Jean-François Champollion war ein Sprachen- und Schriftgenie. Am 27. September 1822 gab er bekannt, dass ihm die Entzifferung der ägyptischen Hieroglyphen gelungen war. Autor: Christian Feldmann
Leute wie Napoleon, l´ Empereur, leiden bisweilen unter ihrem Eroberer-Image. Deshalb ließ sich Napoleon auf seinem Ägyptenfeldzug 1798 von mehr als 150 Wissenschaftlern begleiten, die dem Unternehmen den Touch einer Forschungsreise verleihen sollten. Bald darauf stieß man bei Schanzarbeiten bei Rosette im Nildelta auf einen Steinbrocken aus schwarzem Basalt, über und über mit seltsamen Schriftzeichen bedeckt.
Der Stein von Rosette
Der Gelehrtentross konnte mit dem vier Meter hohen Steinklotz zunächst wenig anfangen. Abdrücke der Inschriften wurden nach Frankreich gesandt. Erstklassige Koryphäen widmeten sich den Schriftkopien, ohne den Text wirklich entschlüsseln zu können. Bis zwei Jahrzehnte später ein Wunderkind auf den "Stein von Rosette", wie man ihn nannte, aufmerksam wurde.
Es war Jean-François Champollion, Sohn eines Buchhändlers aus Figeac. Schon mit vier, fünf Jahren ließ sich der wissbegierige Knirps von der Mama lange Abschnitte aus ihrem Messbuch vorlesen. Das Gehörte merkte er sich fehlerlos. Dann ließ er sich in dem Buch zeigen, wo es stand, verglich seinen im Gedächtnis gespeicherten Text mit dem Gedruckten, gab den Buchstaben zur Unterscheidung Phantasienamen - und las den verblüfften Eltern eines Tages ganze Seiten vor. Auch das Schreiben hatte er sich ganz allein beigebracht; seine Schrift sah allerdings merkwürdig aus, weil sie dem altertümlichen Druckbild des Messbuchs entsprach.
Mit dreizehn begann Jean-François orientalische Sprachen zu lernen, mit fünfzehn schrieb er sich an der Akademie der Wissenschaften in Grenoble ein, mit achtzehn beherrschte er acht antike Sprachen plus Chinesisch. Schon als Kind hatte er für die Wunderwelt der Pharaonen geschwärmt - und es schrecklich bedauert, dass kein Mensch die Schriftzeichen in den ägyptischen Tempeln und Pyramidengräbern lesen konnte.
Mischsystem
Mittlerweile hatte die Fachwelt herausgefunden, dass der Stein von Rosette dreisprachig beschrieben war: auf Griechisch, das kannte man; auf Demotisch, das war die zum Teil bekannte ägyptische Alltagsschrift mit 400 Lautzeichen; und in den noch völlig rätselhaften Hieroglyphen, die über viel mehr Zeichen verfügten und zusätzlich über zahlreiche Bilder. Wenn jede Sprache denselben Text wiedergab, musste man von den bekannten Versionen auf die unbekannte Hieroglyphenfassung schließen können. Das versuchte vor allem der britische Gelehrte Thomas Young, der Stein befand sich inzwischen als Kriegsbeute in London. Doch er machte den Fehler, in jedem Hieroglyphenbild einen kompletten Begriff zu vermuten.
Sein französischer Kollege Champollion, zum Geschichtsprofessor avanciert, hatte den besseren Riecher: Er identifizierte die Hieroglyphen als höchst komplexes Mischsystem aus Lautzeichen und Bildsymbolen. Am 27. September 1822 stellte er seine bahnbrechende Entdeckung in der Académie française vor und übersetzte den reichlich unbedeutenden Text: eine Dankadresse der Priesterschaft von Memphis an einen Pharao. Die Rivalen und Neider überschütteten ihn mit Spott und Kritik, doch der König schickte ihn mit einer neuen Expedition nach Ägypten.
Besorgte Kirchenfürsten sorgten freilich für eine bittere Auflage: Sollte Champollion Ergebnisse präsentieren, welche die überlieferte Chronologie der Bibel in Frage stellten, dürften seine Forschungen nicht veröffentlicht werden. Als ob sie es geahnt hätten: Seit man die Hieroglyphentexte lesen konnte, entpuppte sich immer mehr biblisches Glaubensgut als von ägyptischen Mythen und Vorstellungen inspiriert.