Der Wutbürger ist kein schwäbisches Phänomen des 21. Jahrhunderts. Auch Bayern protestieren gern. Und traditionell. Besonders unbeliebt war der Neubau für das Münchner Rathaus, für das am 25. August 1867 der Grundstein gelegt wurde.
Im Leben jeder florierenden Stadt kommt irgendwann der Moment, an dem etwas zu klein wird: die Stadtmauer, der Bahnhof, oder der Flughafen. Dann heißt es, frei nach Wilhelm Busch: Also lautet ein Beschluss, dass der Mensch was bauen muss. Nicht immer aber sind Bauherren und Bevölkerung darüber einer Meinung.
Zu groß und zu gotisch
Mitte des 19. Jahrhunderts war München aus seinem alten Rathaus herausgewachsen. Da wohnten in München schon 160.000 Menschen - viermal mehr als fünfzig Jahre zuvor. Der Ärger um das neue Rathaus begann mit dem Beschluss, ein großes Gebäude am Marienplatz zu errichten. Die Münchner Bürger befanden, ein neues Rathaus verschlinge öffentliche Gelder, die anderswo dringender gebraucht würden.
Allen Protesten zum Trotz schrieb die Stadt einen Architektenwettbewerb aus.
Ein junger Österreicher gewann: Georg Hauberrisser. Der 25-jährige Student hatte noch nichts gebaut, und bald schon sprach sich herum, dass er die Zusage nur bekommen habe, weil einer der Magistratsräte den ursprünglichen Favoriten aus dem Rennen warf, indem er in letzter Minute dagegen stimmte. Mit dieser einen Stimme war die Mehrheit auf Hauberrissers Seite.
So kam es, dass im Sommer 1867 mit dem Bau des neuen Münchner Rathauses begonnen wurde. Ob man die Grundsteinlegung feierlich begehen sollte, darüber grübelte der Magistrat eine Weile - immerhin würde eine solche Zeremonie wieder Kosten verursachen, ein Funke im Pulverfass der öffentlichen Meinung. Schließlich feierten sie doch. Am 25. August 1867, dem Geburtstag König Ludwig des Zweiten.
Was so vielen Gegnern an jenem Gebäude nicht behagte, war neben den Kosten auch das Aussehen. Hauberrisser plante einen Prunkbau im neugotischen Stil, als Symbol für die blühende Epoche der deutschen Gotik.
Von Baubeginn an schimpfen Kritiker auf den "Pfaffenstyl"; eine Jugendzeitschrift spottet im Jahr 1905: "Unter den gotischen Figuren des Rathausneubaues ist es soeben wegen Überfüllung zu einer Rauferei um den Platz gekommen. Vor Zugang weiterer gotischer Figuren wird deshalb dringend gewarnt."
Immer wieder kommt es zu Verzögerungen im Zeitplan, das Budget ist schon kurz nach Baubeginn überschritten. Der Volkszorn kocht. Manche fordern gar den Abriss. 1870 überlegt die Stadt tatsächlich, das Projekt einzustellen. Doch dafür ist es dann doch schon zu weit gediehen.
Zuckerl für die Wutbürger
1909, 42 Jahre nach der Grundsteinlegung, ist das neueste repräsentative Bauwerk Münchens schließlich fertig. Heute sind die Münchner längst versöhnt mit ihrem Rathaus. Der Grund dafür ist vielleicht auch ein kleines aber entscheidendes Detail an dem - zuvor ebenfalls heiß umstrittenen - Rathausturm. Kurz vor der Fertigstellung spendierte ein Sponsor noch eine besondere Attraktion: das berühmte Glockenspiel, mit 32 beweglichen Figuren und
43 Glocken. Bis heute stehen täglich hunderte Schaulustige aus aller Welt vor dem Rathaus, blicken erwartungsvoll zum Turm auf und erfreuen sich, wenn es 11, 12 oder 17 Uhr schlägt, am Tanz der Schäffler zum Glockenklang.