GENSCHER UND DIE DEUTSCHE WIEDERVEREINIGUNG
Für den ehemaligen deutschen Außenminister Hans-Dietrich Genscher war die deutsche Wiedervereinigung ein politischer Wunschtraum. Unermüdlich arbeitete Genscher, der selber aus der DDR geflüchtet war, daran, Ost- und Westdeutschland wieder zu vereinen. Deshalb gilt er auch heute noch als einer der wichtigsten Politiker der deutschen Geschichte. Mit seiner Hilfe konnte damals unter anderem der Zwei-plus-Vier-Vertrag geschlossen werden. Im September 1989 konnte er den Ostdeutschen verkünden, dass sie aus der DDR ausreisen dürfen.
MANUSKRIPT ZUM VIDEO
SPRECHERIN:
Er gilt als der deutsche Außenminister.
HANS-DIETRICH GENSCHER (ehemaliger Außenminister):
„Weltbewegend, das ist der Punkt.“
SPRECHERIN:
Hans-Dietrich Genscher: 18 Jahre lang reiste der Liberale um die Welt, in deutscher Mission. Vor 20 Jahren arbeitete er an seinem größten politischen und persönlichen Erfolg.
HANS-DIETRICH GENSCHER:
“Für mich war deutsche Vereinigung also eigentlich die Erfüllung aller meiner politischen Wunschträume.“
SPRECHERIN:
Sie wird konkret mit der Flucht tausender DDR-Bürger auf das Gelände der deutschen Botschaft in Prag im September 89. Sie wollen raus aus der DDR. So wie 1951 der junge Referendar Genscher selbst. Als Außenminister bringt ausgerechnet er, der ehemalige Flüchtling, nun die erlösende Botschaft.
HANS-DIETRICH GENSCHER:
“Wir sind zu ihnen gekommen, um ihnen mitzuteilen, dass heute ihre Ausreise…"
SPRECHERIN:
Der Satz geht im Jubel unter.
HANS-DIETRICH GENSCHER:
“Natürlich war das Ereignis von Prag etwas aufwühlendes, das war ein Signal, dass im Grunde die Teilung Berlins, Deutschlands und Europas nicht mehr aufrecht zu erhalten ist. So kann man sagen, dass diese 4000 oder 5000 Menschen, die dort in der Botschaft waren, wollten für sich Freiheit, aber sie haben Geschichte geschrieben, weil sie der Mauer den ersten schweren Schlag versetzt haben.“
SPRECHERIN:
Kurz darauf fällt die Mauer. In Bonn herrscht Ausnahmezustand. Im Auswärtigen Amt wittert Polit-Profi Genscher die historische Chance. Er und Kanzler Kohl beraten sich, nehmen nach Jahrzehnten der Teilung die deutsche Einheit ins Visier. Die größte Hürde liegt im Osten. Im Februar 1990 reisen Kohl und Genscher nach Moskau. Sie wollen mit Gorbatschow über die so genannte deutsche Frage verhandeln. Gorbatschow ist politisch geschwächt. Die Sowjetunion – wirtschaftlich am Ende – braucht Unterstützung.
Am Abend Pressekonferenz in Moskau. Der deutsche Kanzler und sein Außenminister verkünden eine Sensation: Der Kreml lässt die Deutschen über ihr Schicksal selbst entscheiden. Ein Schicksal in der Mitte Europas, wie beide versprechen.
HANS-DIETRICH GENSCHER:
“Wir sind das Volk in der Mitte Europas und untrennbar mit dem Schicksal Europas verbunden und das half natürlich auch Vorbehalte, die es gab, auch Besorgnisse abzubauen. Und wichtig war, dass niemand einen Zweifel daran haben konnte, dass wir den europäischen Kurs der Bundesrepublik Deutschland fortsetzen.“
SPRECHERIN:
Im Mai beginnen die sogenannten Zwei-plus-Vier-Verhandlungen: mit 2 deutschen Außenministern – DDR und Bundesrepublik – und den vier Siegermächten des Zweiten Weltkrieges: USA, Sowjetunion, Frankreich und England. Gemeinsam verhandeln sie über die Zukunft Deutschlands. Es gilt Grenzen festzulegen, Ängste zu überwinden. Genscher verhandelt selbstbewusst mit den ehemaligen Siegermächten. Und er setzt am runden Tisch seine gesamte diplomatische Routine ein.
WOLFGANG ISCHINGER (ehemaliger Diplomat und Mitarbeiter Genschers im Auswärtigen Amt):
„Das entscheidende Element ist das Element des Vertrauens. Da zahlte es sich eben auch aus, dass Außenminister Genscher in seiner damaligen Rolle, wir sprechen jetzt vom Jahr 1990, auf doch bereits über ein Jahrzehnt, anderthalb Jahrzehnte Außenministertätigkeit zurückblicken konnte. Man kannte ihn so gut, dass man ihm überall traute und vertraute.“
SPRECHERIN:
Genscher lässt nach und nach von hunderten Beamten den Zwei-plus-Vier-Vertrag verfassen. Darin steht, dass Bundesrepublik, DDR und Berlin vereinigt der Nato beitreten, die Grenzen zu Polen anerkannt werden. Selbst ist Genscher ständig unterwegs, kämpft um die Einheit.
IRMGARD SCHWAETZER (ehemalige Staatsministerin im Auswärtigen Amt):
“Ich könnte gar nicht nachvollziehen, wie oft er in diesen Monaten in den Vereinigten Staaten gewesen ist. Mal eben hingeflogen, zwei, drei Gespräche geführt, sofort wieder zurück geflogen und weiter verhandelt hier in Europa.“
SPRECHERIN:
Im September 1990 ist es dann soweit, die Verhandlungen sind abgeschlossen, der Vertrag soll hier in Moskau unterschrieben werden. Doch plötzlich schießt Margret Thatcher quer. Alles steht auf dem Spiel. Genscher setzt nun auf den Verbündeten USA.
HANS-DIETRICH GENSCHER:
„So dass ich in der Nacht noch Herrn Baker habe wecken lassen, bin ihm sozusagen auf die Pelle gerückt im Hotel und habe gesagt, wir müssen das morgen so unterschreiben, wie wir das vereinbart haben. Ich hatte Sorge, wie lange das Zeitfenster geöffnet sein würde.“
SPRECHERIN:
Doch am nächsten morgen geht alles gut. Die Siegermächte unterzeichnen gemeinsam mit ihren deutschen Kollegen die außenpolitischen Bedingungen zur deutschen Einheit und entlassen das Land in die volle Souveränität. Dass das auch seinen Preis hatte, gibt Genscher zu.
HANS-DIETRICH GENSCHER:
„Wir haben damals einen Betrag gezahlt, der letztlich der Unterbringung der rückgeführten sowjetischen Streitkräfte dienen sollte. Ich glaube es waren 12 Milliarden. Wenn ich bedenke, wie viel heutzutage zur Stützung von Banken und Währungen ausgegeben wird, ist das ein vergleichsweise bescheidener Betrag.“
SPRECHERIN:
Und er war es wert, davon ist Genscher überzeugt. Stolz blickt der ehemalige Außenminister auf sein Lebenswerk und auf ein vereinigtes Deutschland in Europa.
GLOSSAR
Liberale/r, der/die – das Mitglied einer liberalen Partei (hier: Mitglied der FDP)
Mission, die – der Auftrag
Wunschtraum, der – der größte Wunsch
etwas wird konkret – hier: etwas wird real
Botschaft, die – die diplomatische Vertretung eines Staates in einem anderen Staat
Referendar/in, der/die – hier: jemand, der nach dem Studium praktisch zum Juristen
ausgebildet wird
erlösend – so, dass man sich keine Sorgen mehr machen muss
etwas geht in etwas unter – hier: etwas ist nicht mehr zu hören
aufwühlend – emotional
etwas aufrecht erhalten – etwas so lassen, wie es ist
Geschichte schreiben – etwas tun, über das Menschen noch lange Zeit später reden werden
jemandem/etwas einen Schlag versetzen – hier: etwas gegen jemanden/etwas tun
Ausnahmezustand, der – hier: große Aufregung; großes Durcheinander
etwas wittern – hier: etwas ahnen, das bald passieren wird
etwas ins Visier nehmen – hier: umgangssprachlich für: etwas planen
Hürde, die – das Hindernis
Sensation, die – ein besonders wichtiges oder überraschendes Ereignis
Kreml, der – der Staatssitz des russischen Präsidenten
Vorbehalt, der – der Zweifel an einer Sache
einen Kurs fortsetzen – etwas so weitermachen, wie bisher
Routine, die – die Erfahrung bei einer Tätigkeit
etwas nachvollziehen – hier: sich erinnern
quer schießen – umgangssprachlich für: dagegen sein
etwas steht auf dem Spiel – etwas droht zu scheitern
Verbündete/r, der/die – hier: der politische Partner
jemandem auf die Pelle rücken – umgangssprachlich für: jemanden stören
Zeitfenster, das – der Zeitraum, in dem etwas erledigt werden kann
Souveränität, die – die Selbstständigkeit
etwas hat seinen Preis – hier: etwas kostet etwas
rückgeführt – zurückgebracht
bescheiden – hier: klein
Lebenswerk, das – die größte Leistung, die jemand in seinem Leben erbracht hat