Warum ich Friseurin geworden bin? Ja, es heißt Friseurin, nicht Frisöse. Das klingt abfällig. Das müssten Sie doch langsam wissen. Ganz einfach. Ich liebe meinen Beruf. Ich arbeite gern mit Menschen. Denn mein Frisiersalon ist ein Ort der Verwandlung. Mich suchen Frauen auf, die das Beste aus ihrem Typ machen wollen, die eine aufregende Verabredung haben, die kurz vor der Heirat ihrer Tochter stehen, die einen Geschäftstermin vor sich haben. Natürlich hauptsächlich auch solche, die einfach nur etwas für ihr Äußeres tun wollen. Aber ein bisschen Verwandlung ist immer dabei.
Leider verwandele ich meist andere, und ich selber bleibe die, die ich bin. Meine Haare sind fein und ungemein stachelig, so dass ich sie nicht vernünftig wachsen lassen kann; ich trage sie auf eine burschikos-kurze Art, die wenig zu meinem Typ passt. Ich weiß, es passt wirklich nicht zu mir. Mein Haar ist schuld.
Nur einmal hätte ich fast auch mein eigenes Leben verändert, nach einer merkwürdigen Begegnung. Es ist ärgerlich, daran zu denken, wie nahe ich dran war. Nur ein Detail hat mich dann aufgehalten.
Es muss Anfang April letzten Jahres gewesen sein, als die erwähnte Begegnung hier in meinem Frisiersalon stattfand. An diesem Tag war ich allein im Laden. Meine Kollegin und angebliche Freundin Petra hatte sich, wie so oft am Freitag, krank gemeldet, wegen eines "Infekts". Der Infekt hieß Markus und war ein pickeliger Typ, der sich als Freiberufler häufig den Freitag frei nehmen konnte. Petras Schwindelei ärgerte mich heute besonders, denn ich hatte trotz mauer Finanzsituation eine Flasche Sekt gekauft, um mit ihr auf unsere einjährige Zusammenarbeit anzustoßen, so schwierig sie sich auch bisher gestaltet hatte.
Die Ladenglocke klingelte energisch und schreckte mich aus trüben Gedanken auf. Durch die kurzfristige Absage von Frau Busemann war eine halbe Stunde Leerlauf entstanden, die ich mit einer abgestandenen Cola Light und einer zurückgelassenen Frauenzeitschrift im Hinterzimmer verbracht hatte.
Ein Blick auf die Uhr: Viertel vor vier. Die nächste Kundin war erst für sechzehn Uhr eingetragen, aber gut, wenn sie früher da war, kam mir das heute sehr gelegen.
Mit hochgezogenen Mundwinkeln betrat ich den Ladenraum. Eine gut gekleidete Dame in mittleren Jahren stand mitten im Raum und schaute sich um. Sie trug eine beigefarbene Cashmere-Jacke und eine lange Perlenkette. Erlesener Parfümduft umwehte sie. Ich musterte die wehende Löwenmähne aus dunkelblondem Haar. Kein langweiliges, stumpfes und aschfarbenes Blond wie die Farbe meiner eigenen Haare, sondern ein seidiges, golddurchwirktes Dunkelblond. Hoffentlich wollte sie schneiden lassen - es juckte mich schon in den Fingern. Hoffentlich wollte sie nicht schneiden lassen - sie müsste verrückt sein, diese Pracht aufzugeben. Dichtes, langes, welliges Haar.
"Guten Tag", sagte sie, "Ich hatte einen Termin ..."
Ein Blick in den Kalender half mir weiter. "Sie müssen Frau Marwitz sein", stellte ich fest.
Die Fremde lächelte gewinnend. "Sieht ganz so aus", gab sie zu und faltete sorgfältig ihren Regenschirm zusammen.
"Regnet es?", staunte ich, "Heute morgen war der Himmel noch so klar ..."
"Aprilwetter", lachte sie, "Aber mich legt man nicht so schnell herein."
Frau Marwitz hatte eine weinrote Einkaufstasche aus glänzendem Nylon neben sich abgestellt. "Benetti 1907, Roma", las ich. Irgendwie hatte sogar ihre Einkaufstasche Stil. Ich dachte an meine Öko-Leinenbeutel mit Kleeblatt-Aufdruck.
"Könnte ich dies... für eine Weile hier stehen lassen?", erkundigte sich Frau Marwitz, "Es sind nur ein paar Lebensmittel ... Aber ich muss nachher noch bei einem Freund vorbeischauen ..."
"Kein Problem, hier im Hinterzimmer gibt es noch ein Plätzchen. Vergessen Sie's nur nicht."
Sie winkte ab. "Notfalls hole ich sie dann morgen."
Elegant ließ sich Frau Marwitz in einem der Sessel nieder. Eine Tasse Kaffee nahm sie gerne an, dazu ein Glas Wasser. Kritisch betrachtete sie sich im Spiegel. "Lassen Sie uns gleich anfangen", schlug sie vor und öffnete ihre Handtasche, um ihr ein Foto zu entnehmen, Größe 10x15. Es zeigte eine weizenblonde Dame mit gestuftem, dabei ziemlich kurzem Haar, etwa Mitte fünfzig, von sehr ähnlichem Typus wie die Kundin - vielleicht sogar ihre Schwester. "Diesen Haarschnitt wünsche ich mir."
"Hübsch", sagte ich, "Das kriege ich leicht hin. Also einmal schneiden, dazu ... Strähnchen?"
"So wie hier", nickte Frau Marwitz, "Gleicher Schnitt, gleiche Farbe."
Ich zögerte noch. "Sind Sie sicher, dass ich ... es so kurz schneiden soll? Es ist eine radikale Veränderung Ihres Typs."
"Ich bin ganz sicher. Fangen Sie an."
Ich nickte zufrieden und legte los. Das Plätschern von Wasser, der Duft von gutem Shampoo, das leise Schnappen der Schere - all dies hob wie immer meine Laune.
Frau Marwitz, als zusätzlicher Bonus, war durchaus unterhaltsam. Von der etwas distanzlosen Art, aber sympathisch. Als Friseurin bin ich viel zu häufig langweiligen Monologen ausgesetzt. Darum weiß man in meinem Beruf Menschen mit normalem oder überdurchschnittlichem Unterhaltungstalent zu schätzen.
Ich habe meine Kategorien. Eine "Pathologie des Redens", sozusagen. Die meisten verbal auffälligen Leute - meist suchen mich Frauen auf - kann ich mittels ihrer Lieblingsthemen blitzschnell einordnen.
Da sind die Bekümmerten (Dünnes Haar. Tante Lottis schlimmes Bein).
Die Empörten (Sittenverlust, Teuerung und Betrug).
Die Querulantinnen (Man hat sie um ihr Recht / ihre tolle alte Frisur gebracht).
Die Clowns ("Meine Haare sehen aus wie ein Mopp").
Die Rechthaberischen (Rechtgehabthaben. Sie haben es gleich gewusst).
Die pedantischen Berichterstatterinnen ("... und dann hab ich ein Naturjoghurt gegessen...").
Die Angeberinnen (Adelige oder prominente Bekanntschaft. Teure Urlaube, Geld und Gut).
Die Hemmungslosen (schlechte Verdauung, Furunkel, Vaginalpilze).
Es gibt noch weitere. Frau Marwitz, zum Glück, war anders. Bis heute habe ich keine Kategorie für sie. Ihre Stimme raunte vertraulich und sonor, ihre Anekdoten plätscherten wohltuend an mir vorbei und hinterließen doch merkwürdig farbige Bilder vor meinem geistigen Auge, während ich Strähne für Strähne ihres gut gepflegten Haars bearbeitete.
"Ich gebe zu, es war eine Schnapsidee", erzählte sie gerade, "Aber so kam ich zu meiner zweiten Ehe ... Damals hatte mein Mann Horst mich ziemlich vernachlässigt. Wir waren zu einer Party eingeladen, und ich war schon umgezogen, da sagt er plötzlich, er müsse noch mal ins Büro zurück... Ha! Hätten Sie das etwa geglaubt? Nun, ich hatte die Nase voll und goss mir in der Kneipe um die Ecke einen hinter die Binde, als dieser hübsche Kerl hereinkam. Halb Deutscher, halb Spanier, wie ich später erfuhr. Ein Traum. ‚Sind Sie Jenny?', fragte er mich. Ich hatte schon ziemlich einen in der Krone und schaute ihn mir gut an. ‚Sind Sie Jenny?', fragte er wieder. Wissen Sie, was ich sagte? ,Ja', sagte ich, ,Ja, ich bin Jenny.' Dabei heiße ich Gerda! Dann musste ich erst mal rausfinden, was für ein Treffen es war: Ging es ihm um bizarren Sex, um abendliche Gesellschaft, oder suchte er eine Frau? Ich brauchte drei Wochen, um Ricardo klarzumachen, dass er mich eigentlich heiraten wollte."
"Und Horst?"
"Ach, Horst. Ich denke mal, der hatte eh schon eine andere zu der Zeit. Wir ließen uns dann scheiden."
Ich lauschte ihr fasziniert und dachte an Klaus, der mir gerade wieder erklärt hatte, er brauche etwas "Abstand". Im Klartext bedeutete das: Er hatte jemanden kennen gelernt. Petra hatte mir schon gesteckt, dass es da ein Mädchen namens Linda gab, in der CASINO BAR, in der sich Klaus nach Feierabend gern mit den Kollegen traf.
"Und? Sind Sie mit Ricardo zusammengeblieben?", wollte ich neugierig wissen.
"Ach nein", winkte sie ab, "Ich hatte ein paar schöne Jahre mit ihm, aber da gab es dann eine Sache mit einer Unterschrift... Eigentlich eine Lappalie, aber jedenfalls habe ich mich eine Weile anders orientiert und in meiner Wohnung in Nizza gelebt. Bella Italia! Ja, das war auch eine gute Zeit."
Ich verdaute diese Information, während ich ihre Haare trocken föhnte. Ich hatte immer geglaubt, Nizza liege in Frankreich.
"Aha", sagte ich, "Wo, sagten Sie, war die Wohnung?"
"Autsch! Bitte nicht so heiß", murmelte sie, mit konzentriertem Blick auf den Spiegel.
"Entschuldigung."
Frau Marwitz war mit dem Endprodukt hochgradig zufrieden. Ich griff nach dem Foto, das sie mir gegeben hatte.
"Diese Ähnlichkeit", rief ich aus, "Die Dame könnte Ihre Schwester sein. Ist sie es?"
"Fast wie Zwillinge, nicht wahr?", lächelte Frau Marwitz glücklich.
Im Hintergrund hatte eine neue Kundin Platz genommen. Sie wirkte mürrisch und verärgert, schaute immerzu auf die Uhr.
"Nur noch einen Moment", rief ich ihr zu, "Es dauert nicht mehr lange."
Frisch blondiert und geföhnt folgte mir Frau Marwitz zur Kasse.
"Das wären dann 45 Euro", murmelte ich und warf einen nervösen Blick auf die unruhig wartende Kundin, die über einer Illustrierten brütete.
Eine Eingebung durchzuckte mich. "Wie heißen Sie eigentlich?", fragte ich Frau Marwitz.
Mein Gegenüber war damit beschäftigt, Scheine und Münzen herauszukramen. Sie blickte auf, mit einem anerkennenden Lächeln.
"Darüber sprachen wir doch schon. Ich heiße Herta Marenholz."
"Sie haben gesagt, Sie heißen Marwitz", klagte ich.
"Das haben Sie selber gesagt. Ein Missverständnis."