Ist das Kunst oder kann das weg? Manch Maler wirkt dieser Frage entgegen und signalisiert schon im Titel zum Werke: Das ist wirklich Kunst! Marcel Duchamp zum Beispiel. Autorin: Astrid Mayerle
Auch die Abschaffung des Bildtitels gehört zur Geschichte der Kunst des 20. Jahrhunderts. Lange Zeit erzählte dieser mit eigenen Worten noch einmal genau das, was zu sehen war - etwa eine "Landschaft mit Brunnen" oder "Das Mädchen mit dem Perlenohrringe". Diese Dopplung erschien einigen Künstlern zu wenig originell. Daher begannen sie, Bildtitel zu wählen, die aufs erste nicht das geringste mit dem zu tun hatten, was zu sehen war. Diese Strategie führte über kurz oder lang in zwei Richtungen: die einen versteckten ein Rätsel im Namen des Bildes, die anderen griffen einfach zum lapidaren "Ohne Titel" oder nummerierten - wie Jackson Pollock - ihre Großformate nur mehr durch.
Ohne Worte
Als erstem gelang es Marcel Duchamp beide Strategien zu verbinden: "Akt, eine Treppe herabsteigend Nr. 2" nannte er 1912 ein ganz und gar braungrau getöntes, kubistisches Gemälde. Die Zahl im Titel wählte er mit Bedacht, denn ein "Akt die Treppe herabsteigend Nr. 1" ist weder überliefert noch darf man davon ausgehen, dass Duchamp einen solchen jemals anvisiert hat. Vielmehr spielte er mit dem Gedanken, eine bewusste Lücke in seinem Werk zu markieren. An dieser Leerstelle sollte sich die Fantasie des Betrachters oder die Akribie der Kunsthistoriker abarbeiten.
Nr. 1 gesucht
Theodore Roosevelt war einer der ersten, der in den heimtückischen Hinterhalt dieses Bildtitels geriet und sich prompt enorm verwirren ließ. Als das Bild 1913 auf der ersten Weltkunstausstellung, der Armory Show in New York, zu sehen war, erkannte der ehemalige Präsident der Vereinigten Staaten auf der etwa 150 mal 90 Zentimeter messenden Leinwand bestenfalls einen Stapel zerschredderter Schuhkartons, ein geöffnetes Burgverlies mit einem Dutzend umkippender Ritterrüstungen oder eine einstürzende Ziegelmauer.
Jedenfalls fand er zu seiner Enttäuschung keine nackte Dame, die anmutigen Schrittes Stufen in absteigender Folge nahm. - So wie es der Bild-Titel verhieß. Daher verglich er das Bild mit dem Teppich eines Navajo Indianers in seinem Badezimmer und gab dabei eindeutig jenem Stück den Vorzug.
Nicht genug: Auch die Kunstkritiker der amerikanischen Tagespresse reagierten auf das Auseinanderklaffen von Bildtitel und Sujet ziemlich verstört. Außerdem waren manchen von ihnen kubistische Bilder, die einen Gegenstand von mehreren Seiten gleichzeitig oder gar in Bewegung darstellten, generell suspekt: Sie beklagten, dass die Kunst nie zuvor so konfus gewesen sei und die Leute dermaßen in Rage versetzt hätte. Der Chicago Record-Herald prophezeite den Kubisten gar ein baldiges Ende.