[von Johann Karl August Musäus]
Einst lauschte der Berggeist in Busch und Hecken. Das war an einem Wasserfall, der seine Silberflut in ein seichtes Becken ergoss. Dort sah er die Gestalt eines Mädchens, lieblich wie die Venus anzuschauen, denn sie stieg eben ins Bad. Rings um sie herum hatten sich ihre Gespielinnen ins Gras gelagert. Sie scherzten und kosten mit ihrer Gebieterin in unschuldsvoller Fröhlichkeit. Dieser Anblick wirkte so wunderlich auf den lauschenden Berggeist, dass er seine eigene Natur vergaß und sich das Los der Sterblichkeit wünschte.
Geschwind verwandelte er sich in einen schwarzen Kolkraben und schwang sich auf einen hohen Eschenbaum, der das Bad überschattete. Dort wollte er das anmutige Schauspiel genießen, doch der Plan war nicht gut bedacht. Er sah jetzt alles mit Rabenaugen, und ein Nest mit Waldmäusen schien ihm anziehender als die badende Nymphe. Da bemerkte er seine Narretei und besann sich eines Besseren.
Er flog ins Gebüsch und verwandelte sich in einen blühenden Jüngling. Das schien ihm jetzt der rechte Weg zusein. Es erwachten Gefühle in seiner Brust, von denen er noch nichts geahnt hatte. Ein starker Trieb zog ihn magisch zu dem Wasserfall hin, doch er spürte auch eine gewisse Scheu. Sie hielt ihn davon ab, aus dem Gesträuch zu brechen, durch welches sein Auge verstohlene Blicke warf.
Die schöne Nymphe war die Tochter des schlesischen Königs, der damals in der Gegend des Riesengebirges herrschte. Sie pflegte oft mit den Jungfrauen ihres Hofes in den Wäldern und Büschen zu wandeln. Wenn der Tag aber heiß war, versäumte es die Prinzessin nie, sich bei der Felsenquelle am Wasserfall zu erfrischen und darin zu baden. So kam es, dass sie die Liebe des Berggeistes durch ihren Zauber bannte. Und dieser wollte den Platz am Wasserfall gar nicht mehr verlassen. Mit Ungeduld wartete er täglich auf die Wiederkehr der reizenden Badegesellschaft.
Die junge Königstochter zögerte nach dem letzten Bad ein längere Zeit, doch dann kam wieder ein herrlicher Sommertag, an dem sie den Wasserfall mit ihrem Gefolge erneut besuchte. Ihre Verwunderung war groß, fand sie doch alles ganz verändert vor. Die rohen Felsen waren nun mit Marmor und Alabaster bekleidet. Das Wasser stürzte nicht mehr in einem wilden Strom von der steilen Bergwand, sondern rauschte mit sanftem Gemurmel in ein weites Marmorbecken herunter. In der Mitte des Beckens strebte ein rascher Wasserstrahl empor, der in einem dichten Platzregen lustig in den Wasserbehälter zurückplätscherte. Und Rosenhecken, mit wildem Jasmin und Silberblüten vermengt, umrankten in einiger Entfernung den wunderbaren Ort. Rechts und links der Kaskade öffnete sich der doppelte Eingang zu einer prächtigen Grotte, deren Wände und Bogengewölbe in feinster Mosaikarbeit prangten. Alles funkelte und flimmerte, dass es das Auge blendete. In verschiedenen Nischen waren die schönsten Erfrischungen aufgetischt, deren Anblick zum Genießen verführte.
Die Prinzessin stand lange in stummer Bewunderung da. Sie wusste nicht, ob sie ihren Augen trauen durfte. Sollte sie diesen bezaubernden Ort betreten oder meiden? - Nach langem Zögern konnte sie aber nicht widerstehen. Alles wollte sie beschauen und von den herrlichen Früchten kosten, die für sie aufgetragen schienen. Das tat sie ausgiebig mit ihrem Gefolge, doch dann überkam sie große Lust, in dem Marmorbecken zu baden.
Kaum war die liebliche Nymphe über den glatten Rand des Marmorbeckens geschlüpft, sank sie in eine endlose Tiefe, obwohl der Silberkies auf dem Grunde keine Gefahr vermuten ließ. Die Gespielinnen versuchten noch, das goldgelbe Haar ihrer Gebieterin zu fassen, doch die gefräßige Flut hatte sie schon verschlungen. Mit lautem Wehklagen flehten die erschrockenen Mädchen um Erbarmen und liefen hilflos am Becken entlang, wo das Springwasser sie mit einem Platzregen übergoss.
Keine wagte es, der Gebieterin nachzuspringen, wäre da nicht Brinhild gewesen. Sie war die liebste Gespielin der Königstochter, und stürzte sich mutig in den bodenlosen Strudel. Aber sie schwamm wie ein leichter Korken auf dem Wasser, und es gelang ihr bei aller Mühe nicht, in die Fluten einzutauchen. Nun war guter Rat teuer, und sie mussten dem König die traurige Begebenheit hinterbringen. Die Mädchen begegneten ihm, als er gerade mit seinen Jägern in den Wald zog. Der König hörte es und zerriss sein Kleid vor Trauer und Entsetzen, nahm die goldene Krone vom Haupt, verhüllte sein Angesicht mit dem Purpurmantel, und beklagte laut den Verlust der schönen Emma.
Nachdem sich der König aber wieder gefangen hatte, stärkte er seinen Mut und trieb sein Pferd an, das Abenteuer am Wasserfall selbst zu beschauen. Doch der seltsame Zauber schien wie vom Erdboden verschwunden, denn die Natur stand wieder in alter Wildheit da. Der guten König glaubte jedoch nicht an eine Entführung seiner Tochter durch einen ehrlosen Ritter, denn Entführungen gehörten damals im Lande nicht zur Sitte. Vielmehr nahm er den Bericht der Gespielinnen auf Treu und Glauben und meinte, Thor, Wodan oder sonst ein Gott sei mit im Spiele gewesen. Darauf setzte er die Jagdpartie fort und tröstete sich bald über den Verlust seiner Tochter. Denn für Erdenkönige gibt es eigentlich nur einen schlimmen Kummer, den Verlust der Krone.
Unterdessen erging es der liebreizenden Emma in den Armen ihres Liebhabers nicht übel. Unser Berggeist hatte durch das Gaukelspiel der Versenkung die Augen des Gefolges getäuscht. Er brachte die schöne Königstochter durch einen unterirdischen Gang in einen prächtigen Palast, der an Glanz den Königspalast bei weitem übertraf. Als sich die Lebensgeister der Prinzessin wieder erholt hatten, befand sie sich auf einem gemütlichen Sofa. Sie war mit einem Gewand aus rosafarbenem Satin und einem Gürtel aus himmelblauer Seide angetan. Ein junger Mann mit edlen Gesichtszügen lag ihr zu Füßen und gestand ihr aus tiefstem Herzen seine Liebe.
Emma errötete nun ein wenig, und der entzückte Gnom berichtete ihr über seine Herkunft. Er sprach von den unterirdischen Staaten, die er beherrschte, führte sie durch die Zimmer des Palastes und zeigte ihr all die Pracht und den Reichtum. Ein herrlicher Lustgarten umgab das Anwesen. Alle Obstbäume trugen purpurrote Äpfel, die mit Gold gesprenkelt oder zur Hälfte vergoldet waren. Das Gebüsch war mit Singvögeln angefüllt, die ihre Stimmen hell erklingen ließen. In den Bogengängen wandelte das Paar nun viele Male. Sein Blick hing an ihren Lippen, und sein Ohr sehnte sich unaufhörlich nach den sanften Tönen aus ihrem Munde. In seinem früheren Leben hatte der Berggeist solches noch nie erfahren, was ihm jetzt als erste Liebe begegnete.
Die reizende Emma empfand es anders. Traurigkeit hing über ihrer Stirn, und sanfte Schwermut offenbarte, dass in ihrem Herzen geheime Wünsche lagen. Der Berggeist bemühte sich, durch tausend Liebkosungen die dunklen Wolken zu zerstreuen , doch alles schien vergebens. "Der Mensch", dachte er sich, "ist ein geselliges Tier wie die Biene und die Ameise. Es fehlt der schönen Sterblichen an Unterhaltung. Wem soll sie sich mitteilen? Für wen ihren Putz ordnen? Mit wem soll sie sich darüber beraten, und was könnte ihre Eitelkeit befriedigen?"
Kurz entschlossen ging der Berggeist hinaus aufs Feld, zog auf einem Acker ein Dutzend Rüben aus und legte sie in einen zierlich geflochtenen Deckelkorb. Diesen brachte er zur schönen Emma, die einsam in einer Laube eine Rose entblätterte. "Schönste Erdentochter", sprach der Gnom, "verbanne den Trübsinn aus deiner Seele und öffne dein Herz für gesellige Freude. Du sollst nicht mehr einsam in meiner Wohnung sein. In diesem Korb ist alles, was dir den Aufenthalt angenehm machen kann. Nimm den kleinen Stab dort und gib durch seine Berührung den Erdgewächsen Gestalten, die dir gefallen."
Hierauf verließ er die Prinzessin, und sie zögerte keinen Augenblick, den Zauberstab zu gebrauchen. Sie öffnete den Deckelkorb und rief: "Brinhild, liebe Brindhild, erscheine!" Da lag Brinhild zu ihren Füßen, umfasste die Knie ihrer Gebieterin und begrüßte sie mit Freudentränen. Die Täuschung war so vollkommen, dass Emma selbst nicht wusste, was sie von ihrer Schöpfung halten sollte. Doch die Freude über das Wiedersehen war zu groß. Hand in Hand wanderte sie mit ihrer Gespielin im Garten umher, ließ sie die herrlichen Anlagen bewundern und pflückte ihr goldgesprenkelte Äpfel von den Bäumen. Dann führte sie Brinhild durch alle Zimmer des Palastes, bis in die Kleiderkammer. Alle Schleier, Gürtel, Ohrenspangen wurden gemustert und anprobiert. Die scheinbare Brinhild wusste sich dabei gut zu benehmen und zeigte viel Geschmack. Wenn sie auch in Wahrheit nichts als eine Rübe war, konnte man ihr doch den Ruhm nicht absprechen, dass sie die Krone ihres Geschlechtes war.
Der Berggeist war von dieser Entwicklung entzückt und freute sich über den guten Fortgang seiner Menschenkunde. Die schöne Emma erschien ihm jetzt schöner, freundlicher und heiterer als zuvor. Die Königstochter nahm jetzt ihren ganzen Rübenvorrat und machte daraus die Gestalten der Jungfrauen, die einst zu ihrem Gefolge gehörten.
So richtete Emma nun ihren Hofstaat wieder ein und verteilte Aufgaben an ihre Dienerinnen. Noch nie wurde eine Herrschaft besser bedient als die Königstochter. Das Gesinde kam ihren Wünschen nach, gehorchte auf jeden Wink und folgten den Anweisungen ohne Widerspruch. Reihentänze, Gesänge und Saitenspiel wechselten vom Morgen bis zum Abend.
Da merkte die Prinzessin plötzlich, dass die frische Gesichtsfarbe ihrer Dienerinnen etwas nachließ. Der Spiegel im Marmorsaal verriet ihr, dass nur sie alleine wie eine Rose aus der Knospe blühte. Die geliebte Brinhild und die übrigen Jungfrauen glichen eher welkenden Blumen, obwohl sie keinerlei Mangel erdulden mussten. Lebendigkeit und Tatkraft schwanden von Tag zu Tag dahin, und das jugendliche Feuer erlosch.
Als Emma dann am nächsten Morgen in das Gesellschaftszimmer trat, erschrak sie fürchterlich. Ein Haufen eingeschrumpfter Mütterchen kam ihr zitternd an Stäben und Krücken entgegen. Sie konnten sich nur mühsam auf den Beinen halten. Bestürzt eilte die Prinzessin aus dem Zimmer, rief laut den Berggeist, der auch erschien: "Boshafter Gnom", sprach sie, "warum gönnst du mir die Gesellschaft meiner Gespielinnen nicht? Willst du mich quälen? Gib meinen Dienerinnen ihre Jugend und Wohlgestalt zurück, sonst wird dich mein Hass und meine Verachtung strafen."
"Schönste der Erdentöchter", erwiderte der Gnom, "zürne mir nicht! Alles, was in meiner Gewalt steht, wird geschehen. Aber fordere nicht das Unmögliche von mir. Die Kräfte der Natur gehorchen mir zwar, doch gegen unwandelbare Gesetze vermag ich nichts zu tun. Solange die Kraft des Wachstums in den Rüben war, konnte der magische Stab ihr Leben nach deinem Wünschen wandeln. Die Säfte der Rüben sind nun vertrocknet, und ihr Wesen neigt sich der Zerstörung zu. Das soll dich aber nicht kümmern, Geliebte. Ein frisch gefüllter Deckelkorb kann den Schaden leicht ersetzen. Du wirst daraus alle Gestalten wieder hervorrufen, die du begehrest. Nun gib Mutter Natur ihre Geschenke zurück. Auf dem großen Rasenplatz im Garten wirst du bessere Gesellschaft finden." Darauf entfernte sich der Gnom.
Fräulein Emma nahm nun ihren Zauberstab zur Hand. Sie berührte damit die gerunzelten Weiber, las die eingeschrumpften Rüben auf, und tat damit, was Kinder mit altem Spielzeug machen. Sie warf den Plunder in eine Ecke und dachte nicht mehr daran. Leichtfüßig hüpfte sie nun über den grünen Rasen dahin, um den frisch gefüllten Deckelkorb in Empfang zu nehmen. Sie ging den Garten auf und ab, spähte fleißig umher, aber es wollte kein Korb zum Vorschein kommen. Da kam ihr der Gnom mit sichtbarer Verlegenheit entgegen, dass sie es schon von Ferne sah. "Du hast mich getäuscht", sprach sie. "Wo ist der neue Deckelkorb? Ich suche ihn schon seit einer Stunde vergebens." "Gebieterin meines Herzens", antwortete der Geist, "kannst du mir nicht verzeihen? Ich versprach mehr, als ich geben konnte. Durch das ganze Land ich bin gezogen, um Rüben zu suchen. Sie sind aber längst geerntet und welken in dunklen Kellern. Unten im Tal ist es Winter, und nur deine Gegenwart hat den Frühling hier an diesen Felsen gefesselt."
Kaum war der Gnom mit dieser Rede zu Ende, drehte die schöne Emma ihm unwillig den Rücken zu und ließ ihn ohne Antwort stehen. Er aber fegte von dannen in die nächste Marktstadt, kaufte in der Gestalt eines Pächters einen Esel und belud ihn mit schweren Säcken. Die waren voller Samen, womit er einen ganzen Morgen Land besäte. Danach wies er einen seiner dienstbaren Geister an, das Feld zu behüten und ein unterirdisches Feuer anzuschüren, um die Saat mit Wärme zum Treiben zu bringen. Die Rübensaat schoss auch lustig auf und versprach in kurzer Zeit eine reiche Ernte. Und Fräulein Emma ging jeden Tag auf das Feld hinaus, doch Grübelei und Missmut trübten immer noch ihre himmelblauen Augen.
Der Gnom sah nun wohl, dass die Liebe der schönen Emma auch durch tausend Gefälligkeiten nicht so leicht zu gewinnen war. Trotzdem versuchte er es immer wieder, erkannte aber nicht die wahre Ursache dieser Widerspenstigkeit. Denn er glaubte, das Herz der Geliebten sei noch frei und unbefangen.
Das war ein großer Irrtum. Ein junger Grenznachbar, Fürst Ratibor, hatte bereits ihre Liebe errungen. Das glückliche Paar sah schon dem Tag der Hochzeit entgegen, als die Braut plötzlich entschwand. Diese Nachricht verwandelte den liebenden Ratibor in einen rasenden Roland. Er verließ seine Residenz, zog menschenscheu in die einsamen Wälder und klagte den Felsen sein Unglück. Die treue Emma verbarg indes ihre Liebe so fest in ihrem Herzen, dass der spähende Gnom das Geheimnis nicht lüften konnte.
Lange hatte Emma schon überlegt, wie sie ihren Gastgeber überlisten und entrinnen könnte. Da ersann sie einen listigen Plan. Der Frühling kehrte in die Gebirgstäler zurück, und der Gnom ließ das Feuer unter dem Feld verlöschen. Die Rüben aber, deren Wachstum durch den Winter nicht behindert war, gediehen zur Reife. Die schlaue Emma zog täglich einige davon aus und machte damit Versuche, ihnen allerlei Gestalten zu geben. Es sah dem Anschein nach so aus, als wolle sie sich damit belustigen, doch ihre Absicht ging weiter.
Eines Tages ließ sie eine kleine Rübe zur Elster werden, um sie wegzuschicken und Kundschaft von ihrem Geliebten einzuziehen. "Schwanke hin, beredsamer Vogel," sprach sie, "von Baum zu Baum, bis du zu meinem Verlobten Ratibor gelangst. Erzähle ihm von meiner Gefangenschaft und gib ihm Bescheid, dass er in drei Tagen im Maiental an der Grenze des Gebirges auf mich warten möge." Die zweifarbige Elster gehorchte und flatterte davon.
Der gequälte Ratibor irrte noch immer traurig in den Wäldern umher. Die Rückkehr des Frühlings und die auflebende Natur hatten seinen Kummer nur noch vermehrt. Er saß unter einer schattenreichen Eiche, dachte an seine Prinzessin und seufzte. Plötzlich hörte er eine fremde Stimme, obwohl niemand zu sehen war. Er glaubte sich schon getäuscht, da sah er über sich eine Elster in den Zweigen. Dieser gelehrige Vogel war es, der seinen Namen rief.
"Armer Schwätzer", sprach Ratibor mit Verdruss, "wer hat dich gelehrt, diesen Namen zusprechen?" Er packte wütend einen Stein und wollte ihn schon nach dem Vogel schleudern, als dieser auch den Namen Emma rief. Da durchschauerte frohes Entzücken den Fürsten, und sein Herz hüpfte vor Freude. Nun begann der Sprecher auf dem Baum zu erzählen, was Emma ihm aufgetragen hatte.
Schnell eilte der Fürst zu seinem Hoflager zurück, rüstete eilig seinen Mannen, und zog mit ihnen hinaus, das Abenteuer zu bestehen. Fräulein Emma hatte unterdessen alles vorbereitet. Sie ließ davon ab, den geduldigen Gnom mit Gleichgültigkeit zu quälen. Aus ihren Augen sprach nun Hoffnung, und ihr spröder Sinn schien vergangen. Solche glücklichen Anzeichen lassen einen seufzenden Liebhaber wieder hoffen. Der Gnom erneuerte sein Liebeswerben, bat um Erhörung und wurde nicht zurückgewiesen. Die Hochzeit war so gut wie beschlossen, und das Fräulein begehrte nur noch einen Tag Bedenkzeit, die der liebestrunkene Gnom bereitwillig gewährte.
Am folgenden Morgen, trat die schöne Emma wie eine Braut geschmückt hervor. Ihr blondes Haar glänzte in der aufgehenden Sonne und die Juwelen an ihrem Kleid funkelten in tausend Farben. Der Gnom wartete schon auf der großen Terrasse und sie kam ihm mit einem Schleier vor dem Gesicht entgegen. "Himmlisches Mädchen", stammelte er, "lass mich die Seligkeit der Liebe aus deinen Augen trinken und verweigere mir nicht länger den bejahenden Blick!"
Schon wollte der Gnom ihr Antlitz enthüllen, aber das Fräulein machte ihre Schleierwolke noch dichter und sprach: "Wie vermag eine Sterbliche dir zu widerstehen, Gebieter meines Herzens? Deine Standhaftigkeit hat gesiegt. Nimm dieses Geständnis meiner Lippen, aber lass mich mein Erröten und meine Tränen in diesem Schleier verbergen." "Warum Tränen, o Geliebte?", erwiderte der beunruhigte Gnom, "Jede deiner Tränen fällt wie ein brennender Tropfen auf mein Herz. Ich suche Liebe und will nicht Aufopferung."
"Ach", sprach Emma, "warum missdeutest du meine Tränen? Mein Herz ist dir gewogen, aber eine bange Vorahnung zerreißt meine Seele. Du alterst nicht, doch meine irdische Schönheit ist eine Blume, die bald dahinwelkt. Woran soll ich erkennen, dass du für immer der zärtliche und liebevolle Gemahl bleiben wirst?" Er antwortete: "Fordere einen Beweis für meine Treue und die Stärke meiner unwandelbaren Liebe." "So soll es sein!", beschloss die schlaue Emma, "Gehe hin und zähle alle Rüben auf dem Acker. Mein Hochzeittag soll nicht ohne Zeugen sein. Ich will sie beleben, damit sie mir als Kranzjungfrauen dienen. Aber hüte dich, mich zu täuschen und zähle sorgsam. Das ist die Probe, mit der ich deine Treue prüfen will."
Der Gnom gehorchte und machte sich rasch auf den Weg. Er hüpfte geschwind durch die Rübenreihen und war mit seinem Rechenexempel bald fertig. Um sich aber ganz sicher sein, zählte er die Rüben nochmals und fand zu seinem Verdruss einen Fehler in der Rechnung. Das nötigte ihn, zum dritten Mal den Rübenpöbel durchzumustern. Aber auch dieses Mal ergab sich eine andere Zahl, und das war nicht verwunderlich. Denn an solch einem Tage kann der geordnete Hirnkasten schon in Verwirrung geraten.
Die verschmitzte Emma hatte ihren Anwärter nicht aus den Augen verloren, und sah nun die rechte Zeit für die Flucht gekommen. Sie hielt eine wohlgenährte Rübe in Bereitschaft, die sie geschwind in ein mutiges Ross verwandelte. Rasch schwang sie sich in den Sattel, flog wie ein Wirbelwind über das Gebirge hinab ins Maiental, wo sie sich dem geliebten Ratibor fröhlich in die Arme warf.
Der geschäftige Gnom hatte sich indessen so in seine Zahlen vertieft, dass er gar nicht bemerkte, was geschah. Nach langer Mühe gelang es ihm aber endlich, die wahre Zahl der Rüben zu bestimmen. Froh gelaunt eilte er zum Palast zurück, um seinen Treuebeweis mitzuteilen. Er trat er auf den Rasenplatz, aber die Liebste fand er nicht. Besorgt lief er im Garten durch die Lauben und Gänge, auch da war sie nicht. Er kam in den Palast, durchspähte alle Winkel, rief den Namen der Geliebten, doch alles blieb stumm. Da erkannte der Gnom das Unheil.
Geschwind warf er seine Verwandlung ab, schwang sich hoch in die Lüfte und sah die Fliehende weit in der Ferne. Wütend ballte der ergrimmte Berggeist ein paar friedliche Wolken zusammen und schleuderte der Fliehenden einen kräftigen Blitz nach. Dieser zersplitterte eine tausend Jahre alte Grenzeiche, nur jenseits davon war die Rache des Gnoms gänzlich unwirksam.
Der Berggeist durchkreuzte verzweifelt die oberen Luftregionen, und klagte den vier Winden seine unglückliche Liebe. Als er sich dann aber ausgetobt hatte, kehrte er trübsinnig in den Palast zurück und schlich betrübt durch alle Gemächer.
Bald hernach brach sein Unmut in grässlichen Verwünschungen aus, und er gelobte der Menschenkunde ganz zu entsagen. Dabei stampfte er dreimal auf die Erde, und der ganze Zauberpalast mit all seiner Herrlichkeit kehrte in sein ursprüngliches Nichts zurück. Der Abgrund sperrte seinen weiten Rachen auf, und der Berggeist fuhr hinab in die Tiefe, bis an die andere Grenze seines Gebietes, am Mittelpunk der Erde.
Als dieses im Gebirge geschah, war Fürst Ratibor noch damit beschäftigt, seine herrliche Braut in Sicherheit zu bringen. Er führte die schöne Emma an den Hof ihres Vaters zurück. Dort hielten sie die prächtige Hochzeit. Und danach erbaute der Fürst die Stadt Ratibor, die seinen Namen bis auf heutigen Tag trägt.
Das sonderbare Abenteuer der Prinzessin wurde aber das Märchen des Landes. Es pflanzte sich von Geschlecht zu Geschlecht fort. Und die Bewohner der umliegenden Gegenden, die den Berggeist bei seinem Namen nicht zu nennen wussten, gaben ihm nun einen Spottnamen. Sie riefen ihn Rübenzähler oder kurzweg Rübezahl.