Der Mensch wünschte sich Herr über die Zeit zu werden - zumindest so weit, dass er keine Züge mehr verpasst. Erheblich gemindert wurde denn auch dieses Risiko durch die Einführung einer einheitlichen Zeitbestimmung.
Größenwahn ist faszinierend: durch ihn schwingt sich die Fantasie zu Höchstformen auf. Ein besonders großer Größenwahn beschäftigt sich mit der Frage, wie der Mensch Herr über die Zeit werden kann. Interessant ist, dass im Rückblick frühere Epochen vor dieser Fantasie quasi noch nahezu kapitulierten! Sie erfanden einfach einen Gott, dem sie zutrauten, Einfluss auf die Zeit und die Lebenszeit zu nehmen: Chronos hieß der. Im Vergleich zu anderen seiner Kollegen, etwa Pontos, dem Gott der irdischen Binnenmeere und Seen, ist Chronos, der Gott der Zeit, eine Berühmtheit. Ein Grund dafür mag sein, dass Binnenmeere und Seen kaum weniger werden, die Lebenszeit jedoch unvorhersehbar begrenzt ist. Dennoch: im Detail überliefert die Mythologie nicht allzu viel. Chronos soll dem erfindungsreichen Geist der so genannten Orphiker entsprungen sein, Anhänger einer versprengten Religionsgemeinschaft, die in Griechenland und einigen Teilen Italiens beheimatet gewesen ist. Spätere Darstellungen erzählen, wie Chronos unterwegs war: nämlich beflügelt. Riesige Schwingen hat ihm der bayerische Rokokobildhauer Ignaz Günther im
18. Jahrhundert angelegt und ihm dazu zwei eindeutige Symbole in die Hand gedrückt: eine Stundenuhr und eine Sichel.
Für den Gott der Zeit läuft die Zeit ab
Zweifel an der Wirkmächtigkeit dieses Gottes müssen allerdings bald aufgekommen sein - ob des langen Barts, des schütteren Haars und des gesenkten Haupts, so dass andere Visionen von der Einflussnahme auf die Zeit Chronos ablösten: Zeitmaschinen. Erstmals wird 1895 eine solche genauer beschrieben: in dem Roman ‘The Time Machine’ von H. G. Wells.
Das Erstaunliche ist nicht nur, dass der Reisende sich mehr als 800.000 Jahre in die Zukunft beamen kann, sondern auch dass er in der Zukunft haltmachen, später weiterreisen und dann sogar wieder in die Gegenwart zurückkehren kann. Dort allerdings hat der Weitgereiste ein ziemliches Problem: keiner seiner Freunde glaubt ihm die Geschichte. Herr über die Zeit zu werden ist nicht einfach in Abwesenheit der Medien. Das erkennt der Reisende bei H. G. Wells und beschließt, bei der nächsten Zukunftsreise eine Kamera mitzunehmen.
Venezuelas Präsident verstellt die Uhr
Jedoch wäre der Umkehrschluss verfehlt, denn Medienpräsenz ist nicht immer von Vorteil, wenn es um Zeitverschiebungen und Machtverhältnisse geht. Als der venezolanische Präsident Hugo Chávez einmal Herr über die Zeit spielte und die Uhr eine halbe Stunde zurückdrehte, mutmaßten kritische Pressestimmen, diese Entscheidung habe mit seinem lange gehegten Wunsch zu tun, dass Venezuela nicht mehr in der gleichen Zeitzone liegen sollte wie die USA.
Deutschland gibt der Zeit ein Gesetz
Als am 12. März 1893 in Deutschland das ‘Gesetz betreffend die Einführung einer einheitlichen Zeitbestimmung’ wirksam wurde, ging es nicht darum, aus der Zeitzone eines politischen Gegners auszuscheren. Auch sollte keine antike Gottheit gestürzt und durch Zeitmaschinen ersetzt werden. Die deutschen Politiker wollten schlichtweg ganz gewöhnliche Reisen durch benachbarte Regionen etwas erleichtern. Bis dahin hatte sich nämlich die Zeitberechnung nach dem Sonnenstand gerichtet. Und der wurde auf den Kirchturmuhren verschiedener Orte eben verschieden angezeigt. Mit der Einführung der einheitlichen Zeitbestimmung war es dann auch schwieriger, einen Zug zu verpassen. Möglich ist dies ist allerdings immer noch.