Ein Naturphänomen: der Seerhein hob und senkte sich mehrmals um einen halben Meter. Ein Wunder, meinte man 1549. Autor: Johannes Roßteuscher
Und es geschah ein Wunder am Seerhein … solche Geschichten hört man gern. Sogleich die Einschränkung: oft sind es dann gar keine echten Wunder. Entweder nie passiert oder profanes Zeug. Die wundersame Brotvermehrung: bis heute nicht bewiesen! Das Wunder von Bern? Meisterhafte Taktik von Sepp Herberger und viel Glück.
Wunder gibt es immer wieder
Anders am Seerhein. Dort ist im Jahr 1549 ein echtes Wunder geschehen.
Der Seerhein ist das kurze, vier Kilometer Stück Rhein zwischen dem Obersee – also dem großen Teil des Bodensees; und dem Untersee – also einem der beiden See-Anhängsel am westlichen Ende. Und hier also, an diesem besonderen Stück Fluss, geschah das Wunder: im Jahr 1549, am 23. Februar, wie der Chronist Christian Schulhaiß vermerkt: "Uff diesen Tag morgens früh ist der See so an- und abgeloffen wol einer Elen hoch." Also bis zu 60 Zentimeter. Und weiter: "Und so ist er bald mit einem Ruschen" - also mit einem Rauschen - "als ob das Gewell von dem Wind, welcher doch nit war, getrieben würd, wieder angeloffen."
Der Seerhein hat sich also an diesem Februartag ohne erkennbare Ursache mehrmals um 60 Zentimeter gehoben und wieder gesenkt. Er ist sogar "uffwerts geloffen". Bis heute weiß man die Ursache nicht. Also ein echtes Wunder. Ende der Geschichte, einen schönen Tag.
Schwingung und Schwappung
Wenn es so einfach wäre … Natürlich haben sich im Lauf der Jahre die Limnologen eingeschaltet, die Seenkundler. Und die wollten, wie Naturforscher nun mal sind, nicht hinnehmen, dass es auch mal ein Wunder gibt.
Am Genfer See sind nämlich solch kleine Wasserwunder auch zu beobachten. Die nennen sie Seiches.
Ohne erkennbare Ursache hebt und senkt sich dort in regelmäßigen Abständen der Wasserspiegel. Um ein paar Zentimeter, manchmal aber auch um ein, zwei Meter. Das haben die Forscher erstmal vermessen. Am Genfer und dann auch am Bodensee. Mit schönen selbstgebastelten Messgeräten.
Endergebnis der profanen Wissenschaft: jeder, letztlich jeder See schwappt so vor sich hin. Oder schöner: schwingt so vor sich hin. Meistens ist das schwingende Schwappen oder schwappende Schwingen eine schlichte Folge des Windes: Der Wind bläst zwei Stunden von West und schiebt eine ganz schöne Menge Wasser Richtung Ost. Irgendwie muss das Wasser wieder zurück. Dann kommt es am anderen Ende an und schwappt wieder zurück. Schon ist der See in Schwappung, pardon Schwingung. Und es braucht nicht einmal Wind: Schon Unterschiede im Luftdruck zwischen den Seeregionen können bei großen Seen veritable Schwingungen auslösen. Wo weniger Luftdruck ist, steigt der Seespiegel ein wenig an - und schwappt alsbald zurück.
Je größer der See, desto länger die Schwingungsdauer. Der Genfer See schwingt normalerweise im Rhythmus von 59 Minuten, der Bodensee minimal kürzer, die Ostsee schwingt ungefähr einen Tag lang. Und unser Wasserwunder von Konstanz? Einfach nur so eine Schwingung? Oder gar Unterschwingung? Kommt ja nicht alle Tage vor, dass der Rhein rückwärts lofft, sonst wäre es ja nicht mal 1549 ein Wunder gewesen.
Der ehrwürdige "Verein für Geschichte des Bodensees" glaubt, dass irgendwo weiter ostwärts im trüben Morgenlicht eine starke Wasserhose den See überquert, die besonders starke Schaukelbewegung und das Wasserwunder vom Seerhein ausgelöst hat. Also ein "Wind, welcher doch nit war".