Der kleine Johann war gehalten, sich von der sterblichen Hülle seiner Großmutter zu verabschieden; sein Vater ordnete dies an, und er ließ keinen Laut des Widerspruches vernehmen, obgleich er sich fürchtete. Am Tage nach dem schweren Todeskampfe der Konsulin hatte der Senator, bei Tische und, wie es schien, geflissentlich in Gegenwart seines Sohnes, gegen seine Gattin mit ein paar harten Worten das Betragen onkel Christians verurteilt, der, als es der Kranken am schlimmsten ging, davongeschlichen und zu Bette gegangen war. »Das sind die Nerven, Thomas«, hatte Gerda geantwortet; aber mit einem Blick auf Hanno, der dem Kinde keineswegs entgangen war, hatte er ihr in fast strengem Tone zurückgegeben, daß hier kein Wort der Entschuldigung am Platze sei. Die selige Mutter habe so sehr gelitten, daß man sich hätte schämen müssen, allzu schmerzlos dabei zu sitzen, und sich nicht feige dem bißchen Leiden entziehen, das der Anblick ihrer Kämpfe in einem hervorgerufen hätte. Hieraus hatte Hanno geschlossen, daß er es nicht wagen dürfe, gegen den Besuch am offenen Sarge etwas einzuwenden.
Wie beim weihnachtlichen Einzuge war ihm der große Raum entfremdet, als er ihn am Tage vorm Begräbnisse zwischen Vater und Mutter von der Säulenhalle aus betrat. Geradeaus, weiß leuchtend gegen das dunkle Grün großer Topfgewächse, die, mit hohen, silbernen Armleuchtern abwechselnd, einen Halbkreis bildeten, stand auf schwarzem Postamente die Kopie von Thorwaldsens Segnendem Christus, die draußen auf dem Korridor ihren Platz gehabt hatte. Überall an den Wänden bewegte sich im Luftzuge schwarzer Flor und verhüllte das Himmelblau der Tapete sowohl wie das Lächeln der weißen Götterstatuen, die zugeschaut hatten, wenn man in diesem Saale wohlgemut tafelte. Und umgeben von seinen ganz in Schwarz gekleideten Anverwandten, den breiten Trauerflor um den Ärmel seines Matrosenanzuges, den Sinn umnebelt von den Düften, welche den Mengen von Blumengebinden und Kränzen entströmten, und mit denen sich, ganz leise und nur bei diesem oder jenem Atemzug bemerkbar, ein anderer fremder und doch auf seltsame Art vertrauter Duft vermengte, stand der kleine Johann zur Seite der Bahre und blickte auf die regungslose Gestalt, die vor ihm zwischen weißem Atlas streng und feierlich ausgestreckt lag …
Dies war nicht Großmama. Es war ihre Gesellschaftshaube mit den weißseidenen Bändern und ihr rotbrauner Scheitel darunter. Aber diese spitze Nase, diese nach innen gezogenen Lippen, dieses hervorgeschobene Kinn, diese gelben, durchsichtigen, gefalteten Hände, denen man Kälte und Steifheit ansah, gehörten nicht ihr. Dies war eine fremde, wächserne Puppe, die in dieser Weise aufzubauen und zu feiern, etwas Grauenhaftes hatte. Und er blickte zum Landschaftszimmer hinüber, als müßte dort im nächsten Augenblick die wirkliche Großmama erscheinen … Aber sie kam nicht. Sie war tot. Der Tod hatte sie für immer mit dieser wächsernen Figur vertauscht, die ihre Lider und Lippen so unerbittlich, so unnahbar fest geschlossen hielt …
Er stand, auf dem linken Beine ruhend, das rechte Knie so gebogen, daß der Fuß leicht auf der Spitze balancierte, und hielt mit einer Hand den Schifferknoten auf seiner Brust umfaßt, während die andere schlaff hinabhing. Sein Kopf mit dem lockig in die Schläfen fallenden hellbraunen Haar war zur Seite geneigt, und unter zusammengezogenen Brauen blickten seine goldbraunen, von bläulichen Schatten umlagerten Augen blinzelnd, mit einem abgestoßenen und grüblerischen Ausdruck in das Antlitz der Leiche. Er atmete langsam und zögernd, denn bei jedem Atemzuge erwartete er den Duft, jenen fremden und doch so seltsam vertrauten Duft, den die Wolken von Blumengerüchen nicht immer zu übertäuben vermochten. Und wenn er kam, wenn er ihn verspürte, so zogen sich seine Brauen fester zusammen, und seine Lippen gerieten einen Augenblick in zitternde Bewegung … Schließlich seufzte er; aber es klang so sehr wie ein tränenloses Schluchzen, daß Frau Permaneder sich zu ihm niederbeugte, ihn küßte und ihn fortführte.
Und nachdem der Senator und seine Frau, zusammen mit Frau Permaneder und Erika Weinschenk, während langer Stunden im Landschaftszimmer die Kondolationen der Stadt entgegengenommen hatten, ward Elisabeth Buddenbrook, geborene Kröger, zur Erde bestattet. Auswärtige Verwandte waren aus Frankfurt und Hamburg dazu eingetroffen und hatten zum letzten Male gastliche Aufnahme im Mengstraßenhause gefunden. Und die Menge der Leidtragenden füllte Saal und Landschaftszimmer, Säulenhalle und Korridor, als bei brennenden Kerzen, in aufrechter Majestät zu Häupten des Sarges, das rasierte Antlitz, dessen Ausdruck zwischen düsterem Fanatismus und milder Verklärung wechselte, über der breiten, gefalteten Halskrause gegen Himmel gewandt und die Hände dicht unterm Kinn gefaltet, Pastor Pringsheim von St. Marien die Trauerrede hielt.
Er lobpries in schwellenden und verhallenden Lauten die Eigenschaften der Dahingeschiedenen, ihre Vornehmheit und Demut, ihre Heiterkeit und Frömmigkeit, ihre Wohltätigkeit und Milde. Er erwähnte des »Jerusalemsabends« und der »Sonntagsschule«, er ließ das ganze lange, reiche und glückselige Erdenleben der Verewigten noch einmal im Glanz seiner Dialektik erstrahlen … und da das Wort »Ende« ein Beiwort haben muß, so sprach er zuletzt von ihrem sanften Ende.
Frau Permaneder wußte wohl, was sie in dieser Stunde sich selbst und der ganzen Versammlung an Würde und repräsentativer Haltung schuldete. Sie hatte, zusammen mit ihrer Tochter Erika und ihrer Enkelin Elisabeth, die sichtbarsten Ehrenplätze dicht beim Pastor, neben dem Kopfende des mit Kränzen bedeckten Sarges, in Besitz genommen, während Thomas, Gerda, Christian, Klothilde und der kleine Johann, sowie der alte Konsul Kröger, der auf einem Stuhle saß, gleich den Verwandten zweiten Grades es sich gefallen ließen, der Feier an minder ausgezeichneten Plätzen beizuwohnen. Hochaufgerichtet, mit ein wenig emporgezogenen Schultern, das schwarzgeränderte Batisttuch zwischen den zusammengelegten Händen, stand sie da, und ihr Stolz über die erste Rolle, die ihr bei dieser Feierlichkeit zufiel, war so groß, daß er manchmal den Schmerz vollständig zurückdrängte und in Vergessenheit geraten ließ. Ihre Augen, die sie in dem Bewußtsein, den beobachtenden Blicken der ganzen Stadt ausgesetzt zu sein, meistens gesenkt hielt, konnten es sich hie und da nicht versagen, über die Menge hinzuschweifen, in der sie auch Julchen Möllendorpf, geborene Hagenström, und ihren Gatten gewahrte … Ja, sie hatten alle kommen müssen, die Möllendorpfs, Kistenmakers, Langhals und Oeverdiecks! Bevor Tony Buddenbrook ihr Elternhaus räumte, hatten sie sich noch einmal hier zusammenscharen müssen, um ihr, trotz Grünlich, trotz Permaneder und trotz Hugo Weinschenk, ihre mittrauernde Ehrerbietung zu erweisen …!
Und Pastor Pringsheim bohrte mit seiner Trauerrede in der Wunde herum, die der Tod geschlagen hatte, er führte mit Berechnung einem jeden vor Augen, was er verloren, er verstand es, Tränen auch dort hervorzupressen, wo von selbst keine geflossen wären, und dafür waren die Gerührten ihm dankbar. Als er den »Jerusalemsabend« zur Sprache brachte, begannen alle alten Freundinnen der Verstorbenen zu schluchzen, mit Ausnahme von Madame Kethelsen, die nichts vernahm und mit der verschlossenen Miene der Tauben geradeaus blickte, und der Schwestern Gerhardt, der Nachkommen Paul Gerhardts, die Hand in Hand mit klaren Augen in einem Winkel standen; denn sie waren fröhlich über den Tod ihrer Freundin, und beneideten sie nur deshalb nicht, weil Neid und Mißgunst ihren Herzen fremd war.
Was Mademoiselle Weichbrodt betraf, so putzte sie unaufhörlich ihre Nase mit einem kurzen und energischen Akzent. Aber die Damen Buddenbrook aus der Breiten Straße weinten nicht; dies war nicht ihre Gewohnheit. Ihre Mienen, weniger spitz immerhin als gewöhnlich, drückten eine milde Genugtuung über die unparteiische Gerechtigkeit des Todes aus …
Dann, als Pastor Pringsheims letztes Amen verklungen, kamen mit ihren schwarzen Dreispitzen, leise und dennoch so schnell, daß die schwarzen Mäntel hinter ihnen sich bauschten, die vier Träger herein und legten Hand an den Sarg. Es waren vier Lakaiengesichter, die jedermann kannte, Lohndiener, die bei jedem Diner in den ersten Kreisen die schweren Schüsseln reichten und auf den Korridoren Möllendorpfschen Rotwein aus den Karaffen tranken. Aber auch bei jedem Begräbnis erster und zweiter Klasse waren sie unentbehrlich, und ihre Gewandtheit bei dieser Arbeit war groß. Sie wußten wohl, daß dieser Augenblick, da der Sarg, aus der Mitte der Verbliebenen heraus, von Fremden ergriffen und für immer davongeschleppt wird, durch Takt und Behendigkeit überwunden werden muß. Mit zwei oder drei hurtigen, geräuschlosen und kräftigen Bewegungen hatten sie die Last von der Bahre auf ihre Schultern gehoben, und kaum, daß jemand Zeit hatte, sich das Schreckliche des Augenblicks klar zu machen, so schwankte der blumenbedeckte Schrein schon ohne Verzögerung und dennoch gemessenen Tempos davon und verschwand durch die Säulenhalle.
Die Damen drängten sich behutsam zum Händedruck um Frau Permaneder und ihre Tochter, wobei sie mit niedergeschlagenen Augen nicht mehr und nicht weniger murmelten, als was bei dieser Gelegenheit gemurmelt werden mußte, während die Herren sich anschickten, zu den Wagen hinunterzusteigen …
Und es kam, in langem, schwarzem Zuge, die lange, langsame Fahrt durch die grauen und feuchten Straßen, durchs Burgtor hinaus, die entblätterte, im kalten Sprühregen schauernde Allee entlang bis zum Friedhof, woselbst man, während hinter einem halbkahlen Gesträuch ein Trauermarsch erklang, zu Fuß dem Sarge über die aufgeweichten Wege folgte, bis dorthin, wo am Rande des Gehölzes das Buddenbrooksche Erbbegräbnis seine von dem großen Sandsteinkreuz gekrönte gotische Namensplatte emporragen ließ … Der steinerne Deckel des Grabes, mit dem plastisch gearbeiteten Familienwappen geziert, lag neben der schwarzen, von feuchtem Grün umrahmten Gruft.
Der Platz war dort unten dem neuen Ankömmling bereitet. Unter der Aufsicht des Senators war dort in den letzten Tagen ein wenig geräumt und Überreste alter Buddenbrooks waren beiseite geschafft worden. Nun schwebte, während die Musik verklang, der Sarg an den Stricken der Träger über der ausgemauerten Tiefe; mit einem leisen Gepolter glitt er hinab, und Pastor Pringsheim, welcher Pulswärmer angezogen hatte, begann aufs neue zu sprechen. Seine geschulte Stimme klang klar, beweglich und fromm über das offene Grab und die gebeugten oder wehmütig zur Seite gelegten Köpfe der anwesenden Herren hin in die kühle und stille Herbstluft hinein. Schließlich beugte er sich über die Gruft, redete die Tote mit ihrem vollständigen Namen an und segnete sie mit dem Zeichen des Kreuzes. Als er verstummte und alle Herren mit ihren schwarz bekleideten Händen den Zylinder vor das Gesicht hielten, um still zu beten, kam ein wenig Sonne hervor. Es regnete nicht mehr, und in das Geräusch der Tropfen, die vereinzelt von Bäumen und Sträuchern fielen, klang hie und da ein kurzes, feines und fragendes Vogelzwitschern hinein.
Und dann machte sich ein jeder daran, den Söhnen und dem Bruder der Toten noch einmal die Hand zu drücken.
Thomas Buddenbrook, den dicken und dunklen Stoff seines Überziehers mit feinen, silbernen Regentropfen betaut, stand zwischen seinem Bruder Christian und seinem onkel Justus bei diesem Defilee. Er begann in letzter Zeit ein wenig stark zu werden – das einzige Anzeichen des Alterns an seinem sorgfältig gepflegten Äußeren. Seine Wangen, über die der spitz ausgezogene Schnurrbart hinausragte, rundeten sich; aber sie waren weißlich, bleich, ohne Blut und Leben. Seine leicht geröteten Augen blickten jedem Herrn, dessen Hand er während eines Augenblicks in der seinen hielt, mit einer matten Höflichkeit ins Gesicht.