Die Spermazelle eines Mehlwurms brachte die Lösung. In dieser Zelle entdeckte die Amerikanerin Nettie Stevens zum ersten Mal ein Y-Chromosom. Die Biologin, die am 7. Juli 1861 geboren wurde, war einem uralten Rätsel auf der Spur.
Wird's ein Junge oder ein Mädchen? Ganze Königreiche sind schon zerbrochen an dieser Frage. Ganz zu schweigen vom Stress für die Mütter, wenn es wieder - "nur" eine Tochter geworden war. Denn Schuld war - na klar - SIE.
Es brauchte wohl eine kinderlose, unverheiratete Frau, um diesen Mythos zu erschüttern. Diese Frau hieß Nettie Stevens, geboren am 7. Juli 1861 in Vermont in den USA. In einer Zeit, in der Frauen und Mädchen froh sein konnten, überhaupt eine ordentliche Schulbildung zu bekommen, kämpfte sich Nettie Stevens nach oben. Sie absolvierte die High School und bildete sich - bis sie
19 war - zur Lehrerin und Bibliothekarin weiter. Doch das war nur der Anfang.
Sie sparte ihr Geld, finanzierte sich davon erst ein echtes Lehramtsstudium, arbeitete wieder, sparte wieder und studierte dann Biologie.
Y-Chromosom im Mehlwurm-Spermium ...
Mit 39 war Nettie Stevens endlich dort angelangt, wo sie schon immer hinwollte: in einem Forschungslabor. In der Arbeitsgruppe von Edmund Beecher Wilson, am Bryn Mawr College in Pennsylvania, machte sie sich daran herauszufinden, wie denn nun das Geschlecht eines Lebewesens wirklich bestimmt wird. Ende des 19. Jahrhunderts dominierten dazu drei Theorien die Forschungslandschaft. Nummer eins: Äußere Faktoren aus der Umwelt sind verantwortlich. Nummer zwei: Es liegt an der Vererbung - also Mädchenfamilien bringen immer noch mehr Mädchen hervor. Und Nummer drei: die Eizelle der Frau ist schuld. Daran rüttelte keiner.
Doch Nettie Stevens machte eines Tages im Labor eine überraschende Entdeckung. An einem Mehlwurm. Genauer: an der Spermazelle eines Mehlwurms. In der fand sie nämlich ein Chromosom, das deutlich kleiner war als alle anderen Chromosomen. Eines, das sie so in keiner anderen Zelle des Wurms wieder finden konnte. Und jetzt wird's interessant: auch nicht in der Eizelle des weiblichen Mehlwurms.
Nettie Stevens wurde neugierig und suchte nach diesem kleinen Chromosom in Spermazellen anderer Mehlwürmer - dem, das später als das Y-Chromosom bekannt werden sollte, weil es die Form des Buchstabens Ypsilon annimmt.
Sie wurde fündig. Jedes zweite Spermium hatte dieses eine kleine schrumpelige Chromosom. Lag hier die Lösung für das jahrtausendealte Problem der Mütter? Das Geschlecht wird über die Chromosomen bestimmt? Und auch noch durch den Vater? 1905 veröffentlichte sie ihre Theorie. Ohne großen Widerhall. Die männlich-dominierte Wissenschaft wollte nicht glauben, was diese unverheiratete, kinderlose Frau da erzählte.
... nur X in der Taufliegen-Eizelle
Doch Nettie Stevens gab nicht auf. Sie machte Versuche an Eizellen der Taufliege und fand darin immer nur ein großes Chromosom, das X-Chromosom. Nettie Stevens hatte es jetzt bewiesen: Die Spermazellen der Männer legen das Geschlecht des Kindes fest - wer Y und X bekommt, wird ein Junge, wer zweimal X hat, ein Mädchen. Was für ein Durchbruch! Dafür sollte man doch fast den Nobelpreis bekommen, oder? Zumindest Ruhm und Ehre! Nettie Stevens bekam nichts von alledem. Ihr Chef, Edmund Beecher Wilson verkündete ihre Ergebnisse in einer Neuauflage seines eigenen Buches, ein anderer Kollege betitelte sie später als Technikerin nicht als Wissenschaftlerin. Nettie Stevens starb nur wenige Jahre später an Brustkrebs, noch bevor sie ihre Professur für Genetik antreten konnte.