Sie gingen aufeinander zu und schauten einander nicht an. Es war Mittag, an einem grauen Mittwoch. September. Noch lag die schwere Trägheit der Sommerhitze in der asphaltgeladenen Luft. Aber sie flaute bereits ab. Es wurde kühler. Beide atmeten die Ahnung feiner Regentröpfchen ein als sie stehenblieben. So nah voreinander, dass der eine die unsanft rasierten Bartstoppeln auf den Wangen des anderen erkennen konnte. Schmirgelpapier.
Der Rücken des anderen war feucht, wie die ersten vorsichtigen Tropfen, die in ihre Haare rieselten. Er schwitzte und wusste nicht, warum. "Wie..", ein verhallendes Wort schwang in der Luft zwischen ihnen. Er hatte zu früh begonnen. Kein Blickkontakt, noch immer nicht. Das Wie flatterte auf kleinen Schwingen davon, während der andere sich räusperte. Das grüngesprenkelte Braun seiner Augen schien auf das Gesicht seines Gegenüber, der erschrocken einen Schritt zurück machte. Er hatte noch nicht mit diesem Blick gerechnet.
"Ich weiß nicht, was du von mir willst." Lilos Augen irrten wie kleine Lichtpunkte auf der Flucht über die Umgebung, versuchten, sich an den Häusern festzuhalten, die sie umragten, und konnten doch nicht bleiben. Sie wollten dem anderen Augenpaar nicht begegnen.
Merlin wusste, dass er nichts entgegnen konnte, er hatte keine Antwort. Ohne dass er es wollte, entschlüpfte ihm ein Seufzer, so fein, dass er das Wie nicht mehr erreichte. Es war in die Luft über ihnen geschwebt. "Lass uns gehen", flüsterte er und kaum hatte er es ausgesprochen, drehte er um, machte auf dem Absatz kehrt und begann, mit großen Schritten auf den feuchten Pflastersteinen zu gehen.
Er spürte, wie sein Herz sich rührte, es wurde unruhig und pochte immer lauter, sein Atem wurde unsanft durchgeschüttelt. Bis er hörte, dass Lilo ihm folgte. Lilo, dessen Eltern ihm den Namen eines Mädchens gegeben hatten, weil sie ihn nicht erwartet hatten. Ein paar Schritte hinter ihm erklang das Geräusch seiner Schuhe. Er trug die schwarzen Cowboystiefel mit dem grünen Absatz. Sie erzeugten ein lustiges Klappern wenn Lilos Füße den Boden berührten, sodass sich ein Lächeln behutsam auf Merlins Gesicht stahl. Aber es verschwand sofort wieder als ihm einfiel, was gerade geschah.
Regentropfen spielten mit Lilos blauen Haaren, die sich wie eine zweite Haut um seinen Kopf zu legen begannen. Widerspenstige Locken ringelten wie Efeu seinen Kiefer entlang. Er schnippte sie nicht wieder an ihren Platz zurück, ihm war nicht danach. " Lauf nicht so schnell, Merlin!", wollte er sagen, hätte er immer gesagt, aber er tat es nicht. Seine Gedanken kreisten um den anderen, schlichen leise auf ihn zu, um ihn aufzuhalten, aber seine Stimme hatte Angst. Obwohl Merlins schwarze Lederjacke an ihm hing wie ein Panzer, sodass seine Schultern immer weiter herabsanken, schritt er vorwärts, als würde ihn nie mehr etwas daran hindern können. Lilos Herz seufzte so laut, dass er meinte, die ganze Welt hätte es gehört. Wenn er stehenbliebe, Merlin würde es nicht merken. Genauso gut könnte ihm niemand folgen. Lilo hörte das Prasseln der Regentropfen, das plötzlich so ohrenbetäubend wirkte wie ein herabsausender Presslufthammer. "Warte auf mich", schrie sein Herz, aber der Regen übertönte seine Stimme.
Während er lief und floh, vor seinen Gedanken, vor den Worten, die tief in seinem Inneren darauf warteten, frische Luft zu schnuppern, floh vor dem Gespräch mit Lilo, dass er so gar nicht gewollt hatte, rollten zwei Tränen unbemerkt aus seinen Augen. Sie waren blau, so blau dass sich das kleine Stückchen Himmel, das zwischen den Wolken hervorgelugt hatte, schnell wieder zurückzog. Aber hinter den Augen fühlte Merlin, wie eine tiefdunkle Decke sich immer schneller über sein Inneres zu legen begann. Sie hatte sein Herz schon fast erreicht. Merlin hatte Angst vor diesem Moment, aber er konnte nicht stehenbleiben. Seine Füße gehorchten ihm nicht mehr, sie zertraten spiegelglatte Pfützenoberflächen und hackten den sich darin spiegelnden Himmel in tausend kleine Stücke. Vorwärts, immer weiter, schienen sie ihm ins Ohr zu flüstern, und er lief und lief. " Bleib doch stehen", kam ganz sanft, wie weit weg, eine Stimme. Aber sie war so leise, dass Merlin sie nicht einmal hören konnte.
Das Wasser schlang sich wie eine Schlange um Lilos Hals, die seine Worte zurückhalten wollte. Er hätte Merlin so gern zugerufen, anstatt wie ein Füße hebendes Schaf hinter ihm herzulaufen, aber die Schlange zog ihre Schlinge zu. Langsam drückte sie die Luft aus seiner Kehle, die Welt verschwand in weißen Schwaden. Lilo wollte weitergehen, so tun als spüre er die Wasserhaut der Schlange nicht, aber sie war zu stark für ihn. Seine Hände glitten ab an ihrer Schlinge, sie rutschten immer wieder ins Leere. Er konnte nicht mehr weitergehen, musste stehenbleiben und sich an einer gelben Straßenlaterne festhalten, die neben ihm stand. Sie hielt sein Gewicht, aber die Schlange wickelte sich noch enger um seinen Hals. Lilo keuchte, er bekam fast keine Luft mehr. Und Merlin ging einfach weiter, während der glitschige Laternenpfahl vom vielen Regen immer rutschiger wurde. Lilo drohte abzurutschen. Er wollte rufen, aber es ging nicht. In seinen Ohren dröhnten die Regentropfen, er sah nur noch einen Vorhang aus grauem Wasser vor seinen Augen und spürte, wie der letzte Rest Atem aus seinem Körper wich. Wenn sie doch nur vorher miteinander gesprochen hätten. Aber es war zu spät, die grünen Absätze schabten langsam am Ziegelpflaster der Straße entlang, dann war alles ruhig. Nur der Regen prasselte neben den Stiefeln auf die Straße, floss in kleinen Sturzbächen aus Lilos Haaren und über seine bleichen Wangen. Leise löste die Schlange ihren würgenden Griff und schlängelte lautlos davon. Wenn sie ihren Schwanz bewegte, ertönte ein sachtes Rasseln.
Ihr Bauch berührte die Straße nur ganz leicht, nichts war zu hören. Auch Lilos Körper war verstummt. Nur der Regen störte sich an nichts.
Merlins Herz versuchte ihn zu warnen, indem es aufhörte zu schlagen. Er blieb atemlos stehen und konnte sich nicht rühren, bis es seine Arbeit wieder aufnahm. Stoßweise kam der Atem in die feuchte Luft. Es war so still, trotz der Tropfen auf den Steinen. Merlin sah sich um. Erschrocken stellte er fest, dass Lilo nicht hinter ihm war. Keine klappernden Absätze mehr.
Dann fiel sein Blick auf den großen Körper, der wie hingegossen auf dem Boden lag. Lilos Beine ragten auf die Straße hinaus, seine rechte Hand hielt den Laternenpfahl noch umnklammert. Aber die Finger griffen nicht mehr richtig zu, sie rutschten langsam nach unten. Merlin rannte zurück.
Als Lilo die Augen wieder aufschlug, regnete es nicht mehr. Er schüttelte leicht den Kopf, um die Schwere, die sich eingenistet hatte, daraus zu vertreiben; dann blickte er über sich, direkt ins Blau von Merlins Augen.
Sie waren nass, ein kleiner Tropfen konnte sich nicht mehr halten und purzelte über den Lidrand auf Lilos Lippen. Er schmeckte salzig. Merlins Stimme klang sehr rau als er fragte: "Wie fühlst du dich?" Lilos Zunge rollte sich um den kleinen Tropfen und nahm ihn vorsichtig in den Mund, bevor er antworten konnte: "Ich weiß es nicht, aber ich glaube, dass es mir gut geht." Erstaunt bemerkte er, dass ein Zittern in seiner Stimme lag. Aber die Schlange war fort, das stellte er erleichtert fest, als er mit einer Hand seinen Hals berührte. "Wo sind wir?" "Ich..", Merlin sprach nicht weiter, sondern legte seinen Kopf in beide Hände. Ein unterdrücktes Schluchzen drang an Lilos Ohr. Es beunruhigte ihn, so hatte er Merlin niemals gesehen. Aber der andere fing sich schon nach wenigen Sekunden wieder und fuhr sich einmal über die Augen, bevor er weiterredete: "Es war nicht mehr weit bis zu mir, ich habe dich hierher getragen." Lilo konnte es nicht glauben: "Die Treppen hoch? Du ganz alleine?" "Der Hausmeister hat mir geholfen, du warst ein wenig zu schwer für mich." Lilo lächelte leicht: "Ich weiß, ich sollte abnehmen." "Nein. Du gefällst mir gut, so wie du bist." Hatte er zuviel gesagt? Erschrecken huschte kurz über Merlins Züge, dann glätteten sie sich wieder, denn Lilos Augen lächelten ihn an. "Wie lange war ich ohnmächtig?", fragte er nach einer Weile. Merlin hob die Schultern:
"Nicht lange, vielleicht eine Viertelstunde." Wie er sich dabei gefühlt hatte, verschwieg er. Für seine Angst war nun kein Platz mehr.
Lilo fiel zum ersten Mal auf, dass sie wieder miteinander redeten, ohne dass seine Stimme sich hätte fürchten müssen. Er seufzte. Aber dieses Mal war es ein glücklicher Seufzer. "Geht es dir wieder schlechter?", fragte Merlin besorgt. Er schaute plötzlich so zerfurcht, dass Lilo lachen musste. "Nein, mit mir ist alles in Ordnung. Ich liebe dich." Es war so einfach gewesen, es zu sagen, dass Lilo nicht darüber nachgedacht hatte. Die Worte hatten schon lange auf seiner Zunge gelegen und nun hatte er ausgesprochen. Sie fühlten sich gut an. Aber als er in Merlins Augen schaute, wusste er nicht mehr, ob er sie hätte sagen sollen. Sie waren so leer, so ausdruckslos. "Tut mir Leid", flüsterte er und hätte sich selber ohrfeigen können. Es war nicht der richtige Platz für solche Worte, so ein Gefühl. Da sah er, wie Merlins Augen sich wieder mit Tränen füllten.
Hinter ihm huschten kleine Füßlein die rotschillernde Wand entlang, tausend mal zwei winzige Fußpaare. Es waren seine Gefühle für Lilo, seine unaussprechliche Zuneigung, die weiche Angst, ihn zu verlieren, die gelbliche Eifersucht, der die Röte in die kleinen finsteren Augen stieg, der wachsame Zorn, wenn sie sich stritten, die dunkelviolette Begierde, wenn er den Hals des anderen küsste, die leise Zärtlichkeit nach einer langen Nacht, die sprühende Freude, wenn sie einander lange nicht gesehen hatte, die regnende Sehnsucht nach der Sprache des anderen, nach seinen Lauten, der trockene Schmerz der Einsamkeit, der ihn erdrückt und in seinem Zimmer gehalten hatte in den letzten Monaten, und das stumme Mitleid, das alle anderen erfüllte, wenn sie ihn zu lang ansahen. Die rote Wand war voll von Merlins Gefühlen, aber Lilo bemerkte sie nicht. Er kämpfte mit seiner linken Hand, denn diese wollte unbedingt zu Merlin, wollte dessen Hand nehmen und seine Finger streicheln, doch Lilo konnte nicht. Er fürchtete sich vor einem Rückzug des anderen. Das hätte er nicht ertragen.
Im Zimmer hing ein Bild an der Wand, das zwei Seiltänzer zeigte. Sie näherten sich einander auf einem Seil, das so dünn war, dass man es beinahe mit der Luft hätte verwechseln können. Unter ihnen toste ein speiend grüner Fluss, schlug Wirbel in die Farbe des Bildes und drang über den Bilderrahmen. Lilos Augen lenkten seinen Blick auf das Bild und er merkte, wie sehr sie ihnen ähnlich sahen, diese beiden schwankenden Gestalten da oben, zwischen Himmel und Fluss, verbunden nur durch einen dünnen Faden Seil. Er hatte Angst, denn er fühlte, wie die Flusswirbel an den Sohlen seiner Füße rissen und ihn nach unten zerren wollten. Wie stemmte er sich dagegen, aber er roch schon das wilde Wasser der Fluten unter ihm. Der Geruch stieg ihm in die Nase und schien sagen zu wollen, komm, lass dich fallen, er wird dich nicht halten, dein Freund.
Merlins kleiner Finger bewegte sich. Erst war es nur eine leise Zuckung, er war sich unsicher, und sah die Hoffnung an, deren Augen so sonnig schimmerten wie eine Sonnenblume auf einem heiteren Feld an einem Sommertag.
Sie nickte ermutigend, bevor sie sich huschend zu den anderen Gefühlen gesellte, die auf dem Weg zu Merlins Lippen waren. Die Zunge bereitete sich vor auf ihre Gäste, sie glättete ihre Unebenheiten, rieb den Belag des Tages beiseite und legte sich aus wie ein roter Teppich. Der kleine Finger schien tief durchzuatmen, er wusste, dass er sich gegen seine Brüder würde durchsetzen müssen, denn sie wollten nicht in die Nähe der anderen Hand gebracht werden. Sie waren müde vom Schleppen, das Tragen von Lilos Körper hatte sie angestrengt. Der kleine Finger konnte sich nicht darum kümmern.
Trotzig strebte er vorwärts, versuchte, den Protest der anderen zu ignorieren, die ihn mit vereinten Kräften zurückhalten wollten. Aber wenn er sich etwas in den Kopf gesetzt hatte, dann würde er es auch ausführen und sich von niemand daran hindern lassen. So strebte er immer weiter, zog und drückte und stemmte und presste, bis er nur noch einen Hauch breit von Lilos Fingern entfernt war. Diese hatten erkannt, was er vorhatte, und versuchten ihrerseits, sich ihm zu nähern, ohne dass Lilo etwas davon mitbekam. Das war nicht so schwierig, denn Lilos Augen sahen nur gebannt zu Merlins Blick, der ihm nicht begegnen wollte. Obwohl er sonst nicht schüchtern war.
"Fast", flüsterte der mutige kleine Finger, da fühlte er den warmen Atem der anderen Hand. Sie lächelte ihn an und als seine Brüder die Wärme ihres Lächelns fühlten, zogen sie an und legten sich leise, fast anmutig, in die andere Handfläche. Lilos Augen flogen erschrocken an sich herab, bis er die fremden und doch so vertrauten Finger sah. Ein feiner Gruß wehte zu ihm empor, sie freuten sich, ihn wiederzusehen und zu fühlen. Er sah zu Merlin herüber. Der schien nähergekommen zu sein, obwohl er sich nicht bewegt hatte. "Hallo", sagte Lilo ganz leise, um ihn nicht zu erschrecken. Seine Stimme bemühte sich, so weich wie möglich zu klingen, wie Samt, damit Merlin wusste, wie er es meinte. Erst schien der andere nicht zu wissen, was er tun wollte, es sah so aus, als wolle er zurückweichen. Doch die Gefühle hatten seine Zunge erreicht und hielten ihn fest. Da öffnete er den Mund und alle seine Gefühle waren in seiner Stimme, als er Lilo antwortete: "Hallo, du." Sie schauten einander an, ihre Augen füllten sich mit Tränen, bis sie überliefen und ihre Kleidung überschwemmten mit blauen Tränen. Merlin und Lilo neigten ihre Köpfe, bis sich die weiche Haut ihrer Stirnen berührte und vor Wiedersehensfreude fast gejuchzt hätte. Aber sie hielt sich zurück, um dem Freudenschrei der Lippen Platz zu machen, der aus dem Zimmer mit der roten Wand hinaus drang in die große weite Welt, als sich die Lippen trafen und einander endlich wieder streicheln konnten.