Vor alten Zeiten lebte in einer Prärie ein Löwe, der einen Affen als Haushofmeister hatte. Einst mußte der Löwe weggehen, und er übertrug die Bewachung des Ortes dem Affen. Aber dieser war dazu nicht in der Lage, denn bisweilen betraten Fremde den Ort. Einst kam der Luchs dorthin und sah, daß es ein angenehmer Platz und eine entzückende Stelle war. So beschloß er sich dort niederzulassen.
Als der Affe den Luchs dort sah, sagte er: „Luchs, was für eine Unverschämtheit begehst du, und warum streckst du dich in Überhebung nicht nach der Decke? Nach dem Worte: ‚Gott erbarmt sich über den, der bescheiden ist und nicht hoch hinauswill‘, geziemt es sich für jeden, daß er sich richtig einschätzt und nicht seine Grenze überschreitet. Dieser Platz gehört dem Löwen, dem Könige der Tiere. Seiner Macht und Kraft kann niemand entgegentreten. Wie kannst du in deiner Dummheit dies wagen? Fürchtest du dich nicht vor der Gewalt seiner Tatzen?“ Der Luchs antwortete: „Du bist das dümmste Wesen der Welt, daß du so grundlos unnütze Reden führst. Wie hat [220]der Löwe diesen Platz erworben, und welches Anrecht hat er darauf? Seit alten Zeiten habe ich ihn von meinem Vater geerbt. Mögen Löwen, ja sogar Tiger kommen, ich will mit ihnen kämpfen. Wofür hältst du mich? Glaubst du, daß ich mich vor einem Löwen fürchte? Denkst du, ich sei nur ein Luchs? Wenn man jenen den Löwen nennt, so nennt man mich den Löwenbezwinger. In meiner Küche wird nur Löwen- und Tigerfleisch gekocht. Was ist das für ein Hund, den du Löwe nennst? Er mag nur kommen. Ich werde ihn schon in seine Schranken weisen und ihn lehren, anderer ererbten Besitz sich anzueignen.“
Der Affe war von den mutigen Worten überwältigt, wandte sich und ging weg, aber das Weibchen des Luchses sagte: „Wir können nun doch nicht länger hier bleiben. Wir müssen uns vor den Tatzen des Löwen in acht nehmen, und es ist verständig, sich möglichst bald davon zu machen.“ Der Luchs antwortete: „Fürchte dich nicht! Vielleicht ist dies gar nicht der Platz des Löwen, und selbst, wenn es der Fall sein sollte, könnte es durch Gottes Güte doch möglich sein, daß ihm dort, wohin er gegangen ist, ein Unfall zugestoßen sei und er nicht zurückkäme, und wenn er kommt, so ist es immer noch möglich, durch eine List sich vor ihm zu retten. Wollen den heutigen Tag als Gewinn ansehen und ihn fröhlich genießen. Für morgen wird Gott schon sorgen.“ Die Luchsin sagte: „Ich zweifle nicht, daß dieser Platz dem Löwen gehört, und es ist sehr wahrscheinlich, daß er keinen Unfall erleidet und hier erscheint, außerdem wird man ihm erzählen, wie frech du von ihm gesprochen hast. Und wenn du sagst, du würdest bei seiner Ankunft eine List anwenden, so ist List auch nicht immer angebracht. Bisweilen stürzte der Listige in sein Verderben, wie der Wolf, der den Schakal überlisten wollte, durch seine List selber umkam.“ Der Luchs fragte: „Was ist das für eine Geschichte?“ Die Luchsin antwortete: „Ich habe gehört, daß einst ein Wolf die Höhle eines Schakals leer fand. Er ging hinein, um den Schakal, wenn [221]er komme, zu fangen. Als der Schakal kam, sah er am Eingang der Höhle außer seinen noch fremde Fußspuren. Vorsichtig ging er nicht hinein, sondern beschloß, bevor er sie betrete, vorsichtig zu verfahren. Er rief daher vor der Tür: ‚Mein Haus, mein liebes Nest!‘ Als aus dem Hause keine Antwort kam, sagte er: ‚Liebes Haus, sonst hat doch immer ein Gespräch zwischen uns stattgefunden. Jedesmal wenn ich zu deiner Tür kam, rief ich, und du antwortetest. Jetzt habe ich gerufen, du hast aber nicht geantwortet. Es wäre schön, wenn du antwortetest, sonst müßte ich dich verlassen und mir eine andere Wohnung suchen.‘
Der Wolf im Innern der Höhle sagte zu sich: ‚Weiß Gott, es muß zu den Eigentümlichkeiten dieser Höhle gehören, zu antworten, wenn der Besitzer kommt. Wenn ich jetzt nicht antworte, so geht der Schakal weg, und all mein Bemühen war umsonst. Es ist also das Klügste, zu antworten.‘ Er antwortete also: ‚Zu Befehl.‘ Als der Schakal die Stimme des Wolfes hörte und wußte, wie die Sache stand, ging er zu einem Hirten, der in der Nähe war, und erzählte ihm, daß der Wolf in der Höhle sei. Der Hirt hatte schon oft von Gott eine solche Gelegenheit erfleht, denn der Wolf hatte ihm schon oft ein Schaf von seiner Herde geraubt. Er ging also sofort zu jener Höhle, legte vor ihre Öffnung einen großen Stein. Der arme Wolf starb drinnen vor Hunger und Durst, und die List, die er gegen den Schakal geplant hatte, traf ihn selber.“
Als der Luchs diese Geschichte hörte, antwortete er der Luchsin:
„Wie kannst du mich mit dem Wolf vergleichen? Der Wolf, wie du ihn nennst, ist ein dummer Hund. Wenn er Verstand gehabt hätte, würde er nicht aus dem Hause geantwortet haben. Der Kluge darf natürlich in seiner List keine Fehler machen. Aber das verstehst du nicht.“
Während der Luchs sich mit der Luchsin stritt, entstand plötzlich ein Lärm. Der Löwe war nämlich gekommen. Die Tiere standen auf und begrüßten ihn. Sein Hausmeister, [222]der Affe, aber eilte allen voraus und erzählte, daß der Luchs gekommen sei und sich so unverschämt benommen habe. Da sagte der Löwe: „Affe, so viel Mut und Energie, wie du da erzählst, hat der Luchs gar nicht. Das ist gar kein Luchs, sondern ein wildes Tier, das mich an Kraft und Mut übertrifft, sonst hätte es dies nicht gewagt, deswegen muß ich vorsichtig sein.“
Als er dann nicht weiter vorging, sagt der Affe zu ihm: „König der Tiere, gibt es auf der Erde ein Wesen, das tapferer, mutiger und heldenhafter als du wäre? Warum tust du so? Ich habe ihn hundertmal gesehen und weiß ganz sicher, daß es ein Luchs ist. Darum laß dich, bitte, nicht von der Furcht überwältigen!“ Der Löwe antwortete: „Affe, ein Luchs hat nicht so viel Mut. Seine Art hat tausendfach meine gewaltige Faust kennen gelernt, aber nach dem Worte des Korans: ‚Über jeden Wissenden gibt es einen Allwisser‘, ist es nicht unwahrscheinlich, daß dies Tier zwar an Wuchs klein, aber an Mut mir überlegen ist. Es heißt ja auch: ‚Selbst den Löwen besiegt und schlägt er‘, und ein Sprichwort sagt: ‚Es ist besser, sich zur Flucht bereit zu halten als im Unglück zu bleiben.‘ Anstatt mit ihm zu kämpfen und, wenn ich keinen Erfolg habe, meine Ehre zu schädigen, ist es verständiger, sofort zu fliehen, ohne von ihm gesehen zu werden.“
Als der Löwe und der Affe so miteinander sprachen, näherten sie sich der Wohnung, immer sich nach rechts und links umschauend und auf die Flucht bedacht. Währenddessen sagte die Luchsin: „Was ich befürchtete, ist geschehen. Was willst du nun tun?“ Der Luchs antwortete: „Wenn der Löwe herankommt, dann bringe unsere Jungen zum Weinen und Jammern. Wenn ich dann dich frage: ‚Warum läßt du unsere Kinder schreien?‘, dann antworte: ‚Unsere Kinder sind gewohnt, Löwenfleisch zu essen. Zwar fehlt es durch deine, des Löwenbezwingers, Bemühungen in unserer Küche nicht an Tigerfleisch, aber da das Löwenfleisch zarter ist, so verlangen unsere Kinder dieses.‘“[223]
Als der Löwe sich ihnen näherte, brachte die Luchsin tatsächlich die Jungen zum Weinen, und als der Luchs mit lauter Stimme rief: „Warum läßt du die Jungen weinen?“, da antwortete sie, wie sie gelehrt war. Der Luchs rief: „In unserer Küche liegt Tigerfleisch bergehoch, aber wenn sie an Löwenfleisch gewohnt sind und Tigerfleisch nicht mögen, wo ist das Löwenfleisch geblieben, das ich neulich gebracht habe?“ Da antwortete die Luchsin: „Es ist zwar Löwenfleisch da, aber da unsere Kinder an frisches Löwenfleisch gewöhnt sind, so wollen sie das alte nicht essen und verlangen frischen Löwenbraten.“ Der Luchs rief: „Für den Augenblick sollen sie sich mit altem begnügen. Der Löwe, der in diesem Walde lebte, muß bald hierher kommen, denn, seitdem er gegangen ist, ist schon reichlich Zeit verflossen, er wird wahrscheinlich bald kommen. Wenn er mit Gottes Güte heute oder morgen kommt, werde ich ihnen von seinem Fleisch einen Braten machen.“
Als der Löwe diese Worte mit eigenen Ohren hörte, sagte er zum Affen: „Hast du es nun gehört? Sagte ich dir nicht, dies ist ein mächtiger Feind? Ein Luchs wagt so etwas nicht. Das Beste ist es nun, diesen Ort zu verlassen.“ Als er fliehen wollte, sagte der Affe: „König der Tiere, lasse dich durch Furcht doch nicht so verwirren! Jenes Tier ist ein schwaches, verächtliches Geschöpf. Wenn du nun einmal in diesem Wahn lebst, so lasse dich doch, bitte, in den Kampf ein, und du wirst den wirklichen Sachverhalt erfahren.“ Mit derartigen vielen Worten brachte er den Löwen wieder zur Umkehr und führte ihn wieder zum Luchs. Als dieser den Löwen sah, da wußte er, daß der Affe ihn durch sein Drängen zur Umkehr bewogen habe. Er ließ also wieder seine Jungen weinen, und, als auf seine Frage die Luchsin wie das erste Mal antwortete, sagte er: „Habe ich dir nicht gesagt, du solltest die Jungen für den Augenblick, soweit möglich, beruhigen? Wie ich höre, ist der Löwe, der auf dieses Haus Anspruch erhebt, soeben gekommen, [224]und mein Freund, der Affe, ist auch da. Er hatte es übernommen, den Löwen, sobald er gekommen sei, durch List zu mir zu führen. Wenn Gott der Höchste den Plan des Affen, meines Freundes, zur Ausführung kommen läßt, werde ich dem Löwen, sobald er herangekommen ist, mit einen Angriff den Garaus machen. Dann werden wir selbst und die Jungen zu leben haben, und ich werde mich dem Affen für seine Bemühung dankbar erweisen und ihn in meine nächste Umgebung aufnehmen.“