mann; »ich meinte, daß –«
»Aber Sie haben kein Recht zu meinen, Sir,« entgegnete der Andere. »Was zum Teufel hat ein Mann von ihrem Lebensalter zu schaffen mit Meinen?«
»Nun, du Polterer,« sagte der stämmige Mann, der jetzt zum erstenmal von seinen Karten aufsah, »kannst du ihn nicht ausreden lassen?«
Der Wirth, welcher augenscheinlich den Entschluß gefaßt hatte, neutral zu bleiben, bis er wußte, für welche Partei sich der stämmige Mann erklärte, pflichtete jetzt bei und meinte:
»Ha, natürlich – könnt Ihr ihn nicht ausreden lassen, Isaac?«
»Ob ich ihn kann lassen ausreden?« höhnte Isaac, indem er mit seiner schrillen Stimme so gut als möglich die Töne des Wirths nachahmte. »Ja, ich kann ihn ausreden lassen, Jemmy Groves.«
»Wohlan denn, so thut es – wollt Ihr?« sagte der Wirth.
Herrn List's Schielen nahm einen bedeutungsvollen Charakter an, der mit einer Verlängerung dieses Streites zu drohen schien, als sein Kamerad, der den alten Mann scharf beobachtet hatte, in Zeiten Einsprache that.
»Wer weiß,« sagte er mit einem verschmitzten Blicke; »aber vielleicht wollte der alte Herr nur höflich anfragen, ob er nicht die Ehre haben könne, eine Partie mit uns zu machen?«
»Ja, das wollte ich,« rief der alte Mann; »und das will ich auch jetzt noch.«
»Dacht' ich's ja,« entgegnete der vorige Sprecher. »Nun, wer weiß: aber der Herr wird sich wohl denken können, daß wir nicht umsonst spielen wollen, und ersucht uns daher höflich, mit ihm um Geld zu spielen?
Der alte Mann antwortete nur damit, daß er in der bebenden Hand das kleine Beutelchen schüttelte und es dann auf den Tisch warf; und nun griff er nach den Karten mit der Gier eines Geizhalses, wenn er nach Gold langt.
»Ah! in der That –« sagte Isaac; »wenn der Herr das wollte, so bitte ich den Herrn um Verzeihung. Ist dies des Herrn Beutelchen? Ein sehr nettes, kleines Beutelchen. Vielleicht etwas leicht,« fügte Isaac bei, indem er es in die Luft warf und gewandt wieder auffing. »Aber doch wird's zureichen, einen Herrn zu unterhalten für eine halbe Stunde oder so was.«
»Wir wollen eine Partie zu Vieren machen und den Groves beiziehen,« sagte der stämmige Mann. »Komm Jemy.«
Der Wirth, der sich in einer Weise benahm, als sei er an solche kleine Partien gewöhnt, näherte sich dem Tische und nahm Platz. Das Kind zog jedoch in wahrer Todesangst seinen Großvater bei Seite und flehte ihn selbst jetzt noch an, mit fortzugehen.
»Kommen Sie, und wir können so glücklich sein,« sagte das Kind.
»Wir wollen glücklich sein,« versetzte der alte Mann hastig. »Laß mich gehen, Nell. Der Weg zum Glück liegt in den Karten und in dem Würfelbecher. Wir müssen uns von kleinen Gewinnen zu großen erheben. Hier wird's nur wenig zu gewinnen geben, aber das Größere kömmt mit der Zeit nach. Ich werde nur mein Eigenthum zurückgewinnen – und zwar einzig für dich, mein Herz.«
»Gott steh' uns bei!« rief das Kind. »Ach, welch' ein hartes Geschick mußte uns hieher führen!«
»Bst!« entgegnete der alte Mann, indem er seine Hand auf den Mund des Mädchens legte; »das Glück läßt sich nicht schelten. Wir dürfen ihm keinen Vorwurf machen, sonst scheut es uns – so viel habe ich schon ausfindig gemacht.«
»Nun, Herr,« sagte der stämmige Mann; »wenn Sie nicht selbst kommen wollen, so geben Sie uns wenigstens die Karten – wollen Sie?«
»Ich komme schon,« rief der alte Mann. »Setz' dich, Nell; fetz' dich nieder und sieh' zu. Sei guten Muths, es ist Alles für dich – Alles – jeder Penny. Ich sage es ihnen nicht; nein, nein, sonst würden sie nicht spielen – sie würden das Glück fürchten, das mir eine solche Sache geben muß. Betrachte sie nur. Sieh', wer sie sind, und wer du bist. Wer kann da zweifeln, daß wir gewinnen müssen?«
»Der Herr hat sich besonnen eines Bessern, und kommt nicht,« sagte Isaac, indem er that, als wollte er von dem Tische aufstehen. »Es thut mir leid, wenn sich der Herr hat einschüchtern lassen – natürlich, wer nichts wagt, gewinnt nichts – aber der Herr muß es wissen am besten.«
»Nun, ich bin bereit. Ihr Alle seid langsam gewesen, nur ich nicht,« versetzte der alte Mann. »Ich möchte doch auch wissen, wer gespannter auf den Anfang wäre, als ich.« Mit diesen Worten zog er einen Stuhl an den Tisch, die andern Drei schlossen sich zu gleicher Zeit an und das Spiel begann.
Nell saß daneben und schaute mit geängstigtem Herzen zu. Ohne auf den Lauf des Glückes zu achten und nur die verzweifelte Leidenschaft, die sich ihres Großvaters bemächtigt hatte, in's Auge fassend, waren ihr Gewinn oder Verlust ganz gleichviel. Das eine Mal über einen kurzen Triumph frohlockend, das andere Mal durch ein Fehlschlagen niedergedrückt, saß er da – so verwirrt und ruhelos, so fiebrig und voll ängstlicher Spannung, so furchtbar hastig, so gierig auf die armseligen Einsätze, daß sie es fast leichter ertragen haben würde, ihn todt zu sehen. Und doch war sie die unschuldige Ursache dieser ganzen Folter, und er, der mit einem so wüthenden Durst nach Gewinn spielte, wie ihn der unersättlichste Spieler nie empfunden, hatte nicht einen einzigen selbstsüchtigen Gedanken!
Dagegen waren die andern Drei – Schurken und Spieler von Gewerbe – trotz ihrer gespannten Aufmerksamkeit auf das Spiel, so kaltblütig und ruhig, als ob der Inbegriff aller Tugenden in ihrer Brust wohnte. Hin und wieder blickte Einer derselben auf, um den Andern zuzulächeln, das matte Kerzenlicht zu schneuzen, nach dem Blitz zu schauen, wenn sein Leuchten durch das offene Fenster und die flatternden Vorhänge schoß, oder allenfalls auf einen besonders heftigen Donnerschlag zu horchen, und zwar in einer Weise, als sei er ärgerlich über diese Störung der Unterhaltung. Sonst aber saßen sie da mit einer ruhigen Gleichgültigkeit gegen Alles, ihre Karten ausgenommen, dem Anschein auch vollkommene Philosophen, und ebenso wenig Leidenschaftlichkeit oder Aufregung an den Tag legend, als wären sie aus Stein gehauen.
Das Gewitter hatte volle drei Stunden getobt, der Blitz war schwächer und seltener geworden; der Donner der früher gerade über ihren Häuptern zu rollen und zu krachen schien, hatte sich allmälig in einen tiefen, heiseren, entfernteren Ton verloren; und noch immer ging das Spiel fort, und noch immer blieb das geängstigte Kind vergessen.