Der Doctor entkleidete den Ausgegrabenen vollständig; er fand keine Wunde an ihm; er und Bell rieben ihn dann mit in Weingeist getauchten Bäuschen ab, und bald wurden Anzeichen des wiederkehrenden Lebens sichtbar. Der Unglückliche war aber in einem Zustande vollständiger Erschöpfung, und der Sprache vollkommen beraubt. Am Gaumen klebte seine Zunge wie angefroren. Der Doctor durchsuchte die Taschen in der Kleidung. Sie waren leer; kein Schriftstück fand sich. Er ließ Bell die Frictionen fortsetzen und wandte sich zu Hatteras. Dieser war indeß in das zerstörte Haus hineingestiegen, hatte den Erdboden sorgsam durchsucht und kam eben mit einem halb verbrannten Briefcouvert in der Hand wieder heraus. Auf diesem Papier waren nur noch lesbar die Worte:
. . . . . tamont
. _;_. . . . . orpoise
w-York
»Altamont! rief der Doctor aus, von dem Schiffe Porpoise! aus New-Jork!
– Ein Amerikaner! sagte Hatteras zusammenfahrend. – Ich rette ihn! sagte der Doctor, ich gebe mein Wort darauf, und wir werden die Lösung dieses schrecklichen Räthsels finden.«
Er kehrte zu Altamont zurück, während Hatteras nachdenklich zurückblieb. Dank seiner Sorgfalt gelang es dem Doctor, den Erstarrten ins Leben zurückzurufen, aber noch nicht zur Empfindung; dieser sah nicht, er hörte nicht, er sprach nicht, doch er lebte!
Am andern Morgen ging Hatteras den Doctor an:
»Es ist Zeit, daß wir aufbrechen, sagte er.
– Gewiß, erwiderte dieser, der Schlitten ist jetzt leicht; wir laden diesen Unglücklichen mit auf und führen ihn zum Schiffe.
– Meinetwegen, sagte Hatteras, aber erst noch die Todten begraben.«
Die beiden unbekannten Matrosen wurden wieder unter die Eistrümmer zurückgebracht, und Simpsons Leiche nahm Altamonts Stelle ein.
Mit einem stillen Gebete nahmen die drei Gefährten von ihrem hingeschiedenen Genossen Abschied, und um sieben Uhr Morgens traten sie den Rückweg nach dem Schiffe an.
Zwei der Zughunde waren verendet. Duk bot sich fast selbst an, mit zu ziehen, und that es mit dem Bewußtsein und der Entschlossenheit eines echten Grönländers.
Während der zwanzig Tage, vom 31. Januar bis 19. Februar, nahm die Rückreise so ziemlich denselben Verlauf, wie die Herreise. Nur bot das Eis im Februar, dem kältesten Monate, überall eine sichere Oberfläche; die Reisenden litten zwar schwer unter der ausnehmenden Kälte, blieben aber doch von Stürmen verschont. Am 31. Januar war auch die Sonne zum ersten Male wieder sichtbar geworden; jeden Tag stieg sie weiter über den Horizont herauf. Bell und der Doctor, fast blind und halb hinkend, waren mit ihren Kräften zur Neige, ja der Zimmermann konnte nur noch auf Krücken gestützt wandern.
Altamont blieb bei Leben, aber in völliger Bewußtlosigkeit. Manchmal fürchtete man für ihn, aber umsichtige Pflege sicherte sein Wiederaufkommen. Und dabei hatte der brave Doctor mit sich selbst genug zu thun, denn seine eigene Gesundheit nahm zusehends ab.
Hatteras dachte an den Forward, an seine Brigg! Wie würde er sie wiederfinden? Was würde an Bord Alles geschehen sein? Wird Johnson dem Shandon und seinem Anhange haben widerstehen können? Ist die Kälte sehr arg gewesen? Sollte man das unglückliche Fahrzeug im Ofen geopfert haben? Waren die Masten und der Schiffsraum noch unversehrt?
Solche Gedanken im Kopfe ging Hatteras jetzt voraus, als hätte er seinen Forward schon aus der Ferne sehen wollen.
Am 24. Februar des Morgens blieb er plötzlich stehen, dreihundert Schritte vor ihm stieg ein röthlicher Schein auf, über den sich eine ungeheure Rauchsäule hinwälzte, die sich in den grauen Nebelmassen des Himmels verlor.
»Was bedeutet dieser Rauch? rief er entsetzt.
Das Herz schlug ihm so heftig, als wollt es brechen.
»Da seht doch! Da unten, den Rauch! sagte er zu seinen zwei Genossen, die ihn nun eingeholt hatten, mein Schiff steht in Flammen! – Aber wir sind noch mehr als drei Meilen davon, meinte Bell, das kann der Forward nicht sein.
– Und doch, er ist es, erwiderte der Doctor, das ist nur Wirkung der Luftspiegelung, der ihn uns so nahe erscheinen läßt.
– Eilen wir schnell!« rief Hatteras, der den beiden Andern vorauslief.
Diese ließen den Schlitten unter Duks Leitung und folgten so schnell sie konnten, dem Kapitän nach.
Eine Stunde später bekamen sie das Fahrzeug in Sicht. O schrecklicher Anblick! Mitten im Eise flammte die Brigg hoch auf; die Lohe ergriff schon die Schiffswände und der Südwind trug das Geprassel bis in Hatteras Ohr.
Fünfhundert Schritte weit von ihnen stand ein einzelner Mensch, der verzweiflungsvoll die Hände rang; er stand still da, ohnmächtig gegenüber der Gluth, die den Forward verzehrte.
Er war allein, und dieser Einzige war der alte treue Johnson.
Hatteras rannte auf ihn zu.
»Mein Schiff! Mein Schiff! fragte er mit erregter Stimme.
– Sie sind es! Kapitän! erwiderte Johnson, halt, halt! Keinen Schritt weiter!
– Nun?! fragte Hatteras mit drohender Stimme.
– Die Schurken alle! sagte Johnson, haben vor achtundvierzig Stunden das Schiff verlassen und es vorher in Brand gesteckt!
– Verflucht!« rief Hatteras.
Dann donnerte eine furchtbare Explosion; die Erde zitterte, die Eisberge sanken nieder auf die Fläche und eine Rauchsäule schoß in die Wolken. Der Forward, dessen Pulverkammer in Brand gerathen war, verschwand in einem Flammenmeere.
In diesem Augenblicke erreichten der Doctor und Bell den Kapitän. Dieser, erst in Verzweiflung gesunken, richtete sich plötzlich auf.
»Meine Freunde, sagte er, die Feiglinge haben die Flucht ergriffen! Die Starken werden siegen! Sie, Bell und Johnson haben den Muth! Doctor, Ihnen gehört das Wissen, und ich, ich habe den Glauben und das Vertrauen! Da unten ist der Nordpol! Ans Werk also! Ans Werk!«
Die Genossen Hatteras erstarkten wieder bei diesen männlichen Worten.
Und doch, die Lage dieser vier Menschen und des Halbtodten war furchtbar – verlassen ohne Hilfsmittel, verloren, allein unter dem 84. Grade nördlicher Breite, tief, tief drinnen in dem Reiche des ewigen Eises!