»Ich weiß noch nicht«, erwiderte Eugen. »Ich werde zu Madame de Beauséant gehen und sie fragen, ob sie mich der Marschallin vorstellen kann.«
Eugen empfand eine innere Freude, sich in seiner neuen Kleidung der Vicomtesse zeigen zu können. Das, was die Moralisten die Abgründe des menschlichen Herzens nennen, sind einzig und allein die trügerischen Gedanken, die unwillkürlichen Regungen der Eigenliebe. Diese plötzlichen Peripetien des Gefühls, der Gegenstand so zahlloser Deklamationen, sind Berechnungen, die man zugunsten seiner Genüsse anstellt. Rastignac, der sich gut gekleidet sah, mit guten Handschuhen und Stiefeln, vergaß seine tugendhaften Entschließungen. Die Jugend wagt es nicht, in den Spiegel des Gewissens zu sehen, wenn sie auf den Weg des Unrechts abbiegt, während das reife Alter sich schon kennt: Darin liegt der ganze Unterschied dieser beiden Phasen des menschlichen Lebens.
Seit einigen Tagen waren die beiden Nachbarn, Eugen und der Vater Goriot, gute Freunde geworden. Dieses heimliche Band hatte die gleichen psychologischen Grundlagen wie der Gegensatz zwischen Vautrin und dem Studenten. Der kühne Philosoph, der sich einmal mit den Wirkungen unserer Gefühle in der physischen Welt beschäftigen wird, dürfte manche Beweise ihres Vorhandenseins in den Beziehungen zwischen Mensch und Tier feststellen. Ein Hund weiß eher, ob ein Unbekannter ihn liebt oder nicht, als der Psychologe einen Charakter deuten kann. Die Anziehungskraft der Atome, diese fast sprichwörtliche Bezeichnung, die heute jeder gebraucht, bleibt eine Tatsache, die aller philosophischen Tüfteleien spottet. Hier handelt es sich nun aber nicht darum, die Abfälle primitivster Begriffe zusammenzuflicken. Man fühlt, ob man geliebt wird. Das Gefühl drückt sich in tausenderlei Formen aus und ist nicht an räumliche Schranken gebunden. Ein Brief ist ein Stück Seele, er ist ein so getreues Echo des gesprochenen Wortes, daß zarte Gemüter ihn zu dem reichsten Schatz der Liebe rechnen. Vater Goriot, dem sein unbewußtes Gefühl gewissermaßen den erhöhten Instinkt des Hundes verlieh, hatte die Teilnahme, die bewundernde Güte, die jugendliche Sympathie gewittert, die ihm das Herz des Studenten entgegenbrachte. Aber diese im Entstehen begriffene Verbindung hatte noch zu keiner Vertraulichkeit geführt. Wenn Eugen die Madame de Nücingen kennenzulernen wünschte, so rechnete er nicht auf den Greis, um bei ihr eingeführt zu werden; doch hoffte er, daß ihm eine Indiskretion dienlich sein könnte. Vater Goriot hatte mit ihm über seine Töchter bisher nur im Anschluß an die Äußerungen gesprochen, die Rastignac sich am Tage seines Besuches erlaubt hatte.
»Mein lieber Herr«, hatte er am folgenden Tage zu ihm gesagt, »wie können Sie glauben, daß Madame de Restaud Ihnen böse war, als Sie meinen Namen aussprachen? Meine beiden Töchter lieben mich sehr. Ich bin ein glücklicher Vater. Nur haben sich meine beiden Schwiegersöhne schlecht gegen mich benommen. Ich wollte die beiden mir so teuren Wesen nicht unter meinem Zerwürfnis mit ihren Gatten leiden lassen, und deshalb ziehe ich es vor, sie heimlich zu sehen. Auf diese Weise habe ich tausend Freuden, die andere Väter, welche ihre Töchter sehen, wann sie wollen, nicht verstehen können. Ich kann meine Töchter nicht immer sehen, begreifen Sie? Da gehe ich dann bei schönem Wetter in die Champs-Élysées, wenn ich von den Kammerzofen erfahren habe, daß meine Töchter ausfahren. Ich erwarte sie am Wege, das Herz pocht mir, wenn die Wagen herannahen, ich bewundere sie in ihren Toiletten, sie werfen mir im Vorbeifahren ein Lächeln zu, und das vergoldet mir ringsum die Welt, als sei ein schöner So
nnenstrahl auf sie gefallen. Ich warte dann, bis sie zurückkommen. Ich sehe sie noch einmal! Die frische Luft hat ihnen wohlgetan, sie sehen ganz rosig aus. Ich höre, wie man neben mir sagt: ›Das ist aber eine hübsche Frau!‹ Und das erfreut mein Herz. Ist es nicht mein Fleisch und Blut? Ich liebe die Pferde vor ihren Wagen, und ich möchte das Hündchen sein, das sie auf ihrem Schoß halten. Ich lebe von ihrer Freude. Jeder hat seine Art zu lieben, die meine tut doch niemandem weh, weshalb beschäftigt sich die Welt mit mir? Ich bin glücklich auf meine Art. Verstößt es gegen die Gesetze, daß ich meine Töchter des Abends sehe, wenn sie ihr Haus verlassen, um sich zum Balle zu begeben? Welch ein Kummer für mich, wenn ich zu spät komme und wenn man mir sagt: ›Madame ist bereits fort.‹ Einmal habe ich bis 3 Uhr morgens auf Nasie gewartet, die ich zwei Tage lang nicht gesehen hatte. Ich wäre vor Freude beinahe umgekommen! Ich bitte Sie, wenn Sie über mich sprechen, sagen Sie doch immer, wie gut meine Töchter zu mir sind! Sie wollen mich mit allen Arten von Geschenken überhäufen, aber ich will es nicht und sage ihnen: ›Aber behaltet doch euer Geld! Was soll ich damit machen? Ich brauche nichts.‹ Und wirklich, mein lieber Herr, was bin ich denn? Ein bloßer Kadaver, meine Seele ist nur dort, wo meine Töchter sind. Sobald Sie Madame de Nücingen gesehen haben, müssen Sie mir sagen, welche von den beiden Ihnen besser gefällt«, sagte der Alte, der einen Augenblick geschwiegen hatte, da er sah, daß Eugen sich zum Ausgehen rüstete. Eugen machte einen Spaziergang in den Tuilerien, um die Stunde abzuwarten, zu der er sich bei Madame de Beauséant melden lassen konnte.