Das Jahr 1906 war ein Katastrophenjahr. Trotzdem blieb eine Katastrophe besonders im Gedächtnis: das Erdbeben von San Francisco, vom 18. April 1906. Der Grund dafür: Die Menschen haben wie wild fotografiert.
"Bad news is good news" lautet eine der Weisheiten moderner Medienmacher. Sie bedeutet nichts anderes, als dass sich schlechte Nachrichten gut verkaufen. Wenn ein Atomkraftwerk ausbrennt, Flugzeuge in Wolkenkratzer krachen oder ein Tsunami Hotelanlagen fortspült, dann bringt das allemal höhere Einschaltquoten als jeder noch so erfreuliche Erfolg im Kampf gegen die Verletzung von Menschenrechten.
Selbstportraits vor Trümmern
Noch unbedeutender als positive Nachrichten sind im Rahmen dieser leicht pervers anmutenden Logik eigentlich nur solche Ereignisse, die in den Medien gar keinen Niederschlag finden. Was nicht im Fernsehen kommt, hat praktisch nicht stattgefunden.
Seit wann diese Regeln gelten, ist schwer zu sagen, aber als einen Meilenstein in der Entwicklung auf sie hin könnte man das Jahr 1906 ansetzen. 1906 war ein Katastrophenjahr. Im Januar ereignete sich das stärkste bis dahin von Apparaten aufgezeichnete Erdbeben. Es verursachte im Pazifischen Ozean eine Flutwelle, die zahlreiche Städte und Dörfer entlang der Westküste Südamerikas überschwemmte, kostbare Ackerflächen vernichtete und ungezählte Menschenleben forderte.
Im Februar wurden sowohl auf der Karibikinsel Santa Lucia als auch im Kaukasus schwere Erdstöße registriert. Im März forderte ein gigantisches Beben auf der Insel Taiwan mehr als zwölfhundert Todesopfer, und ab Anfang April schleuderte der Vesuv zehn Tage lang Gestein in den Himmel - mehr als einen Kilometer hoch.
Am 18. April, kurz nach fünf Uhr morgens, bäumte sich in San Francisco die Erde auf. 150 Sekunden lang dauerte das Beben. Das Urelement, das im Anschluss daran seine zerstörerische Gewalt entfaltete, das Feuer, wütete vier Tage und Nächte, und es brachte noch weit schlimmere Verheerungen mit sich. Insgesamt sollen etwa dreitausend Menschen ihr Leben verloren haben.
Mehr als die Hälfte der gut vierhunderttausend Einwohner San Franciscos wurden obdachlos, die allermeisten von ihnen flohen aus der Stadt. Unter denen jedoch die blieben, breitete sich eine bis dahin nicht gekannte Mode aus: das Fotografieren.
Im Jahrzehnt vor dem Erdbeben waren kurz nacheinander ein erschwinglicher Fotoapparat und der Celluloid-Rollfilm auf den Markt gekommen. Damit lichteten sich die Menschen nun tausendfach ab: Bier trinkende Männer, sich umarmende Paare, Familien beim Picknick - alle vor der Kulisse der Zerstörung und des Schreckens. Vielleicht halfen ihnen die Fotos mit der Katastrophe fertig zu werden. Vielleicht bringen die Aufnahmen das Gefühl des "Hurra, wir leben noch!" zum Ausdruck. Auf jeden Fall wurde das Erdbeben von San Francisco durch diese Bilder ausführlicher dokumentiert als irgendein früheres Ereignis von vergleichbarer Dimension. Die Welt blickte auf San Francisco.
Katastrophen ohne Spuren
In den Katastrophengebieten fern der kalifornischen Metropole hatte so gut wie niemand fotografiert - ergo blickte niemand hin. Noch 2006, als sich das Beben zum hundertsten Mal jährte, unterblieb jegliches Gedenken an die Opfer der Naturgewalten in Kolumbien und Ecuador, in Italien und im Kaukasus, auf Santa Lucia und Taiwan. Dort, abseits jeder Medienpräsenz, war nichts passiert - jedenfalls nichts, was im öffentlichen Bewusstsein irgendwelche Spuren hinterlassen hätte. Oder aber die Wunden waren dort bereits vollständig verheilt. Das wäre eine gute Nachricht gewesen. Aber: good news is no news.