Der erste Bestseller auf dem deutschen Buchmarkt war Sebastian Brants "Narrenschiff". Am 11. Februar 1494 erschien die gnadenlose Trottelparade, ein Kassenschlager, den sich bis heute niemand so recht erklären kann.
"Das Narrenschiff". Der Titel klingt seltsam, und das Buch ist - noch seltsamer. Es ist eine schier endlose Trottelparade, eine Aneinanderreihung von über 100 verschiedenen Narrentypen, alles in Reimen. Dann prangt auch noch über jedem Typ ein Holzschnitt mit liebevollen Szenen, die zeigen, mit welcher Art von Einfaltspinsel man es zu tun hat. Alle Narren tragen hübsche Ganzkörpernarrenkostüme, nur das Gesicht bleibt frei unter der Eselskappe mit den beiden Glöckchen. Aber die Narren - und das ist der Sinn der Sache - sind eigentlich ganz normale Leute, Frauen und Männer aus allen Gesellschaftsschichten. Auf dem Titelblatt erscheinen sie als chaotische Schiffsbesatzung auf dem Weg in ein fernes Land, das Narragonien heißt.
Zum Beispiel die Wollüstigen
Und jetzt noch etwas Verrücktes: Das Buch erscheint am 11. Februar 1494 in Basel, geschrieben hat es ein gewisser Sebastian Brant, und es wird der erste Bestseller seit der Erfindung des Buchdrucks rund 50 Jahren zuvor! Praktisch sofort ist es vergriffen. Noch im selben Jahr gibt es die ersten Raubdrucke. Brant schäumt, aber es hilft nichts, er und der Drucker sind der gewaltigen Nachfrage nach dem Buch einfach nicht gewachsen.
Wer sind also Sebastian Brants Verrückte? Natürlich schon mal alle, die irgendwie in Sünde leben. Zum Beispiel die Wollüstigen: Da heißt es: "Die Lust der Welt vergleichet sich / Üppigem Weib, das öffentlich / Sitzt auf der Straß und schreit sich aus, / Dass jedermann komm in ihr Haus / Und die Gemeinschaft mit ihr teil / Weil sie um wenig Geld sei feil..."
Aber Sebastian Brant ist nicht einfach ein Moralapostel. Er ist ein Humanist, Doktor beider Rechte und Literat. Und vor allem: Ihm geht das Mittelalter zu schnell zu Ende! Deshalb hasst er alles Neue seiner Zeit: Erdvermessung, Astronomie, Entdeckungsfahrten - alles Blödsinn, Narrentum. Und das, wo doch gerade Kolumbus vor zwei Jahren Amerika entdeckt hat!
Auch den Buchdruck hält er für Unsinn, der Bestsellerautor. Deshalb sitzt im Narrenschiff der gelehrte Narr auch gleich ganz vorn und sagt: "Von Büchern hab ich großen Hort, / Versteh doch selten drin ein Wort." Brant schimpft auch über die Studienabbrecher, die nicht fleißig lernen wollen wie früher, sondern am Ende im Wirtshaus landen - als Bedienung.
Gnade!
So geht es ewig weiter, endlos, gnadenlos, bis zum Narren, der seine lärmenden Haustiere mit in die Sonntagsmesse bringt. Der moderne Leser ruft da schon lange "Gnade!", und sogar hartgesottene Germanisten sind ratlos: Was um alles in der Welt hat den Erfolg dieses Werkes einst bewirkt? Ist es gerade dessen geistige Dürftigkeit, die dem Durchschnittsmenschen der Zeit so schön entsprach?
Durchschnittsmensch ist auf jeden Fall schon mal gut, weil eines stimmt sicher nicht: Durchschnittsdeutscher. Drei Jahre später erscheint nämlich Brants Sensationserfolg auch auf Latein - in der internationalen Gelehrtensprache! Brants Schüler Jacob Locher hat sich die Mühe gemacht und "Das Narrenschiff" nachgedichtet - jetzt als "Stultífera Navis". Und was soll man sagen? Auf die erste deutsche Erfolgswelle folgt nun eine internationale Woge der Begeisterung.
Also woher kommt´s? Vielleicht liegt die Antwort doch ganz nah! Noch heute gebrauchen wir feststehende Wendungen wie: "Mein Nachbar, der Idiot ..." oder: "Mein Chef, der Depp ...". Ja, die Welt steckt voller Trottel! Den ganzen Tag lang könnte man mit dem Finger auf sie zeigen, oder besser noch ein dickes Buch über sie schreiben. Dann stehen sie da alle drin, alle, nur einer fehlt natürlich, weil er der einzige Normale ist: Ich! Der Trottel ist immer der andere.