Otto Lilienthal war wohl der erste Mensch, der erfolgreich flog. Seine Experimente lieferten die bis heute gültige physikalische Beschreibung der Tragfläche. Vorbild für alles: der Vogelflug. Autor: Hellmuth Nordwig
"Alljährlich, wenn der Frühling kommt, und die Luft sich wieder bevölkert mit unzähligen frohen Geschöpfen",
- was für ein schöner Anfang einer wissenschaftlichen Veröffentlichung, die es in sich hat. Heute würde das ja ungefähr so klingen: "Wir legen hiermit erstmals Daten vor, die Hinweise auf aerodynamische Grundlagen des Vogelflugs geben." Muss jetzt nicht sein, denkt sich manch einer, gähnt und hat so einen Text auch schon weggewischt. Aber im 19. Jahrhundert konnte man eben nicht einfach das nächste Video aufrufen. Die Bilder, sie entstanden beim Lesen im Kopf.
Der segelnde Flug der Schwalbe
"Wenn die Schwalben ihren Einzug gehalten, und wieder in segelndem Fluge Straße auf und Straße ab mit glattem Flügelschlag an unseren Häusern entlang und an unseren Fenstern vorbei eilen",
So schreibt einer, der ein paar Kilometer von der Ostseeküste entfernt aufgewachsen ist, im vorpommerschen Anklam. Otto Lilienthal geht dort zur Schule und hat viel Zeit, in den Himmel zu blicken. Störche, Schwalben, Lerchen, Möwen gibt es dort mehr als genug, dazu reichlich Insekten als Nahrung für die Vögel. Und sonst fliegt dort gar nichts - für uns kaum noch vorstellbar. Für Lilienthal ist das die Grundlage einer Vision, die sein Leben prägen wird.
"Wer hätte (…) niemals bedauert, dass der Mensch bis jetzt der Kunst des freien Fliegens entbehren muss, und nicht auch wie der Vogel wirkungsvoll seine Schwingen entfalten kann, um seiner Wanderlust den höchsten Ausdruck zu verleihen?"
Eine Frage der Wölbung
Im Alter von 23 Jahren zieht Lilienthal in den Krieg nach Frankreich. Und schildert seinem Bruder Gustav verblüfft, wie einige politische Führer des Feindes das belagerte Paris kurzerhand in Ballons verlassen. Menschen können also fliegen. Aber mit Heißluft werden sie nicht weit kommen, da ist Otto Lilienthal sicher. Nein: So leicht und ohne Anstrengung wie die Vögel, genau so werden Menschen sich eines Tages richtig in den Himmel erheben. Nur: Wie machen die Tiere das eigentlich? Zurück in Deutschland, fängt Lilienthal vier Störche ein und hält sie in seinem Garten. Untersucht ihre Flügel, misst die Fläche jeder Feder und die Winkel beim Auf- und Abwärtsschwingen. Erforscht mit Bruder Gustav auch, wie sich künstliche Flügel im Luftstrom verhalten. Und entdeckt so:
"dass das eigentliche Geheimnis des Vogelfluges in der Wölbung der Vogelflügel zu erblicken ist, durch welche der natürliche geringe Kraftaufwand der Vögel beim Vorwärtsfliegen seine Erklärung findet".
Das ist es: Flügel müssen nach oben gewölbt sein, dann entsteht der Auftrieb von selbst. Am 5. Dezember 1889 legt Otto Lilienthal seine Schrift "Der Vogelflug als Grundlage der Fliegekunst" vor. Da ist er selbst noch keinen Meter geflogen. Doch jetzt kann es losgehen. Lilienthal baut etliche Fluggeräte, hebt ab und erlebt - bis zu einem Absturz, der tödlich endet - fast 2000 Mal, wie sein Wunschtraum sich erfüllt: