Als Karl zum Fenster hinaus schaute, konnte er nicht ahnen, in welcher Weise sich ihre Wege kreuzen würden. Sein Blick ruhte auf dem Alten Turm aus dem frühen 14. Jahrhundert. In der späten Nachmittagssonne strahlte das denkmalgeschützte Bauwerk eine besondere Ruhe aus.
Zur gleichen Zeit saß Sheryll im ICE von Köln nach Frankfurt. Seit der Fertigstellung der neuen Schnelltrasse beträgt die Fahrtzeit nur noch 77 Minuten. Aber sie achtete nicht auf die Geschwindigkeit. Ihre Gedanken kreisten um die Fertigstellung des Projekts. Auch sie konnte nicht ahnen, in welcher Weise sich ihre Wege kreuzen würden.
Sheryll war mit ihren Gedanken meist bei einem ihrer Projekte. Zumindest nannte sie selbst ihre Aktionen so. Personen aus Ihrem Freundes- und Bekanntenkreis hätten das wahrscheinlich sehr vorsichtig ein wenig anders formuliert, hätte man einen von ihnen gefragt. Allerdings dürfte man sich zu den glücklichen dieses Planeten zählen, wenn man einen von ihnen überhaupt zu einem Kommentar hätte bewegen können. Und dann wäre dieser, wie erwähnt, vorsichtig ausgefallen. Sheryll war eine empfindliche Frau, was Kritik an ihrer Person anging- und eine wenig zimperliche Frau, wenn es darum ging, anderen ihre Meinung klar zu machen.
Heute jedenfalls war sie auf dem Weg nach Frankfurt, wo ein Mitstreiter sie erwarten würde. Sie war froh, in der Sache nicht allein da zu stehen. Sie hatte durchaus bemerkt, dass viele Menschen ihr Projekt "FfdG" eher als zweifelhafte Spinnerei ansahen, doch das machte das ganze erst recht wichtig. Wenn der Durchschnittsbürger sich sowieso bereits darüber im klaren gewesen wäre, was manchen Mitbürgern hierzulande angetan wurde, dann hätte sie vielleicht resigniert und sich gesagt, dass die Menschheit nun mal schlecht sei. Dass die Öffentlichkeit jedoch offenbar kein Bewusstsein für die Situation dieser gepeinigten hatte, das erst machte sie zur sendungsbewussten Kämpferin.
Karl zog seinen Kopf vom Fenster zurück und blickte sich um. Er konnte nichts zu Essen ausmachen, das beunruhigte ihn. Seine Gedanken waren oft beim Essen. Beim Essen und bei den Bäumen. Das waren fast die wichtigsten Dinge in seinem Leben. Er machte gar kein Geheimnis daraus und es schien die meisten sowieso nicht zu interessieren. Im übrigen hätte es kaum jemanden gewundert, der ihn kannte. Karl war ein Baumfreak und konnte keinem Snack widerstehen.
Trotzdem war er weder dick, noch hatte er ständig eine Gießkanne dabei, um Bäume zu gießen (DAS hätte die Leute dann doch eher stutzig gemacht). Um dick werden zu können, hätte er sich mehr Ruhe gönnen müssen. Doch Karl war ein echter Läufer. Er lief für sein Leben gern. Vielleicht war das seine dritte Passion und Passion Nummer vier war wohl spielen. Essen, Bäume, laufen und spielen.
Und unter Bäumen schlafen, logisch.
Natürlich machte ihn das nicht zu einem potentiellen Banker, Manager oder Chirurgen, da diese ja wohl etwas andere Eigenheiten hatten und andere Interessen hatten. Aber schließlich muss ja nicht jeder eine Karriere als Firmenboss oder ähnliches anstreben. Karl schon gar nicht. Im übrigen: WENN er ein Firmenboss gewesen wäre, dann hätte das die Leute bestimmt NOCH stutziger gemacht, als wenn er mit einer Gießkanne rumgelaufen wäre.
Sheryll sah aus dem Fenster und versuchte, alles noch mal in Gedanken durch zu gehen, was auf sie zukommen würde. Ob man sie verhaften würde? Wenn ja, dann wäre das gute Publicity für ihre Sache. Es könnte natürlich zu einer Gegendemonstration kommen, falls jemand von der Gegenseite Wind von ihrem Projekt "FfdG" bekommen hatte.
Sie blickte grimmig in ihre Unterlagen. Dies war ein Projekt, das ihre ganze Energie verdiente. Diese armen Kreaturen mussten tagaus tagein ihr Dasein in Sklaverei fristen, durften keinen Mucks machen, mussten nach außen hin so tun, als wäre alles in bester Ordnung, weil ihre Herren und Meister sie sonst schlicht und ergreifend zerschlagen und auf die Müllkippe geworfen hätten. Noch dazu wurden sie gezwungen, mehr oder weniger lächerliche Kleidung zu tragen und in Posen zu verharren, die eines Menschen unwürdig gewesen wären.
Karl verlies das Haus, lief zum alten Turm und erleichterte seine Blase um ein paar Tropfen. Andere hätten gesagt, dass es sich wegen so ein paar Tropfen gar nicht lohnen würde - doch Karl sah das anders. Er sah vieles anders, als die Menschen um ihn herum. Vieles nahm er ganz locker, während ihn andere Dinge zur Raserei bringen konnten.
Er lief quer durch den Garten und genoss den schönen Tag. Er liebte diesen riesigen Garten, mit genügend Platz um ein Fußballfeld unterzubringen. In den Blumenbeeten, die das Grundstück säumten, tummelten sich lustige Gartenzwerge in allen denkbaren Rollen und Farben. Er machte es sich unter einem Baum gemütlich und schlief ein.
Sheryll stieg aus dem Zug und sah Harald bereits von weitem, der wild winkend auf sie zusteuerte. "Hallo Sheryll, gut das du da bist." "Dachtest du, ich komme nicht?", fragte sie ihn stirnrunzelnd. "Quatsch. Ich freu mich einfach, dass wir heute loslegen.". "Ja. Hast du die Handschellen und die Presslufthupen besorgt?". Harald nickte und grinste: "Die Hupen werden ja sonst eher von Fußballfans benutzt." Sheryll nickte und meinte: "Und wir brauchen Sie, um die Medien anzulocken."
Sie verließen den Bahnhof und gingen zu seinem Auto. Die Fahrt zum Ort des Projekts würde nicht allzu lang dauern. Es handelte sich um die riesige Villa mit noch riesigerem Garten eines reichen Gartenfans, den Sheryll nicht länger im Verborgenen wüten lassen wollte.
Karl döste unter dem Baum seit über einer Stunde, als er ein Auto am Zaun anhalten sah. Ein Mann und eine Frau stiegen aus und entrollten ein großes weißes etwas. Die Frau rief etwas und der Mann stimmte mit ein
"Freiheit für die Gartenzwerge, Freiheit für die Gartenzwerge, Freiheit für die Gartenzwerge, Freiheit für die Gartenzwerge!". Sheryll und Harald brüllten aus Leibeskräften und hielten ihr Transparent hoch in die Luft: "Stoppt die Knechtschaft der Gartenzwerge! Gartenzwerge haben ein Recht auf Bewegung und auf Selbstbestimmung!", stand auf dem Spruchbanner.
Im Haus war noch keine Bewegung zu sehen und Harald meinte: "Mensch, Sheryll, wir haben die Hupen vergessen!". Sheryll holte die Hupen aus dem Auto und sogleich hallte das Durchdröhnende "bääääk, bääääk" durch die Strasse und fast sofort öffneten sich Fenster und Türen bei der Villa und in der nahen Nachbarschaft. Bestimmt würde die Polizei gerufen werden und die Presse schlief nicht, sie hatte immer ein Auge auf die Bonzenviertel. Jetzt war es höchste Zeit, sich mit den Handschellen im Garten anzuketten, damit ihr Protest die richtige Wirkung und Länge haben würde. Sie kletterten über den Zaun.
Karl zuckte zusammen, als das laute Quäken der Hupen seine Ohren quälte. Er blieb jedoch wo er war, schließlich hatte er eine gute Erziehung genossen, die ihm verbot, sich mit fremden Leuten einzulassen, die auf der Strasse was-auch-immer taten.
Doch jetzt kletterten die beiden über den Zaun und das war zuviel.
Karl sprang auf und rannte so schnell er nur konnte in die Richtung der beiden Personen.
Sheryll hatte den ersten Handschellenring an ihrem linken Handgelenk befestigt und wollte gerade den anderen Ring am Zaun befestigen, als ein scharfer Schmerz in ihr Bein fuhr.
Karl war bei den beiden angekommen und biss Sheryll so fest ins Bein, wie er nur konnte. Sie schrie auf und Harald drehte sich erschrocken zu ihr um.
Karl ließ sie nicht los, er war, wie gesagt, wohlerzogen.
"Verdammt, wo kommt der Köter so schnell her!? Nichts wie weg hier!", rief Harald, und Sheryll versuchte den Hund abzuschütteln.
Ein kaum zu hörender Ultraschallpfiff und der Ruf "KARL! HIERHER!" erlöste Sheryll von Karls Biss und sie und Harald sprangen über den Zaun und rannten zu ihrem Auto. Harald startete und fuhr los, wie der Fahrer eines Bankräuberduos.
Sie rasten davon und Harald fluchte. Sheryll war außer Atem und keuchte "So ein Mist, dieser blöde Hund hat unseren ganzen Plan durchkreuzt. Eins ist klar. Das Projekt "WfH" für nächste Woche ist somit für mich gestorben.". "Was wäre das gewesen?", fragte Harald neugierig.
Sheryll rieb ihr schmerzendes Bein und antwortete: "Wahlrecht für Hunde".