Das kleinste Wahrzeichen der Welt: die kleine Meerjungfrau, die an der Kopenhagener Uferpromenade sitzend, stumm selbst den schlimmsten Vandalismus erduldet. Autorin: Prisca Straub
Ihre Blessuren sind vielfältig. Ganz mutlos sitzt die Kleine Meerjungfrau am Kai von Kopenhagen und schaut aufs offene Meer hinaus. Mit einer metallsäge, ja sogar mit Sprengstoff ist man ihrem zarten Körper schon zu Leibe gerückt. Sie ist mit Farbe besprüht, enthauptet und ins Wasser gestürzt worden. Dabei tut die dänische Nixe nichts weiter, als in der Hafeneinfahrt auf ihrem Findling zu sitzen und den Schiffen beim Entladen zuzusehen. Seit dem 23. August 1913 hält die Kleine Meerjungfrau dort ihren blanken Bronze-Busen in den Wind - und sieht dabei so traurig aus, als würde sie jeden Moment in Tränen ausbrechen.
Stummes Leid
Verständlich, die ehemalige Meeresbewohnerin hat eine Vorgeschichte, in der ihr übel mitgespielt wurde: Hans Christian Andersen erzählt in seinem Märchen "Den Lille Havfrue" [sprich: 'Haufru], wie sich die Wassernixe in einen menschlichen Prinzen verliebt. Sie hat ihn vor dem Ertrinken gerettet, und nun kann sie seine schönen Augen nicht mehr vergessen. Um dem Angebeteten nahe zu sein, schließt sie mit der bösen Meerhexe einen unwiderruflichen Pakt. Sie tauscht ihren Fischschwanz gegen zwei Beine und überlässt der Hexe als Preis ihre Stimme. Dann verlässt sie ihre wässrige Heimat und wankt an Land. Doch dort, man ahnt es bereits, läuft natürlich nichts so wie es soll: Die Kleine Meerjungfrau muss stumm und hilflos mitansehen, wie ihr Traumprinz schließlich eine andere heiratet.
Bemalt, zersägt, gesprengt
Man wünscht der exilierten Meeresbewohnerin ein bisschen Erholung. Doch leider war die Prinzen-Pleite noch harmlos im Vergleich zu dem, was an der Hafenpromenade nun über ihr Bronze-Abbild hereinbricht: Zunächst sind es nur ein paar Eimer Farbe. Dann, 1964, die erste Enthauptung: Zu der Tat bekennt sich ein Aktionskünstler und behauptet, er habe den Touristen-Rummel um das berühmte Wahrzeichen einfach nicht mehr ertragen können! Das abgetrennte Haupt aber rückt er nicht mehr heraus. Es wird nachgegossen.
In den 80ern sägen zwei Betrunkene der Kleinen Meerjungfrau den rechten Arm ab. Wenig später wird ihr ein 18 Zentimeter langer Kehlschnitt zugefügt - offenbar ein misslungener Amputationsversuch. In den 90ern wird das Meermädchen dann erneut geköpft. Festgenommen wird ein zunächst zwielichtiger Pressefotograf, der viel Geld mit exklusiven Fotos vom Tatort verdient hatte und dann in Erklärungsnot geraten war. Weil man ihm nichts nachweisen kann, muss er aus der Untersuchungshaft entlassen werden. Täter werden nie gefasst, aber immerhin taucht der Kopf wieder auf.