Ein Urinal ist Kunst, hinein zu pinkeln aber nicht? Eine schwierige Frage, die französische Richter zu beurteilen hatten. Autor: Xaver Frühbeis
Was Kunst ist, darüber kann man streiten. Selbst Fachleute sind sich da nicht immer einig. Im Frühjahr 1917 hat die "Gesellschaft unabhängiger Künstler" in New York ein ganz normales Pinkelbecken aus weißem Porzellan erhalten. Das gute Stück war am Rand mit "R Punkt Mutt" signiert. Die Direktoren der Gesellschaft waren verdutzt. Sie hatten zwar eingeladen, für eine große Kunstausstellung Werke einzureichen, aber mit einem signierten Pinkelbecken hatten sie nicht gerechnet. Verantwortlich für die Aktion war einer aus ihrem eigenen Kreis: Marcel Duchamp, ein junger Franzose, der zuvor schon mit ähnlich eindrucksvollen Dingen aufgefallen war. Der Rest des Direktoriums weigerte sich, Duchamps Pinkelbecken auszustellen, Duchamp trat unter Protest von seinem Posten zurück, und das schöne Urinal, das ist seitdem spurlos verschwunden. Vermutlich hat es irgendjemand einfach weggeschmissen.
Hineingepinkelt
In den Jahren danach ist Marcel Duchamp jedoch ein berühmter Mann geworden und sein Pinkelbecken zur Kunstikone des 20. Jahrhunderts avanciert. Jetzt hätten es viele Museen liebend gern ausgestellt. Kein Problem, dachte sich Duchamp, Pinkelbecken gibt es genug. Und so hat er im Lauf der Zeit fünfzehn weiße Urinale mit "R Punkt Mutt" signiert und an die Museen dieser Welt verteilt. Die Leute drängten sich drum, sie zu sehen, und wo keins war, da lieh man eins hin. Zum Beispiel nach Südfrankreich, in die Stadt Nîmes. Dort zeigte man es bei der Eröffnungsschau des neuen "Museums für Zeitgenössische Kunst".
Am 24. August 1993 befand sich unter den vielen Besuchern, die das berühmte Urinal von Duchamp besichtigten, auch ein älterer Herr mit Glatze und weißem Bart. Der Herr besichtigte das Urinal allerdings nicht nur. Er benutzte es auch. Er machte seine Hose auf und pinkelte hinein. Danach holte er ein kleines Hämmerchen hervor und versetzte dem Becken einen Schlag, dass es einen Sprung bekam. Bei dem Herrn handelte es sich um den berüchtigten Performancekünstler Pierre Pinoncelli, einen 64jährigen Franzosen, der zuvor schon mit ähnlich eindrucksvollen Dingen aufgefallen war.
Im Wert gesteigert
Vor Gericht gab Monsieur Pinoncelli an, was er da in Nîmes getan hatte, sei Kunst gewesen. Genauer: Ein Akt des Protests gegen die Institutionalisierung von Kunst. Es sei empörend, sagte Pinoncelli, ein Kunstwerk in identischen Kopien über die Welt zu verteilen. Und deshalb sei dieses eine Urinal in Nîmes jetzt viel wertvoller als vorher. Durch seinen Hammerschlag sei es einzigartig und unverwechselbar geworden, es habe eine Geschichte. Die anderen seien bloß gesichtslose Nachahmungen. Aber: Die Richter ließen nicht mit sich reden. Fremde Pinkelbecken zu zerhämmern, sei mitnichten Kunst, sagten sie. Monsieur Pinoncelli habe ganz einfach Staatseigentum beschädigt, und dazu auch noch ausgesprochen wertvolles.
Und so wurde abermals ein bedeutendes Werk nicht gewürdigt und sein Schöpfer Pierre Pinoncelli zu einem Monat auf Bewährung verurteilt. Dazu musste er 270.000 Francs Strafe zahlen und die Reparaturkosten übernehmen.