Als Karl zum Fenster hinaus schaute, konnte er nicht ahnen, in welcher Weise sich ihre Wege kreuzen würden. Sein Blick ruhte auf dem Alten Turm aus dem frühen 14. Jahrhundert. In der späten Nachmittagssonne strahlte das denkmalgeschützte Bauwerk eine besondere Ruhe aus.
Zur gleichen Zeit saß Sheryll im ICE von Köln nach Frankfurt. Seit der Fertigstellung der neuen Schnelltrasse beträgt die Fahrtzeit nur noch 77 Minuten. Aber sie achtete nicht auf die Geschwindigkeit. Ihre Gedanken kreisten um die Fertigstellung des Projekts. Auch sie konnte nicht ahnen, in welcher Weise sich ihre Wege kreuzen würden.
Karl hat eine Vision. Aus den Baumwipfeln eine Krone. Kaiserwetter. Die Früchte springen auf - auf Messers Schneide - und zeigen ihren Saft. Hagebutten sprießen meterhoch wie Palmen. Da wo Licht hinfiel, war wärmendes Gold. Fußspuren, die sandig sind und den Weg auf Kieselerde freigeben. Wie aus Marmorstein die weißen Häuser. Im Kontrast dazu die abgeblätterten Fensterläden, die verrieten, dass hier Menschen leben. Sonnige schlurfende Hitze, die Glut schleicht sanft um die Beine wie eine Katze. In der Ferne ein Segelboot. Weiße Segel wie auf einer naiven Malerei.
Weit entrückte Zeit.
Wie lange hatte Karl hier am Pier gestanden. Bis Vergangenheit und Gegenwart eins wurden. Wo Schatten sich liebten, sich wälzten im Sand.
Das Meer wirft seine Wellen mit aller Kraft. Wie gegen eine Wand. Voller Natur gewalzt. Ausweglos. Hier kann keiner sich den Gesetzen der Natur unterziehen, sofern er ein Individuum ist.
Lieben, Leiden, Weiterentwickeln, Stehen bleiben, Laufen. Menschen lassen die Augen rollen. Ziehen vorbei wie ein Scherenschnitt. Sie berühren ihn nicht. Karl hat ein feingeschnittenes Gesicht. Sein glänzendes Haar umspielt sein Profil. Die Hände hat er lässig in Bundfaltenhosen gesteckt. Sein Blick gilt der Ferne. Er schaut wie einem entrückten Ziel entgegen, mit braunäugigem Tiefblick. Ihre Blicke waren in eine Richtung gerichtet. Parallele Lebenswege, die sich ein paar Minuten, wie fokussiert überlagerten und nach Begegnung riefen. Der Schrei nach Lebenshunger, Seelenfrieden, Befriedigung der Sinne. Das Meer wabert lasziv wie nachtblaue Seide, wenn man es lange genug betrachtete, bis es dunkel wurde. Die Kommunikation könnte in der jetzigen Situation die Stimmung stören, die Schwingungen, die wie eine Trauer über ihnen lag. So gingen sie umeinander tänzelnd ohne sich zu berühren. Nicht wie schnuppernde Hunde, aber mit lang ausholenden Bewegungen. Elfen waren in ihren Charakteren und Zauberer. Als sie sich so bewegten löste sich der Alltag aus ihren Kleidern und der Kloß aus ihrem Hals, der Stein von der Seele.
Noch losgelöster waren die Vögel, die über ihnen Kreise zogen, so übermütig war ihr Flügelschlag und es schien als würden sie schelmisch lächeln. Die Farben erstrahlten von innen her. Zeit war nicht wichtig, auch nicht Raum. Ein wunderbares Vakuum in dem sich diese Menschen begegneten. Fern jeder Zeitempfindung, aber nicht unwirklich genug, denn es konnten tiefe Gefühle empfunden werden. Sanft legt er seine Hand um ihren Nacken, schaute ihr tief in die Augen, als das Buch zugeschlagen wurde.
In einer anderen Zeit sitzt Sheryll im ICE. Ihr Geist jedoch ist in anderen Sphären. Sorgfältig bereitet sie Speisen zu. Ihre feingliedrigen Hände halten goldgelbe Kartoffeln, die eine feste Einkerbung haben, so wie eine Gravierung. Kein Wunder, wurden sie doch von einem funkelnden silberglänzendem Edelstahlmesser schraffiert. Dieses saftigen Erdäpfel waren hart und doch wässrig. Sie schaut aus dem Holzfenster, da der Blick in den Hof führt. Das Meer quillt wie sprudelndes Gel in Zeitlupe verlangsamt Richtung Fenstersims. Von der Sonne war in diesen Tagen viel zu spüren, dennoch, man sah sie nicht. Es war, als ob die Welt von einer nicht zu ermessenden Größe überlagert wurde, einer Seifenblase in der sie ihr Leben führte.
Sex wurde als laszives Vegetieren empfunden. Man beschäftigte sich still, stillte das Bedürfnis ohne neue Energie zu schöpfen. So war es üblich, sich am Strand zu treffen und sich einander ein wenig Sinnenfreude zu schenken. Männer reckten ihre Kakaoblüten und Frauen mit ihren Grotten waren das zu erforschende Ziel. Als Zeichen der Dankbarkeit trank man nach dem Akt aus Holzschalen dampfendes Vanillewasser, das die Körper mit einem köstlichen Duft verwöhnte, den sie nach dem Genuss verströmten. So war es Brauch. Bis zu dem Tag, an dem ein Mann Mitte Dreißig als Besucher angekündigt wurde...
Der Airport. Karl geht zum Flugschalter. Seine Augen sagen nicht viel über seinen Charakter aus, nur über seine momentane Verfassung. Sie sind nicht mehr sehr erdverhaftet und es ist ein kleines nervöses Aufflackern darin, wie von einer Arglist in die Konturen gezaubert. Der Mann spricht hinter vorgehaltener Hand mit der Schalterdame. Mehr als seinen Namen möchte er nicht preisgeben, er hat Angst, zu viel von sich herauszulassen.
Da plötzlich erfährt er, dass sein Ticket schon eingelöst wurde, von jemandem, der seinen Namen trägt und der gerade keck seinen Weg kreuzt. Er lächelt sich selber zu. Sein Staubmantel weht in Windeseile.
"Kann ich Ihnen helfen, Sir?" Die eindringliche Stimme der Schalterdame zwingt ihn wieder in die Realität.
Ihre Augen scheinen ihn zu durchbohren, eine Antwort zu fordern. Fragend ruhen sie auf seiner Verwunderung. "Nein, danke, ich muss das selbst klären!" bringt er gerade noch heraus.
Die Zeit der Konfrontation ist überschritten, doch es passiert nichts. Er hat nicht das Bedürfnis, Fragen zu stellen oder sich eine neue Identität zu schaffen. Wo die Zeit verpafft, stinkig wie Zigarrenrauch, ist kein Platz zum Aufatmen der Seele und er fühlt sich seltsam beklommen. Er wird sich seiner Gleichgültigkeit und der Schwermut seiner Schritte nicht bewusst, als er sich setzt um auszuruhen von den Gedanken in seinem Kopf die darum kreisen, ob er ein Mineralwasser oder eine Limonade bestellen soll.
Sein Körper wird grundlos getragen. Keiner weiß, warum er darin steckt. Seine Aura ist nicht wichtig,. Er schaut in eine rote Papierserviette, die vor seinen grauen Augen zu einer Rose wird und ihn verschlingt. Er fliegt durch ihre enge Blutader wie durch einen Gummischlauch.
Alles wird erst Schwarz um ihn herum, dann Weiß.
Es ist 19 Uhr. Die Kirchturmuhren läuten. Sheryll ist da. Karl ist da. So treten sie ein. Die rosaroten Rosen wirbeln durcheinander. Alle Menschen, die ihm auf seiner Reise schon einmal begegnet sind, habe sich versammelt.. Sie reichen ihm die Hände, bilden mit ihm eine Kette. In ihren Augen glitzert es. Ob Schalk, ob Lebensfreude, die Augen spiegeln sich, ahnen den anderen, erfühlen was er sein, wer er werden könnte. Der Schleier wird Karl vom Antlitz genommen. Kein Nebel mehr. Kein Tappen im Dunkeln. Es ist ein rauschendes Fest. Mit Musik von Treibhölzern. Trommelwirbeln, die an eine neue Zeit anklingen. Gina schlägt einen anderen Ton an und richtet das Wort an Karl. "Die Verdrängung hat Dir eine Reise geschenkt. Das Labyrinth hat nun keine Wege mehr offen." Erst jetzt erblickt Karl den Off-Schalter. Nur einen Klick war er die ganze Zeit von einem Reisestopp entfernt. Sein leicht zitternder Zeigefinger berührt den roten Knopf. Er findet sich in seinem Büro wieder. Ein Luftzug kommt von der Tür. Es ist ihm, als wäre jemand gerade erst hindurchgegangen. Er hat diesen Raum verlassen. Karl schließt die Tür.
Sheryll ist zufrieden mit ihrem Werk. Was tut man nicht alles für einen Freund, der seelenverwandt mit einem ist. Seine Seele hatte schon lange Verbindung zu ihr aufgenommen. Ihre energiegeladenen Antworten schickten ihn in eine andere Welt. Eine virtuelle. Was für Karl Kommunikationsstörungen waren, waren für Gina Versuche, Kontakt zu diesem interessanten männlichen Menschen aufzunehmen. Er schien mit seiner weiblichen Seite zu kämpfen. An der gleichen Stelle, wo sie damals ihre verloren hatte. Den Zugang dazu. Jetzt öffnet sie die Tür.
Sie spricht die Zauberformel "Errare humanum est." "Lass es geschehen" will sie sagen.