Als ich nach unten blickte, packte mich die Panik. Nein, das konnte nicht sein! Nein, das durfte nicht sein! Aber ich sah es doch mit eigenen Augen: Das waren nicht nur acht, neun oder zehn. Nein, das waren mehr. Das waren viel mehr. Das waren ... neunzehn, zwanzig, einundzwanzig, zweiundzwanzig, dreiundzwanzig, vierundzwanzig. Ja, vierundzwanzig. Vierundzwanzig Stück. Nein, das konnte nicht sein.
Ich zählte noch einmal nach ... zweiundzwanzig, dreiundzwanzig, vierundzwanzig. Wieder vierundzwanzig. Noch einmal ... zweiundzwanzig, dreiundzwanzig, vierundzwanzig. Nein, es gab nichts dran zu rütteln. Es waren vierundzwanzig. Und es blieben vierundzwanzig. Punkt. Aus. Vierundzwanzig Stück!
Ich konnte es nicht fassen. Vierundzwanzig! Jawohl, vierundzwanzig! Im Waschbecken lagen vierundzwanzig Haare. Vierundzwanzig Haare von mir. Unverkennbar. Genau meine Länge. Genau meine Farbe. Von wem auch sonst? Hier war ja niemand außer mir.
Vierundzwanzig. Kein Zweifel war möglich. Also zählte ich noch einmal. Wieder vierundzwanzig. Ich konnte zählen so oft ich wollte; jedes Mal dasselbe niederschmetternde Ergebnis: Vierundzwanzig! Ein einziges Mal Kämmen und vierundzwanzig Haare unwiederbringlich verloren.
Ich war zerstört. Ich war am Ende. Ich war erledigt.
Erst der Blick in den Spiegel gab mir meinen Lebensmut zurück. Nein, da war nichts zu sehen. Nichts. Gar nichts. Keine Spur. Da fehlte kein einziges Haar. Immer noch derselbe dichte Haarschopf wie vor dem Kämmen. Mein Haar, mein ganzer Stolz - es war dicht und voll wie eh und je. Da fehlte nichts. Absolut nichts.
Und wenn schon. Was sind schon vierundzwanzig Haare? Der Durchschnittsmensch hat mehr als hunderttausend Haare auf dem Kopf. - Wenn! Ja, wenn er nicht zu den Glatzköpfen gehört. Zu diesen bedauernswerten Kreaturen, denen das Schicksal die übelste Strafe auferlegt hat, die einem Menschen zuteil werden kann.
Aber davon war ich Gott sei Dank verschont. Ich konnte gar keine Glatze kriegen. Glatzen sind erblich - das ist wissenschaftlich erwiesen. Und in unserer Familie hat es nie einen Glatzkopf gegeben. Keinen einzigen. Mir konnte also gar nichts passieren. Ich war genetisch immun.
Nun zahlte es sich aus, dass in unserer Familie seit Generationen die strenge Vernunft waltet. In unserem weit verzweigten Clan wird nicht einfach aus purem Überschwang und blinder Verliebtheit heraus geheiratet. Nein, in unserer Familie wird seit Generationen streng darauf geachtet, dass eine Ehe Bestand haben muss, dass sie eine solide Grundlage hat.
Es gehört zu den unumstößlichen Prinzipien, dass eine Person, die in ihrem familiären Umfeld einen Glatzkopf aufweist, als Partner nicht in Frage kommt. Das war und das ist völlig undenkbar. Und das ist gut so. Nur so konnte über Generationen hinweg sichergestellt werden, dass unsere Familie von dieser Geisel der Menschheit verschont blieb.
Seit jeher hatten alle in unserer Familie dichtes volles Haar. Die Frauen und die Männer. Bis ins hohe Alter. Da gibt es bis heute keine Ausnahme. Keine einzige. Und jeder in unserer Familie trägt dieses Gütesiegel der genetischen Reinheit voller Stolz.
Ich war also immun. Daran gab es keinen Zweifel. Mir konnte gar nichts passieren. Dafür sorgten schon die Gene. Oh Mama, oh Papa, ich danke Euch für meine guten Gene.
Ich fasste mich wieder. Vierundzwanzig Haare. Mein Gott, was war das schon. Jeder hat mal einen schlechten Tag. Aber dass er so schlecht war, das war noch nie vorgekommen. Ich zwang mich, nur noch an eines zu denken: an meine guten Gene. Nur die feste Gewissheit, die mir meine guten Gene gaben, gab mir die Kraft, die Haare im Waschbecken zusammenzukratzen und in den Abfalleimer zu werfen.
Der schreckliche Spuk war beendet. Ich blickte in den Spiegel, bewunderte meine volle Haarpracht und dankte meinen Genen.
Die folgenden Tage vermied ich es, den Kopf beim Kämmen über das Waschbecken zu halten. Wozu auch. Es konnten ja so und so keine Haare ausfallen. Und wenn, dann höchstens mal sieben oder acht. Und die wurden schließlich sofort durch andere ersetzt. Die saßen doch förmlich in den Startlöchern und warteten nur darauf, dass auch sie endlich die Chance erhielten, in meinem vollen Haarschopf Spalier zu stehen.
Lange hielt ich das nicht durch. Es machte doch gar keinen Sinn, den Kopf in den Sand zu stecken. Ich ging in die Offensive. Die Sache musste gründlich untersucht werden. Mit wissenschaftlichen Methoden. Mit Hilfe der Statistik. Wozu hat man das so lange studiert? Da hatte ich nun endlich mal einen Fall, wo Statistik zu was taugt. Die Dummköpfe an der Uni haben uns immer nur mit abstakten Aufgaben gequält. Hier hatte ich einen Fall aus der Praxis. Mitten aus dem Leben. Akribisch sammelte ich jedes Haar, das die Gemeinschaft der Hunderttausend für immer verlassen hatte. Gewissenhaft führte ich eine Liste der täglichen Verluste. Zur graphischen Veranschaulichung fertigte ich fein säuberlich einen Scatter-Plot an. Auf der X-Achse die Zeit, also einen Tag neben den anderen; von links nach rechts. Auf der Y-Achse die Zahl der verloren gegangenen Haare. Je größer der Verlust, desto weiter oben der Datenpunkt. Ich sagte mir "Bodo, da musst Du aufpassen. Das ist wie bei der Arbeitslosenstatistik: Wenn die Kurve ansteigt, dann ist das schlecht." Die graphische Darstellung bestätigte meine schlimmsten Befürchtungen. Ja, es gab durchaus gewisse Schwankungen, aber alles in allem war ein Trend nicht zu leugnen. Er zeigte von links unten nach rechts oben. Um die Tagesschwankungen auszugleichen, berechnete ich wochenweise die Mittelwerte. Die statistische Glättung machte das Bild noch deprimierender. Der Trend zeigte eindeutig nach oben. Zur Berechnung der Regressionsgleichung war die Datenbasis noch zu dünn. Aber das war nur eine Frage der Zeit.
Ich wollte nicht abwarten. Ich konnte nicht abwarten. Da musste endlich was geschehen.
Die Lösung lag auf der Hand. Die Gene waren es nicht. Da konnte ich ganz sicher sein. Folglich konnte es nur an der Ernährung liegen. Ohne zu zögern krempelte ich meinen Ernährungsplan vollständig um. Vitamine, Mineralien, Zusatzstoffe, Ergänzungsstoffe und ansonsten nur noch Öko. Kurz, alles was man zur gesunden Ernährung braucht. Lebensmittel besorgte ich nur noch beim Öko-Bauern. Die 35 Kilometer Fahrt hinaus aufs flache Land nahm ich gerne in Kauf. Und mein prachtvolles Haar war mir die horrenden Preise allemal Wert. Dafür gab es die gesunde Landluft völlig gratis.
Aber schon bald machte sich Ernüchterung breit. Öko hin Öko her. Die gewissenhaft weitergeführte Statistik behielt den eingeschlagenen Trend unbeirrt bei. Zudem waren nun auch im Spiegel allererste Anzeichen eines zurückweichenden Haaransatzes erkennbar. Mein Leben war zerstört. Ich brauchte dringend Hilfe.
Ohne meine Familie zu verständigen, fuhr ich heimlich in meine Heimatstadt. Dort wandte ich mich an unseren alten Hausarzt. An wen auch sonst? Schließlich kannte er unsere Familie so gut wie kein anderer. Der wusste Bescheid. Der musste noch nicht einmal eine detaillierte Untersuchung durchführen. "Mach Dir keine Sorgen, Bodo. Da fehlen zwar ein paar Haare. Aber Du weißt, ich kenne Eure Familie seit Jahrzehnten. In Eurer mustergültigen Familie hat es noch nie einen Fall von Alopezie gegeben. Du weißt ja selbst, Bodo, wie wachsam Deine Familie in dieser Angelegenheit ist. Vorbildlich wie keine andere. Da brauchst Du gar keine Angst zu haben. Das ist nichts Organisches. Das hat ganz bestimmt psychische Ursachen. Hattest Du in der letzten Zeit viel Stress?"
Ja klar, das war's! Zu dumm, dass ich nicht selbst drauf gekommen war. Natürlich hatte ich in der letzten Zeit viel Stress gehabt. Viel mehr als jemals zuvor. Beruhigt verließ ich die vornehme Privatpraxis und beschloss, sofort Urlaub zu machen.
Ich ließ alles stehen und liegen, raffte das Allernötigste zusammen, und am nächsten Tag war ich an der Ostsee. Um diese Jahreszeit war hier alles leergefegt. Da konnte man gar nichts anderes machen als Entspannen. Vor Beginn der stundenlangen Strandwanderungen traf ich jedes Mal gewissenhaft alle erforderlichen Maßnahmen zum Schutze meines wertvollsten Gutes. Zuerst wurde ein dünnes Tuch aus edelster Seide fest um den Kopf gewickelt. Darüber eine Mütze. Keine Wolle - um Gottes willen. Feinstes glattes Tuch, in dem sich kein Härchen verhaken konnte. Darüber dann die wetterfeste Kapuze. Alles festgezurrt. Die Sturmböen sollten keine Chance bekommen, auch nur ein einziges Haar wegzufegen.
Aber bei meinen einsamen Wanderungen am Strand hatte ich nur eines vor Augen: Die monoton steigende Kurve im Scatter-Plot. Zu allem Übel waren nun auch im Spiegel deutliche Zeichen des Rückzugs nicht mehr wegzuleugnen. Meine Depressionen wuchsen ins Unermessliche. Ach, wäre ich doch an die Nordsee gefahren. Dort könnte mich die Flut packen und ins offene Meer hinausreißen. Ich packte die Koffer.
Sofort nach meiner Rückkehr suchte ich einen Arzt auf. Hier, in dieser Stadt, weit weg von der Familie. Diesmal machte ich Nägel mit Köpfen und ging zu einem Fachmann, einem Dermatologen. Nach einer gründlichen Untersuchung mit Trichogramm und allem Pipapo bat er mich, zur Lagebesprechung auf dem ziemlich unbequemen Sessel Platz zu nehmen. "Junger Mann, Sie können ganz beruhigt sein. Sie sind nicht krank." Das war Balsam auf meine geschundene Seele. Als er dann fortfuhr traf mich der Blitz. "Sie leiden unter einer androgenetischen Alopezie, das ist der wissenschaftliche Fachausdruck für einen erblich bedingten Haarausfall ... blablabla ..." Ich war am Boden zerstört. Aber es dauerte nicht lange, dann hatte ich mich wieder gefangen. Dieser Idiot hatte doch keine Ahnung! So ein hohles Geschwätz. Als ob ich nicht ganz genau wüsste, was androgenetische Alopezie bedeutet. Na gut, in einem Punkt hatte er Recht. Eine Glatze ist erblich. Aber gerade deshalb war es ja ausgeschlossen, dass ich eine kriege. Als einzige Entschuldigung konnte ich ihm zugute halten, dass er unsere Familie überhaupt nicht kannte.
Auf jeden Fall hatte ich die Nase gestrichen voll von diesen Ärzten. Aufgeblasenes Volk. Schwachköpfe. Von Tuten und Blasen keine Ahnung, aber gelehrt rumlabern. Wütend ging ich nach Hause.
Dort kapselte ich mich vollständig ab und durchforstete die gesamte wissenschaftliche Literatur zur Alopezie. Zu meiner großen Freude fand ich nur das, was ich ohnehin schon wusste: Glatzen sind erblich. Spätestens seit den Forschungsarbeiten von Hamilton ist das eindeutig bewiesen. Da lässt die Wissenschaft nicht den geringsten Zweifel zu. Daran gibt es keinen Deut zu rütteln. Das gehört heutzutage doch zur Allgemeinbildung. Da muss man gar nicht unbedingt wissen, was Dihydrotestosteron und 5-alpha-Reduktase Typ II bedeutet.
Ich dankte Gott und dem unerbittlichen Regime meines Familienclans für meine guten Gene.
Bestärkt durch die unanfechtbaren Erkenntnisse der Wissenschaft führte ich meine statistischen Studien noch gewissenhafter fort.
Als sich der Trend dann auch noch beschleunigte, war ich dem Selbstmord nahe. Eine alte Bekannte riet mir, zu einer Heilpraktikerin zu gehen. "Die versteht was von ihrem Fach. Und außerdem ist sie eine weltweit anerkannte Kapazität in Sachen Astrologie." Ja, diese Kombination war genau das Richtige. Nur durch die Vermittlung meiner Bekannten gelang es, bei dieser vielgefragten Koryphäe einen baldigen Termin zu bekommen. Nun ja, sechs Wochen musste ich mich trotzdem in Geduld fassen. Als der Termin nahte, war ich nervlich am Ende.
Ihre Erscheinung und das Ambiente waren etwas seltsam, und ich verspürte große Lust auf dem Absatz umzukehren. Aber dann merkte ich gleich, dass ich dieser Frau vertrauen konnte. "Sie brauchen da gar keine Angst zu haben, Herr Wohlstetter. Das ist ganz sicher keine Alopezie. Das ist eine erhöhte Sensibilität gegen die phasische Verschiebung der Deklination Ihres Aszendenten." Ich war zutiefst beeindruckt von ihrer Kompetenz. Schließlich war sie ja nur eine Frau. "Zum Glück gibt es da einfache Gegenmittel." Sie hielt mir ein kleines Fläschlein vor die Augen. "Nehmen Sie von dieser Tinktur 7 Tropfen, verreiben Sie die zwischen den Händen und verteilen Sie die Lösung auf den gesamten Kopf. Ganz wichtig ist, dass Sie damit am Abend vor Vollmond beginnen und dass Sie dies genau 7 Tage durchführen. Immer genau eine Stunde nach Mondaufgang." Dann angelte sie ein noch kleineres Fläschlein aus dem überladenen Regal. Offenbar hatte sie Angst, ich würde es gar nicht sehen. Sie hielt mir das winzige Ding so nah ans Gesicht, dass sie es mir fast auf die Nase drückte. Und das, wo ich doch leicht weitsichtig bin. "Danach nehmen Sie täglich 3 Tropfen aus dieser Flasche. Die verdünnen Sie in einem Achtelliter Sesamöl. Wärmen Sie die Lösung auf offener Flamme an. Auf keinem Fall auf einem Elektro- oder einem Gasherd. Achten Sie darauf, dass es exakt 37 Grad sind. Reiben Sie sich das Ganze genau vierundzwanzig Minuten vor dem Schlafengehen ins Haar. Sie werden sehen, in drei Monaten ist Ihr Problem behoben."
Peinlich genau befolgte ich ihre Anweisungen. Der erste Monat verging. Der zweite Monat verging. Die sündhaft teuren Miniatur-Fläschlein gingen im Eiltempo zur Neige. Aber der Trend hielt erbarmungslos die eingeschlagene Richtung bei. Ich wage es gar nicht zu beichten, welche Verluste Woche für Woche zu beklagen waren. Tendenz: Steigend. Jeder Blick in den Spiegel machte schmerzlich deutlich, dass sich meine Haarlinie immer weiter nach hinten verschob. Gnadenlos. Millimeter um Millimeter.
Ich hatte mich in meiner Wohnung verkrochen. Fest abgeschottet von der Familie. Da erhielt ich die Nachricht, dass mein Bruder Siegbert, knapp vier Jahre älter als ich, nun endlich heiratet. In drei Wochen. Gott sei Dank, das wurde auch höchste Zeit. Dann würde auch bald die Brautschau für mich gestartet werden. Die Freude währte nur kurz. Zurück auf dem Boden der Tatsachen, wurde mir die Ausweglosigkeit meiner Lage voll bewusst. Auf der Familienfeier konnte ich mich nicht blicken lassen. Auf gar keinen Fall. Das ging einfach nicht. Das war unmöglich. Aber eine Familienfeier war ein unausweichliches Muss. Da gab es keine Ausrede. Kein Wenn und kein Aber. Schon gar nicht, wenn es um eine Hochzeit ging. Erst recht nicht bei der Hochzeit meines Bruders. Ein Fehlen wäre nur mit schriftlicher Bescheinigung der Intensivstation möglich gewesen. Und auch das nur mit notarieller Beglaubigung.
Die Rettung kam ganz unverhofft. Als meine Kommilitonin Spinderella vor der Tür stand - unangemeldet wie immer -, wollte ich sie zuerst gar nicht reinlassen. Aber eine Frau wie Spinderella lässt sich nicht abschütteln. Sie hielt ihren Daumen so lange auf dem Klingelknopf, bis ich völlig entnervt kapitulierte. "Mein Gott, Bodo, wie siehst Du denn aus? Was ist denn mit Deinem Haar passiert?" Der Schock saß tief. Aber Spinderella ist eine robuste Natur. Und praktisch veranlagt ist sie auch, die Nase stets im Wind des allerneuesten Trends. Als sich der erste Schreck gelegt hatte, hatte sie, wie immer, sofort eine Lösung parat. Das Zauberwort lautete: Feng Shui. "Es ist doch sonnenklar, Bodo, dass Deine Haare in dieser Umgebung Reißaus nehmen müssen! Bringe Ordnung in Deine Umgebung, und Du bringst Ordnung auf Deinen Kopf." Genau das war's. Mir fiel ein Stein vom Herzen. Ja, mit Feng Shui würde ich alle Probleme in den Griff bekommen. Ein für allemal. Ich konnte also ganz beruhigt zur Hochzeitsfeier fahren. Gleich nach dem Fest würde Feng Shui das zerrüttete Gefüge meiner Welt wieder ins Lot bringen.
Mit dieser frohen Gewissheit schwand auch die Angst vor der Familienfeier. Aber wie nicht anders zu erwarten, war mein Anblick für die Eltern ein schwerer Schock. Schon von weitem konnte ich erkennen, wie mein Vater erstarrte und meine Mutter bleich wurde. Sie drohte auf der Stelle umzukippen. Hastig rief ich ihnen entgegen "Mama, Papa, keine Angst! Ihr könnt ganz ruhig bleiben. Mama, Papa, Ihr braucht Euch wirklich keine Sorgen zu machen." Die Erklärung, die ich mir zurechtgelegt hatte, ging flott über die Lippen. "Ich hatte leider eine Viruserkrankung. Der Arzt hat gesagt, das ist nichts Schlimmes, und mittlerweile ist sie schon voll auskuriert. Dieser verdammte Virus wirkt so ähnlich wie eine Chemotherapie. Aber Gott sei Dank geht das rasch wieder vorbei. Und jetzt passt auf, jetzt kommt die gute Nachricht: Nach ein paar Wochen wachsen die Haare noch dichter als zuvor. Ist das nicht toll?" Uff, das war gerade noch einmal gut gegangen. Glied für Glied kam wieder Bewegung in meinen Vater. Mutter atmete tief durch. Das Blut nahm seine Zirkulation wieder auf und die Lebensgeister kehrten in sie zurück. "Mein Gott, hast Du mir einen Schrecken eingejagt! Aber wenn das so ist, dann hast Du ja mit der Krankheit richtig Glück gehabt, mein armer Junge. Dann wirst Du am Ende den Siegbert noch übertrumpfen." Und Vater meinte: "Ja, unser guter Siegbert. Der ist ab morgen unter der Haube. Und dann bist Du dran. Da kommt es ja wie gerufen, wenn Dein Haarschopf noch dichter wird als früher. Dann können wir bei der Brautschau noch mehr in die Wagschale werfen. Gratuliere, mein Sohn."
Nach und nach traf die ganze Verwandtschaft ein. Natürlich war im ersten Moment jeder geschockt. Und es war sehr anstrengend, jedem die Geschichte zu erzählen. Aber am Ende wurde ich dann jedes Mal beneidet. Berauscht von so viel Aufmerksamkeit und der dauernden Wiederholung vergaß ich völlig, dass ich diese Story nur erfunden hatte.
Am Vorabend der Festlichkeiten dann die übliche Gaudi. Zum Auftakt, wie immer, die schon tausendmal gehörten Histörchen um die Jagd auf die genetischen U-Boote. Ja, es war nicht selten vorgekommen, dass sich Kreaturen in unseren exklusiven Familienclan einschmuggeln wollten, die in ihrer Verwandtschaft einen Glatzkopf hatten. Bei jedem einzelnen Bewerber und bei jeder einzelnen Bewerberin hieß es: Familienclan sei wachsam! "Ja früher war das noch einfach. Da musste man nur das familiäre Umfeld gründlich durchforsten. Die primitiven Tarnungen der schwarzen Schafe sind sofort aufgeflogen." - "Oh ja, diese naiven Dummköpfe, die ihre schütteren Haarsträhnchen von der einen Seite quer über den Kopf kämmen. So blöd muss man erst mal sein." - "Noch lächerlicher sind doch die Wichte, die sich ihr einziges Strähnchen von hinten nach vorn kämmen." Die Lästerei nahm kein Ende. Das Gelächter wurde immer lauter. "Heutzutage ist das alles nicht mehr so leicht. Diese Toupetspezialisten werden immer raffinierter. Und die verdammten Chirurgen arbeiten immer perfekter." - "Aber trotzdem, Ernst-Heinrich, ein geschultes Auge erkennt das sofort." - "Na, so einfach ist es wirklich nicht mehr. Eine Hochzeit ist heutzutage eine sehr teure Angelegenheit. Da verschlingen allein schon die Privatdetektive ein kleines Vermögen. Ihr habt es ja alle mitgekriegt: Britta, unsere von allen hochverehrte Braut, hat eine riesengroße Verwandtschaft; und zu allem Übel sind die über die ganze Welt verstreut. Allein die Reisespesen! Ich darf gar nicht mehr dran denken." - "Na ja, wer hat der hat. So viel muss uns die genetische Reinheit schon wert sein, Wolf-Herrmann." - "Recht hast Du. Wer außer uns sollte das Volk vor der glatzköpfigen Dekadenz bewahren?"
Dann wurde die Gaudi wie üblich mit Dölle fortgesetzt. "Ihr erinnert Euch ja alle noch an den Dölle. Ich frage mich heute noch, woher dieser Mensch den Mut nahm, jeden Tag mit Vollglatze vor die Klasse zu treten? Man stelle sich das mal vor: Ein Lehrer mit Glatze! Ein Lehrer ist doch eine Autoritätsperson. Wie soll ein Glatzkopf Autorität haben?" - "Ja, es ist unverantwortlich, dass die Schulbehörden hier nicht streng eingreifen." - "Aber es ist ja nicht allein die Schule, meine liebste Edelgard. Überall sieht man sie. Auf der Straße, in Ämtern und Behörden. Überall, wo man nur hinschaut. Ganz ungeniert laufen die rum." Die Beiträge überschlugen sich. Jeder wollte mal zu Wort kommen. "Heutzutage lassen sich diese publicitygeilen Filmschauspieler sogar freiwillig ne Platte scheren." - "Genau wie diese hohlköpfigen Fußballspieler." - "Hör mir bloß auf mit Fußballspielern. Die haben doch alle einen Kopf wie ein Fußball. Nicht in der Form, aber im Inhalt." - "Ganz genau! Bei denen ist der Kopf genauso hohl, wie ihr Arbeitsgerät." - "Am schlimmsten find ich's ja, wenn auch noch Politiker ihre Glatze in der Öffentlichkeit präsentieren. Kein Wunder, dass es mit unserem Staat bergab geht." - "Na, im Fernsehen achten die wenigstens bei den Korrespondenten und Nachrichtensprechern ein bisschen drauf." - "Das schon, aber dann hängt das Toupet so schief, dass man sofort wegzappen muss." Und so ging es fröhlich weiter.
Den Höhepunkt bildete auch dieses Mal die allseits beliebte Diashow. Hier konnten wir unsere Familie angemessen feiern. Dichtes volles Haar auf allen Köpfen. Dia um Dia. Dichtes volles Haar. Der ganze Stolz unseres Clans. Es war eine Wonne. Hier konnten alle in den Lobgesang auf unsere guten Gene einstimmen. Schließlich kam der Augenblick, dem ich stets entgegenfieberte: Das Dia und die schon so oft gehörte Story zur erfolgreichen Familienplanung. "Ja, das war der folgenträchtige Urlaub in Kärnten. Ihr wisst ja alle, damals waren wir noch zu dritt. Der Siegbert war gerade 3 und Mutter und ich hatten beschlossen, die Familie zu vergrößern. Unser guter Bodo muss es ja am besten wissen, was dann ein dreiviertel Jahr später rausgekommen ist." Dieselbe ausgelassene Heiterkeit wie immer. Da fragte mein Cousin Wigbert: "He, da hinten, ganz im Hintergrund - ist das nicht ein Glatzkopf?" Es war kaum zu glauben, aber es war tatsächlich so. Da hinten hatte sich ein junger Kerl mit Glatze ins Bild gemogelt. "He Leute, schaut Euch das Bild doch mal genau an! Da hinten, den Glatzkopf." Erstauntes Murmeln in der Runde. "He, Wolf-Herrmann, sag mal, wie kommt denn der Glatzkopf auf das Bild?" Jeder spürte Vaters Verlegenheit. Stammelnd, wie man es sonst gar nicht von ihm kennt, erklärte er, dass unterwegs unser guter Chauffeur plötzlich krank geworden war. Als Ersatz hatte die Notzentrale diesen jungen Burschen geschickt. Aber rasch kam Vater wieder in Fahrt. "Na klar waren wir schockiert. Was glaubt Ihr denn? Ein Glatzkopf. So ein junger Mann und schon eine Glatze. Eine Schande. Ausgerechnet so einer sollte unser Chauffeur sein. Aber was sollten wir machen? Wir hatten einfach keine Wahl. Mitten in Kärnten, allein auf weiter Flur." - "Ja, manchmal hat man halt einfach keine andere Wahl." - "Na ja, zum Glück war der Johann nur drei Tage krank. Ich glaube, Mutter und ich hätten den Anblick dieser kahlköpfigen Kreatur keine Sekunde länger ertragen. Ich hatte schon Angst, dass dieser Glatzkopp unsere Lust an der familiären Pflichterfüllung vergällen könnte." Wir lachten uns schief.
Als dann mein Bruder meinte "Stellt Euch mal vor: So einer schleicht sich in unsere Familie ein. Das wäre doch eine genetische Atombombe!", gab es überhaupt kein Halten mehr. Alle bogen sich vor Lachen. Nur eine nicht. Als ich in die versteinerte Miene meiner Mutter blickte, durchzuckte mich ein schrecklicher Verdacht.