Vor alten Zeiten hatte ein nichtsnutziger Mann eine verständige Frau, die Pelenkferib hieß. Da dieser Mann infolge seiner nichtsnutzigen Charakteranlage die Frau immer quälte und schlug, so konnte seine Frau, nachdem er sie einmal wieder geschlagen hatte, es nicht mehr länger aushalten und verließ in einer Nacht mit ihren zwei Kindern das Haus und kam in eine Wüste, die so schrecklich war, daß selbst Riesen und Wüstengespenster sich dort fürchteten. Plötzlich erschien vor ihr ein Tiger, der sie mit ihren Kindern zu verschlucken beabsichtigte. Die Frau sagte zu sich: „Wenn man ohne Erlaubnis seines Mannes wegläuft, da ist es nicht wunderbar, wenn einem derartiges passiert.“ Sie gelobte Gott mit aufrichtigem Herzen Buße und bat um Verzeihung und versprach nach diesem, die Gewalttätigkeiten ihres Mannes zu ertragen und ihm willfährig zu sein.[225]
Als der Tiger nun nahe herangekommen war, hatte sie eine göttliche Eingebung. Sie sagte zu sich: „Ich will jetzt eine List dem Tiger gegenüber anwenden. Wenn sie gelingt, ist es gut, und ich werde gerettet, wenn nicht, was macht es? Ich habe wenigstens nichts unversucht gelassen, um ihn fernzuhalten. Wenn ich jetzt schleunigst fliehen würde, so würde er mich doch einholen. Das würde mir nicht helfen. Es ist das Klügste, ihn zu überlisten. Ein anderes Mittel gibt es nicht.“
Sie rief also mit lauter Stimme: „Bleib stehen, Tiger, beeile dich nicht! Ich habe dir etwas zu sagen. Höre zu! Ich bin ja in deiner Hand, dann kannst du mit mir machen, was du willst.“ Der Tiger wunderte sich über diese Anrede, blieb stehen und fragte: „Was willst du mir sagen?“ Die Frau antwortete: „Ich bin aus dem Dorfe hier in der Nähe. Dieses Dorf beherrscht ein Löwe, der mit einem Sprunge die ganze Welt über den Haufen werfen könnte. Damit er nun nicht das ganze Dorf vernichte, haben die Bewohner aus Furcht vor ihm sich einmütig entschlossen, jeden Tag dreimal das Los zu werfen und, wen es trifft, in die Küche des Löwen zu schicken. Jetzt hat das Los meine beiden Söhne und mich getroffen. Nun bist du auch in der Hoffnung, daß ich dir als Nahrung diene, gekommen. Ich möchte dich nun nicht enttäuscht gehen lassen, das leidet meine Großmut nicht, aber es geht auch nicht an, den Löwen in seiner Nahrung zu schädigen. So ist es also billig, daß du einen von meinen Söhnen und die Hälfte von mir verzehrst und die andere Hälfte von mir und mein anderer Sohn für den Löwen verbleibt, damit weder du noch der Löwe leer ausgehen.“
Als der Tiger diese Worte hörte, fürchtete er sich vor dem Löwen und sagte voll Bewunderung über die Großmut der Frau: „Pelenkferib, eine solche Großmut habe ich bis jetzt noch bei keinem Geschöpf gesehen. Du opferst dich für den Unterhalt deines Feindes. Ist wohl bis jetzt deines Gleichen auf der Erde gewesen?“ Die Frau antwortete: [226]„Großmut besteht darin, Leib und Leben dahinzugeben, allein mit Geld ist es nicht getan. Es gibt viele hunderttausend Menschen in dieser Welt, die dem Feinde Wohltaten erwiesen haben. Da fällt mir eine passende Geschichte ein. Wenn du willst, werde ich sie dir erzählen.“ Der Tiger war sehr begierig sie zu hören und sagte: „Erzähle, was ist das für eine Geschichte?“ Pelenkferib erzählte:
„In den alten Geschichtsbüchern wird erwähnt: Als der Beste der Kalifen der Ommajaden, der kluge und verständige Omar ben Abdulaziz, regierte, da vergiftete diesen Gerechten einer seiner Diener, ein unglücklicher, verfluchter Bösewicht. Als seines Körpers Pflanze durch die Einwirkung des Giftes grün wie ein Garten wurde und die Angelegenheit allgemein bekannt wurde, da ließ der Kalife diesen Diener, der ihm das Gift gegeben, zu sich allein rufen und sagte: ‚Unglücklicher, sage mir die Wahrheit, ob dies Verbrechen allein von dir ausgeht.‘ Der Bösewicht sagte notgedrungen die Wahrheit, daß ihm einer von den Feinden des Kalifen viel Geld versprochen habe, und deswegen habe er die scheußliche Tat getan.
Der Kalife sagte: ‚Du Tor, ich werde mich von dieser Krankheit nicht erholen, sonst würde ich dir viel Gutes schenken. Aber nach meinem Tode wird mein Sohn, der Erbe meines Thrones, sicherlich deine Hinrichtung befehlen. Darum fliehe schleunigst, solange ich noch lebe, aus diesem Lande, daß du dich vielleicht rettest.‘ Er gab ihm unzählige Goldstücke und schickte ihn weg.“
Als die Frau mit der Geschichte fertig war, wandte sie sich an den Tiger und sagte: „Ich muß ja sterben, und da ist es mir einerlei, ob ich vom Löwen oder vom Tiger aufgefressen werde. Ich würde mich freuen, wenn ich dir zufiele, da wir nun schon so lange miteinander erzählt haben, und in Wirklichkeit habe ich auch in meinem Herzen eine Liebe zu dir. Deswegen will ich dir einen Rat geben. Wenn du den einen meiner Söhne und die Hälfte von mir verzehrt [227]hast, halte dich hier nicht auf, sondern entfliehe schnell, denn ich habe eine Zauberin zur Schwester. Diese weiß noch nicht, daß ich durch das Los dem Löwen zugefallen bin. Wenn sie es erfahren wird, kommt sie hierher und steckt die ganze Gegend in Brand, und wer sich ihr nähert, verbrennt zu Asche. Wenn sie zufälligerweise auch von dir hört, möchte sie auch dir ein Leid antun.“
Als der Tiger diese Worte hörte, fürchtete er sich sowohl vor dem Löwen wie auch vor der Zauberin. Da er außerdem Pelenkferibs Edelsinn bewunderte und Mitleid mit ihr hatte, so verließ er sie, ohne ihr etwas anzutun, und machte sich auf den Weg.
Unterwegs traf er einen Fuchs, mit dem er befreundet war. Als dieser den Tiger aufgeregt aussehend fand, fragte er ihn nach dem Grunde. Der Tiger erzählte ihm das Abenteuer, das ihm passiert war. Der Fuchs tadelte ihn und sagte: „Die Weisen haben Recht, wenn sie sagen, alle Tapferen sind dumm, denn auch du bist zwar tapfer, aber unverständig. Was nützt dir also dein Mut? Du Dummkopf, die Menschen sind vom Kopf bis zum Fuß nur List und Trug. Sie meinen, daß wir Füchse uns besonders auf die List verstehen, aber die Menschen sind uns überlegen. An Stellen, wo wir es nicht erwarten, stellen sie Fallen und fangen uns und tragen nachher unsern Pelz. Auch diese Frau hat einen so Mutigen wie dich betrogen. Kein Verständiger hätte eine so fette Beute aus der Hand gelassen. Laß von dieser Dummheit, führe mich an die Stelle. Vielleicht komme ich unter deinem Schütze auch zu einem Braten.“
Der Tiger antwortete: „Wenn die Frau nun die Wahrheit gesagt hat, und ihre Schwester, die Zauberin, kommt und uns durch ihre Zauberei verbrennen will, dann kannst du dich schnell in Sicherheit bringen, da du leichtfüßig bist. Ich aber, der ich von schwerfälligem Körperbau bin, kann nicht entfliehen. Außerdem habe ich mit der Frau einen Vertrag abgeschlossen, und sein Wort muß man [228]halten. Darum wollen wir nun die Sache ruhen lassen.“ Der Fuchs aber blieb hartnäckig und sagte: „Tiger, die Frau hat gelogen. Wenn sie aber wirklich die Wahrheit sollte gesagt haben, so reiße mich zuerst in Stücke, und, wenn du meinst, daß ich schnell entfliehen und mich in Sicherheit bringen kann, so binde ein Bein von mir an das deinige, und so wollen wir gehen.“
Der Tiger band also ein Bein des Fuchses an sein Bein, und so zogen sie zu der Stelle, wo die Frau war. Diese hatte, als der Tiger sie verlassen hatte, zu sich gesagt: „Wenn ich jetzt schleunigst fliehe und der Tiger das, was er getan, bereut und zurückkommt und mich verfolgt, dann würde ich mich, auch wenn ich tausend Leben hätte, nicht vor ihm retten können. Darum ist es das Klügste, sich nicht zu beeilen, sondern hier zu bleiben. Wenn er kommt, will ich, um ihn zu täuschen, alles Schilf hier anzünden.“ Sie zündete alles Schilf in der Gegend an und stieg auf einen Baum. Da sah sie auch, daß der Tiger kam mit dem Fuchs, den er an sein Bein gebunden hatte, als Weggenossen. Sie erriet, daß dieser den Tiger aufgereizt habe. Sie rief daher unter Wehklagen vom Baume: „Du unverständiger Tiger, infolge unserer langen Unterhaltung hatte ich Mitleid mit dir. Warum hast du meinen Rat nicht befolgt und dich in dieses Feuermeer gestürzt? Ich hatte dir doch vorher gesagt, daß meine Schwester kommen und die Welt in Brand setzen werde. Durch Zauberei hat sie sich in einen Fuchs verwandelt und geht neben dir, während du glaubst, daß er dein Freund sei. Sie wird dich nun vernichten. Komm nicht näher, sondern bringe dich schleunigst in Sicherheit.“