Als Karl zum Fenster hinaus schaute, konnte er nicht ahnen, in welcher Weise sich ihre Wege kreuzen würden. Sein Blick ruhte auf dem Alten Turm aus dem frühen 14. Jahrhundert. In der späten Nachmittagssonne strahlte das denkmalgeschützte Bauwerk eine besondere Ruhe aus.
Zur gleichen Zeit saß Sheryll im ICE von Köln nach Frankfurt. Seit der Fertigstellung der neuen Schnelltrasse beträgt die Fahrtzeit nur noch 77 Minuten. Aber sie achtete nicht auf die Geschwindigkeit. Ihre Gedanken kreisten um die Fertigstellung des Projekts. Auch sie konnte nicht ahnen, in welcher Weise sich ihre Wege kreuzen würden.
Karl erhob sich ächzend aus dem alten Stuhl, der bei dieser Belastung protestierend knarrte und knackte. Wir werden beide immer klappriger, dachte Karl, nicht ohne einen Schuss Selbstironie. Wer wohl als erster dran ist.
Er nahm seinen Stock und schlurfte zur Tür. Dieses junge Ding da - wie hieß sie noch? Ach ja, Christina - wollte ihm unbedingt eine Gehhilfe verpassen. Lächerlich. Das war was für alte Frauen, aber doch nicht für ihn!
Auf dem Flur traf er Agathe. Als sie ihn bemerkte kicherte sie wie ein kleines Mädchen. Dann drehte sie sich um, zur Wand, und schlug mit der Stirn gegen den rauen Putz. Immer wieder. Wie eine Pendeluhr. Dong - dong - dong. Karl seufzte. Sie davon abbringen zu wollen würde erfahrungsgemäß lediglich einen Schreikrampf verursachen. Er hoffte nur, dass sie damit aufhören würde, bevor es jemand von den Schwestern bemerkte. Oder ihre Stirn blutete. Man musste es realistisch sehen. Agathe würde sie bald verlassen. Wie so viele andere vor ihr auch.
Karl fuhr mit dem Aufzug nach unten. Schwester Martina saß am Empfang und gab irgend was in den Computer ein. Ohne aufzuschauen sagte sie:
"Um sieben gibt's Abendessen."
"Ich weiß", erwiderte Karl und ärgerte sich darüber, dass seine Stimme so brüchig und unterwürfig klang. Er ging immer vor dem Abendessen spazieren und war immer pünktlich zurück. Trotzdem maßregelte Schwester Martina ihn jedes Mal. Und jedes Mal kam er sich vor wie damals als kleiner Schulbub. Karl öffnete die Tür und schlurfte in den warmen Nachmittag des Spätsommers hinaus.
Die Türen öffneten sich automatisch mit leisem Zischen, und die warme, frische Luft des zur Neige gehenden Spätsommertages strömte in den ICE. Sheryll drängelte sich mit ihrem kleinen Reisekoffer heraus und eilte in den Frankfurter Bahnhof. Neugierig sah sie sich um. Noch ein Stück Deutschland. So ganz anders als New York. Sie schaute auf die Uhr. Kurz nach sechs. Sie sollte heute früh schlafen gehen, um für den morgigen Tanz mit den Investoren gewappnet zu sein.
Sie winkte ein Taxi heran und gab dem Fahrer die Adresse des Hotels. Während der Fahrt ging sie im Geiste noch einmal die Eckpunkte des Vertrages durch. Im Grunde genommen war bereits alles in trockenen Tüchern, genau wie in Köln. Ihre Leute hatten in den letzten Wochen und Monaten ganze Arbeit geleistet. Praktisch brauchte sie nur noch den Vertrag zu unterschreiben. Deutsche Banken heuerten für die Verwirklichung ihrer ehrgeizigen Bauprojekte anscheinend immer noch gerne amerikanische Architekten an. Ihr, als Geschäftsführerin und Eigentümerin eines der größten amerikanischen Architekturbüros, konnte das nur recht sein.
Das Taxi fuhr an einer Front alter Häuser vorbei. Über die Giebel ragte im Hintergrund der monumentale Turm eines mittelalterlichen Bauwerkes. Etwas an diesem Turm berührte Sheryll. Ihr ganzer Körper verspannte sich plötzlich. Unruhig rutschte sie auf dem Autositz hin und her. Ihre rechte Hand tastete sich, wie immer, wenn sie unschlüssig war, mit einer unbewussten Geste zu der Kette um ihren Hals empor und blieb dort auf dem ovalen Medaillon liegen.
"Was ist das für eine Kirche?", fragte sie schließlich den Fahrer.
Ohne sich umzudrehen erwiderte der: "Sie waren wohl noch nie hier, was, Gnädigste? Na ja, hört man ja auch, wenn ich das mal so sagen darf. Obwohl ihr Deutsch wirklich astrein ist. Ich tippe England. Richtig?"
Sheryll schüttelte ungeduldig den Kopf. Schwätzer!
"Na gut, dann also Amerika. Okay, das da, das ist der Römerberg, und der Turm da gehört natürlich zu unserem guten, alten Frankfurter Dom."
Natürlich! Fast schämte sich Sheryll als Fachfrau dafür, das bekannte Bauwerk nicht sofort erkannt zu haben.
"Bringen Sie mich bitte dahin!", sagte sie kurz entschlossen. Irgend etwas an diesem Turm zog sie magisch an. Sie musste einfach dort hin. Das Hotel konnte warten. Wer weiß, ob sie morgen noch Gelegenheit für eine Besichtigung finden würde.
Der Fahrer zuckte gleichmütig mit den Achseln und lenkte sein Gefährt in die angegebene Richtung.
Sheryll stieg aus und bezahlte. Dann wandte sie sich interessiert dem historischen Bauwerk zu. Mit einer Mischung aus Spannung und berufsmäßiger Neugierde glitt ihr Blick über das alte, sanierungsbedürftige Gemäuer, bis er schließlich auf der Spitze des beinahe hundert Meter hohen, gotischen Turmes ruhte.
Erschöpft ließ Karl sich auf der harten Bank nieder. Ah, das tat gut. Er gab es nicht gerne zu, aber der Weg hierher wurde beinahe von Tag zu Tag beschwerlicher. Letztes Jahr noch hatte ihn der Spaziergang kaum aus der Puste gebracht. Und jetzt. Karl versuchte, tief Luft zu holen. Die Lungen rasselten unwirsch. Seine Augen ertasteten die gewohnte Umgebung. Auch sie ließen immer stärker nach, doch was ihnen an Schärfe fehlte ergänzte seine immer detailfreudiger werdende Erinnerung an längst vergangene Zeiten. Er sah sich mit seiner Maria über den Römerberg flanieren, damals, im Krieg, der soviel Leid und Zerstörung gebracht hatte. Und der auch die viel zu kurzen Wochen ihres gemeinsamen Glückes zerstört hatte. Maria. Wo bist du? Ein schmerzhaftes Sehnen umschlang seine Brust. Ich bin viel zu alt geworden, dachte er. Zu viele einsame Jahre. Ach, Maria. Ich komme bald.
Das gotische Bauwerk vermittelte trotz seiner Massivität eine himmelstrebende Leichtigkeit, welche die religiösen Ambitionen der damaligen Baumeister sichtbar verdeutlichte. Sheryll beschloss, den Dom noch ein wenig im weichen Licht der untergehenden Sonne von außen zu betrachten, bevor sie sich dem sicherlich äußerst interessanten Kirchenschiff zuwandte. Suchend schaute sie sich nach einer Bank um.
Karl war so sehr in Gedanken versunken, dass er die Frau, obwohl sie sich gerade mal einen knappen halben Meter von ihm entfernt auf seine Bank gesetzt hatte, nur im Unterbewusstsein registrierte. Erst das Geräusch ihrer über das Pflaster scharrenden Absätze ließ ihn aufmerken. Sein gedankenverlorener, trüber Blick huschte kurz über ihre Gestalt. Er wollte sich schon wieder abwenden, als plötzlich ein ungläubiger Ausdruck in sein Gesicht trat. Seine Augen weiteten sich, und seiner Kehle entrang sich ein schmerzhaftes Stöhnen. Er griff sich an die Brust und sackte zusammen.
Sheryll schreckte aus ihren Gedanken hoch und schrie unterdrückt auf, als sie plötzlich das Gewicht des Körpers schwer an ihrer Schulter spürte. Sie sprang auf, und der Mann glitt vollends in eine liegende Position. Lediglich die Beine folgten der Körperdrehung nicht vollends und wiesen mit den Schuhspitzen in einer grotesken Verdrehung auf das Pflaster.
Erst allmählich begriff Sheryll, dass der Mann sie nicht belästigen wollte, sondern wohl die Kontrolle über sich verloren hatte. Sie schaute widerwillig etwas genauer hin und sah ein altes, faltiges, mehlig grau verfärbtes Gesicht mit weit geöffnetem Mund, der ein rasselndes, mühsames Röcheln ausstieß. Dann blickte Sheryll in die aus den Höhlen tretenden Augen und zuckte unvermittelt zusammen. Die wässrigen Pupillen in den glanzlosen, gelblichen Augäpfeln starrten sie an, folgten jedem Muskelspiel ihres Gesichtes und brannten sich immer tiefer in ihr Hirn. Er stirbt, dachte sie in plötzlich aufkeimender Erkenntnis, mein Gott, er stirbt! Mühsam riss sie sich von den hypnotischen Augen los und schaute sich wild um. Von den vorbei hastenden Menschen schien keiner den Vorfall bemerkt zu haben. Shit, dachte sie, während sie mit zitternden Fingern das Handy herauskramte. Sie wählte den Notruf und berichtete in knappen Worten. Während der ganzen Zeit spürte sie den Blick des Mannes im Rücken.
Natürlich bestand der Beamte am anderen Ende darauf, dass sie bis zum Eintreffen des Notarztes vor Ort bleiben sollte. Sie fluchte noch einmal grimmig und wandte sich dann widerstrebend dem alten Mann zu. Sofort fingen seine Augen sie wieder ein. Ihr Körper wand sich wie unter Schmerzen, doch sie konnte sich nicht mehr abwenden. In der Ferne ertönte Sirenengeheul. Der röchelnde Mund des alten Mannes bebte. Mühsam stieß er ein einziges Wort aus.
"Maria!"
Sheryll zuckte zusammen und wich zwei Schritte zurück. Ihre Hände fuhren an ihren Hals, plötzlich schien die Luft der gesamten Welt nicht mehr auszureichen. Sie bemerkte weder die quietschenden Reifen des Notarztwagens direkt hinter sich noch die klappenden Türen. Erst, als sie unsanft zur Seite geschoben wurde, erwachte sie aus ihrer Trance.
Mit zitternden Fingern öffnete sie den Verschluss der alten, silbernen Halskette. Einen langen Moment hielt sie das daran hängende abgegriffene, ovale Medaillon fest in der geschlossenen Faust. Schließlich, zögernd, öffnete sie das Schmuckstück und betrachtete das Foto darin. Es zeigte in verblichenen, bräunlichen Tönen das Porträt zweier junger Menschen, ein Mann und eine Frau. Die Frau trug eine weiße Bluse mit steifem Kragen, über ihrem ernsten Gesicht waren die Haare streng hochgesteckt. Sie sah Sheryll frappierend ähnlich.
Der Mann daneben trug eine Soldatenuniform, das Käppi auf dem kurzen, blonden Haar fesch zur Seite geschoben. In seinen hellen Augen glomm ein stolzes Licht. Die Schrift unter der Fotografie war kaum noch zu entziffern. Doch Sheryll kannte sie seit frühester Kindheit auswendig. Für Maria, stand dort. In ewiger Liebe. Kurz nach der Aufnahme hatte die Ostfront den jungen Soldaten, wie so viele andere auch, verschlungen. Den Soldaten. Ihren Vater. Der dort drüben sterbend auf der Parkbank lag.