Eugen traten die Tränen in die Augen. Er stand noch ganz unter dem frischen Eindruck der reinen und heiligen Empfindungen des Familienlebens, er war noch im Bann seines Kinderglaubens, und er hatte erst seinen ersten Tag auf dem Schlachtfeld der Pariser Zivilisation erlebt. Aufrichtige Gefühle teilen sich mit, und so sahen sich die drei Personen einen Augenblick schweigend an.
»Ja, mein Gott«, sagte Madame de Langeais, »das alles scheint gewiß furchtbar zu sein, und doch erleben wir so etwas alle Tage. Aber vielleicht gibt es auch einen Grund dafür. Sagen Sie, meine Liebe, haben Sie einmal darüber nachgedacht, was ein Schwiegersohn bedeutet? Ein Schwiegersohn ist ein Mensch, für den wir, Sie wie ich, ein teures kleines Wesen großziehen, an dem wir mit tausend Banden hängen, das siebzehn Jahre lang die Freuden der Familie bedeutet, das ihre ›weiße Seele‹ ist, wie Lamartine sagen würde, und das uns später das Leben zur Hölle macht. Wenn der Mann sie uns entrissen hat, so wird ihm seine Liebe zum Messer, mit dem er im Herzen unseres Engels alle Empfindungen für seine Familie zerstört. Gestern noch war unsere Tochter alles für uns, wir waren alles für sie, morgen wird sie zu unserer Feindin. Sehen wir nicht diese Tragödie alle Tage? In dem einen Falle behandelt die Frau ihren Schwiegervater, der alles für seinen Sohn geopfert hat, mit dem größten Hochmut, in dem anderen setzt der Mann seine Schwiegermutter vor die Tür. Man fragt immer noch, was es denn an Dramatischerem in unserer heutigen Gesellschaft gibt. Ich finde, das Drama des Schwiegersohnes ist erschreckend genug, auch wenn man im übrigen unsere Ehen, die vollkommen sinnlos geworden sind, ganz außer acht läßt. Ich kann mir sehr gut vorstellen, wie es diesem alten Nudelfabrikanten ergangen ist. Ich glaube, mich zu erinnern, Foriot . . .«
»Goriot, Madame.«
»Ja, ganz recht. Dieser Moriot war während der Revolution Vorsteher seiner Sektion. Er war in das Geheimnis der berühmten Teuerung eingeweiht und hat damals die Grundlage zu seinem Vermögen gelegt, indem er das Mehl zehnmal teurer verkaufte, als er es eingekauft hatte. Er bekam soviel, wie er wollte. Der Intendant meiner Großmutter hat an ihn für unermeßliche Summen verkauft. Dieser Noriot hat sicher, wie alle diese Leute, mit dem Wohlfahrtsausschuß halbpart gemacht. Ich erinnere mich, wie der Intendant zu meiner Großmutter sagte, sie könne in aller Ruhe in Grandvilliers bleiben – ihr Getreide sei ein ausgezeichneter ›Bürgerausweis‹. Dieser Loriot, der den Guillotinehelden Getreide verkaufte, hat nur eine Leidenschaft. Er betet, wie man sagt, seine Töchter an. Die Älteste hat er der Familie Restaud aufgepfropft, die andere dem Baron von Nücingen, einem reichen Bankier, der den Royalisten spielt. Unter dem Kaiserreich fanden natürlich die beiden Schwiegersöhne nichts dabei, den alten Dreiundneunziger bei sich zu haben. Unter Bo
naparte ging das an. Aber als die Bourbo
nen zurückkehrten, fiel der gute Mann Herrn de Restaud lästig, und noch mehr dem Bankier. Die Töchter, die ihren Vater vielleicht immer noch liebten, wollten zwischen Bock und Gärtner, zwischen Vater und Gatten vermitteln. Sie haben den Toriot empfangen, wenn niemand so
nst eingeladen war, und taten so, als ob sie aus Zärtlichkeit gegen ihren Vater so handelten. ›Papa, komm heute, es ist heute besser, wir sind allein!‹ usw. Aber, meine Teure, ich glaube, daß wahre Empfindungen gewissermaßen eigene Augen und eine beso
ndere Intelligenz haben: Dem armen Dreiundneunziger mußte das Herz bluten. Er sah, wie sich seine Töchter seiner schämten, wie er seinen Schwiegersöhnen schadete, wenn seine Töchter sie liebten. Er mußte sich also opfern. Er hat sich geopfert, weil er Vater war, er hat sich selbst verbannt, und daß er seine Töchter zufrieden sah, bewies ihm, daß er richtig gehandelt hatte. Vater und Töchter waren die Mitschuldigen an diesem kleinen Verbrechen. Wir sehen so etwas überall. Hätte dieser Vater Doriot im Salon seiner Töchter nicht wie ein Schmutzfleck gewirkt? Er hätte sich geniert gefühlt und sich gelangweilt. Was diesem Vater geschehen ist, kann der schönsten Frau mit dem Mann, den sie liebt, passieren: Wenn ihm ihre Liebe lästig fällt, verläßt er sie und begeht Gemeinheiten, um ihr zu entgehen. So geht es mit allen Gefühlen. Unser Herz ist ein Schatz, verausgabt man ihn mit einem Male, so ist man ruiniert. Wir verzeihen einem Gefühl, sich ganz gegeben zu haben, ebensowenig wie einem Mann, daß er keinen Sou mehr besitzt. Dieser Vater hat alles gegeben. Er hatte zwanzig Jahre lang sein Inneres, seine Liebe verschenkt, er hatte sein Vermögen an einem Tage hingegeben. Als die Zitrone ausgepreßt war, warfen seine Töchter die Schale in die Gosse.«