Heute ist es in Shichahai außergewöhnlich ruhig. Man kann sich nur schwer vorstellen, dass diese Gegend in der Yuan-Dynastie (1206-1368) ein boomender internationaler Hafen mit vielen Handelsschiffen aus Südchina war. Shichahai war eine der nördlichen Endstationen des berühmten Kaiserkanals, der von Hangzhou nach Beijing fließt. Seide und Tee wurden aus dem Süden über den Yangtse dort hin transportiert und gelangten dann über die Seidenstraße und Chama Gudao, den alten Weg, nach Westasien, Europa und Afrika. Obwohl seitdem schon über 700 Jahre vergangen sind, findet man immer noch historische Spuren dieser Zeit.
Am westlichen Ufer des Qianhai reiht sich eine Bar an die andere. In einem alten Gebäude, das besonders ins Auge fällt, befand sich vor 100 Jahren das berühmteste Restaurant Beijings: Huixiantang. Schon damals galt das zweistöckige Gebäude als imposant. Die Südseite des Hauses liegt direkt am See, von dort aus hat man einen wunderschönen Blick auf die Gegend. Nicht zuletzt deswegen trafen sich dort gerne Literaten und hoch gebildete Persönlichkeiten. Anhand der tiefen Spuren, die ihre alten Wagen auf den dicken schweren Steinplatten hinterlassen haben, kann man sich gut vorstellen, dass sie hier häufig ein- und ausgingen. Es ist überraschend, dass dieser berühmte Bau bis heute so vollständig erhalten geblieben ist. Erfreulicherweise haben mittlerweile Restaurierungsarbeiten am Gebäude begonnen. Sie werden vom Hausbesitzer, dem Verein der Freunde der Fu-Ren-Universität, durchgeführt. Li Rongliang arbeitet hier. Er erklärt:
„Der Verein der Freunde der Fu-Jen-Universität hat nur noch diesen einzigen Altbau. Wir möchten diesen wertvollen Ort erhalten. Die Restaurierungsarbeiten sind wichtig, da es sich bei dem Haus auch um ein Kulturdenkmal handelt."
Mit der Zeit ist Shichahai auch bei ausländischen Touristen immer beliebter geworden, es entstanden verschiedene Bars und Souvenirläden. In den kleinen Gassen trifft man immer ein paar Reisende.
Das beliebteste Ziel ist die Yandai Xiejie, eine kleine Gasse im Osten von Shichahai. Sie ist nur 200 bis 300 Meter lang. Diese schmale Gasse verbindet Shichahai mit den umliegenden breiten Straßen. Hier gibt es altertümlich wirkende Geschäfte, in denen allerlei Sachen aus dem alten Beijing verkauft werden. Die berühmte Beijinger Sehenswürdigkeit wurde dieses Jahr zu Chinas bester historisch-kultureller Straße gewählt.
In der Gasse entdecken wir einen besonderen Laden. Er wurde noch nicht eröffnet, sieht aber wie ein altes Postamt aus. Zufällig treffen wir dort den Leiter des Bezirkspostamtes, Herrn Wang, der unsere Vermutung bestätigt: Das Haus wird zu einem kleinen Postmuseum ausgebaut, das mit Bildern und Gegenständen die Geschichte des chinesischen Postwesens der Neuzeit präsentiert.
Herr Wang wurde in Beijing geboren und ist hier aufgewachsen. Er erklärt uns den Ursprung des Straßennamens Yandai Xiejie, der auf Deutsch „schräge Tabakpfeifenstraße" bedeutet:
„Die Yandai Xiejie ist bereits 800 Jahre alt. Ihr Name kommt daher, dass es hier am Ende der Qing-Dynastie viele kleine Verkaufsstände für Tabakpfeifen gab."
Verlässt man die belebte Straße und geht 100 bis 200 Meter am Seeufer entlang, umfängt einen wieder die Ruhe und Stille der alten Beijinger Innenstadt. Am nördlichen Ufer von Shichahai liegt eine weitere Gasse namens Ya'er Hutong. Anders als in der belebten Yandai Xiejie findet man hier auf beiden Seiten ruhige traditionelle Beijinger Wohnhöfe, Siheyuan. Neben einem großen japanischen Schnurbaum steht ein kleiner Laden, in dem verschiedene buddhistische Dinge verkauft werden. Der Ladenbesitzer, Herr Zhang, ist sehr freundlich und spricht uns an. Er wohnt in der Nähe, daher kennt er sich hier sehr gut aus. Von ihm erfahren wir, dass ein Stück die Gasse runter Guanghuasi, ein berühmter alter Tempel aus der Ming-Dynastie liegt. Oft kommen buddhistische Gläubige aus China oder anderen asiatischen Ländern hierher, um an den religiösen Ritualen teilzunehmen. Auch Herr Zhang selber ist ein frommer Buddhist. Er hat diesen Laden eröffnet, um den Besuchern des Tempels das Nötigste anzubieten. Trotz der stetig wachsenden Touristenzahlen sei der Lebensrhythmus der Einwohner hier bisher unverändert, erklärt uns Herr Zhang fröhlich. Es ist hier wie eine geschlossene Welt, in der man den stressigen Alltag in Beijing gar nicht spürt. Oft sieht man Gruppen älterer Leute, die miteinander plaudern und Schach spielen.
Am Ende der Shichahai-Gegend kommen wir an eine Steinbogenbrücke. Sie liegt genau auf der Mittelachse der Stadt Beijing. Südlich von ihr befindet sich der Kaiserpalast. Laut einem Experten hat die Brücke eine sehr lange Geschichte. Sie wurde in der Yuan-Dynastie erbaut und erhielt den Namen Wanningqiao-Brücke. Ihr Architekt hat sie als Mittelpunkt der damals größten Stadt der Welt entworfen. Heute fließt unter der Brücke ruhig das Wasser. Auf der Brücke jedoch herrscht ein lebhaftes Treiben.
Langsam geht die Sonne unter und die ganze Gegend glänzt im goldenen Licht der Dämmerung. Gleich beginnt wieder das Nachtleben in Shichahai, mit einer ganz anderen Romantik, als am Tag.