»Zum Teufel! Bell! rief der Doctor abwehrend, Bell aber frottirte ihn nach besten Kräften weiter.
– Aber, Bell, begann der Doctor wieder, Mund, Augen und Nase voller Schnee, – sind Sie toll geworden? Was soll das heißen?
– Das heißt, erwiderte Bell, daß, wenn Sie noch eine Nase besitzen, Sie dieselbe mir verdanken.
– Eine Nase! erwiderte bestürzt der Doctor, indem er mit der Hand darnach fühlte.
– Ja wohl, Herr Clawbonny; Sie waren im Begriff, das Gesicht zu erfrieren, und Ihre Nase sah vorhin vollkommen weiß aus. Ohne meine energische Behandlung dürften Sie jetzt wohl dieses Schmuckes, der, wenn auch für die Reise lästig, doch im Allgemeinen nöthig erscheint, beraubt sein.«
Wirklich hätte der Doctor nur wenig später die Nase total erfroren gehabt; jetzt war in Folge der kräftigen Abreibungen Bells der Blutkreislauf in ihr wieder hergestellt und jede Gefahr vorüber.
»Ich danke, Bell, sagte der Doctor, und hoffe, mich revanchiren zu können.
– Dessen bin ich sicher, Herr Clawbonny, und gebe der Himmel, daß wir nie ein größeres Unglück zu beklagen haben!
– Sie spielen auf Simpson an, antwortete der Doctor; der arme Bursche muß viel ausstehen!
– Fürchten Sie für ihn? fragte lebhaft Hatteras.
– Ja, Kapitän, sagte der Doctor.
– Und was fürchten Sie? – Einen heftigen Ausbruch von Scorbut; seine Beine sind schon angeschwollen und das Zahnfleisch wird dick; der Bedauernswerthe liegt halb erfroren auf dem Schlitten, und jeden Augenblick erneuern die Stöße seine Schmerzen. Ich bedaure ihn herzlich, Hatteras, aber ich vermag Nichts zu seiner Erleichterung zu thun!
– Armer Simpson! murmelte Bell.
– Vielleicht könnten wir ein bis zwei Tage Halt machen, meinte der Doctor.
– Halt machen! versetzte Hatteras, wo das Leben von achtzehn Menschen von unserer rechtzeitigen Rückkehr abhängt!
– Indessen ... fiel der Doctor ein.
– Clawbonny, Bell, erwiderte Hatteras, hören Sie mich an. Nicht mehr für zwanzig Tage haben wir Lebensmittel. Können wir unter diesen Umständen einen Augenblick verlieren?«
Weder der Doctor, noch Bell vermochten ein Wort zu erwidern, und so setzte der Schlitten nach nur kurzer Unterbrechung seinen Weg fort.
Am Abend hielt man am Fuße eines kleinen Eishügels Rast, aus welchem Bell schnell eine Höhlung herausarbeitete, in welcher die Reisenden sich bargen. Der Doctor wachte die Nacht über bei Simpson. Der Scorbut ergriff den Unglücklichen mit voller Heftigkeit, und seine Leiden preßten ihm fortwährende Klagelaute durch die geschwollenen Lippen.
»Ach, Herr Clawbonny!
– Muth, Muth, mein Junge! sagte der Doctor.
– Ich komme nicht wieder mit zurück; ich fühle es, denn ich ertrage das nicht länger. Ich möchte lieber sterben!«
Seinen verzweifelten Klagen begegnete der Doctor mit verdoppelter Sorge; obgleich selbst angegriffen von den Mühsalen des Tages, bereitete er dem Kranken doch in der Nacht mehrere beruhigende Getränke; aber auch der Citronensaft war ohne alle Wirkung und trotz aller Einreibung breiteten sich die scorbutischen Erscheinungen mehr und mehr aus.
Den folgenden Morgen mußte der Arme wieder auf den Schlitten gebracht werden, trotz seiner Bitten, ihn allein zurück, und in Frieden sterben zu lassen. – Dann nahm man den abscheulichen Weg mitten durch immer wachsende Hemmnisse wieder auf.
Die eisigen Nebel durchkälteten die drei Männer bis auf die Knochen; Schnee und Graupeln schlugen ihnen ins Gesicht; sie dienten mit als Saumthiere und hatten nicht einmal ausreichende Nahrung.
Duk, der seinem Herrn ähnlich, kam und ging, aller Ermüdung spottend, immer munter, und suchte schon von selbst den besten Weg auszuspüren, so daß man sich auf seinen wunderbaren Instinct völlig verließ.
Am Morgen des 23. Januar, bei fast völliger Finsterniß, denn es war Neumond, war Duk wie gewöhnlich voraus. Aber Stunden vergingen, bevor er wieder sichtbar wurde. Hatteras wurde darüber desto unruhiger, da der Boden zahlreiche Spuren von Bären zeigte; schon war er unschlüssig, welchen Weg er nehmen sollte, als sich ein lautes Bellen vernehmen ließ. Hatteras beschleunigte den Gang des Schlittens und bald fand man auch das treue Thier in der Tiefe eines Hohlwegs.
Duk stand wie versteinert und bellte vor einer Art Cairn, der aus einigen jetzt mit Eis überzogenen kalkigen Steinen errichtet war.
»Dieses Mal ist es aber ein Cairn, sagte der Doctor, wahrend er schon seinen Zugriemen löste, das ist keine Täuschung.
– Und was nützt er uns? fragte Hatteras.
– Wenn es ein Cairn ist, Kapitän, so kann er für uns sehr kostbare documente bergen; vielleicht enthält er Nahrungsmittel, und das lohnte schon allein die Mühe der Untersuchung.
– Und welcher Europäer könnte bis hier hinauf gekommen sein? fragte Hatteras mit Achselzucken.
– Wenn es keine Europäer waren, können es nicht Eskimos gewesen sein, die diese Zuflucht errichteten und darin von der Beute ihres Jagd- oder Fischzugs niederlegten? Sie pflegen es ja, so viel ich weiß, gewöhnlich zu thun.
– Nun gut, überzeugen Sie sich, Clawbonny, sprach Hatteras, aber ich fürchte sehr, Sie werden sich eine vergebliche Mühe machen.«
Clawbonny und Bell begaben sich mit Aexten bewaffnet nach dem Cairn. Duk bellte wüthend weiter. Die Kalksteine waren zwar fest durch Eis verbunden, aber einige Schläge genügten doch, sie loszulösen.
»Da ist sicher Etwas drinnen, sagte der Doctor.
– Ich glaube es nun auch«, war Bells Antwort.
Schnell zerstörten sie das kunstlose Bauwerk. Bald fanden sie eine Höhlung; in dieser lag ein ganz feuchtes Papier. Klopfenden Herzens ergriff es der Doctor. Hatteras kam nun auch hinzu, nahm es und las:
»Altam ..., Porpoise, 13. December 1860. 12° Länge, 8..° 35 Breite ...«
– Der »Porpoise!« sagte der Doctor.
– Der »Porpoise!« wiederholte Hatteras. Ich kenne kein Schiff dieses Namens, das diese Meere beführe.
– Es ist klar, erwiderte der Doctor, daß Seefahrer, vielleicht Schiffbrüchige, vor weniger als zwei Monaten hier gewesen sind.
– Ganz ohne Zweifel, meinte Bell.
– Was sollen wir thun? fragte der Doctor.