Hoch oben auf dem Berge Sinai da wächst seit Jahrtausenden ein großer, unendlicher Rosenstock, der breitet seine Zweige hoch über das ganze Weltall; die Gerechten und Frommen erkennen den Himmelsschimmer seiner Blüthen an dem Glanze des Morgen- und dem Purpurscheine des Abendlichtes und beten unter dem Blüthendom, ja selbst die schwarzen Stämme des Aequators kennen schon den Rosenstock und beugen sich unter seinen heiligen Blüthenschauer.
Dieser Rosenstock lebt ewig – ewig und unzählich wachsen seine Blumen, und jedesmal wenn ein Kind geboren wird, dann fallen aus einer der zehn Rosen des Sinai zehn Samenkörner herab in des Kindes Brust. Dort keimen sie, wenn die Mutter an der Wiege sitzt, sie schlagen ihre Wurzeln, wenn der Säugling in süßem Schlummer lächelt, und der Engel zu Häupten des Kindes pflegt ihre ersten Keime.
Das Kind aber wächst und in seiner Brust entwickeln sich langsam die Knospen und gießen ihren sanften Schimmer über des Kindes Wangen. Gute Eltern wachen über die Rosen in seiner Brust, gute Lehren befruchten sie, daß sie gedeihen und zur vollen Blüthe kommen.
An jenem Tage aber, wo das Kind zum ersten Male an den Tisch des Herrn tritt, da bethauen sich die zehn Knospen mit den Freudenthränen der Eltern, unter dem fruchtbringenden Hauch eines göttlichen Evangeliums schwellen sie zu vollen üppigen Rosen, und Christi Blut, das über des Kindes Lippen fließt, färbt die Rosen mit dem wunderschönsten Purpurglanz.
So werden die Rosen bis zur Blüthe gepflegt; mit ihnen tritt der Knabe in die Welt, die ihm nicht immer nur Sonnenschein bietet und wohl Demjenigen, der ihren Keim unversehrt erhält, wenn unter den Stürmen des Lebens die eine oder die andere der Rosen traurig das Haupt senkt und ihm klagend zuruft: »willst Du mich denn sterben lassen?«
In der Brust des bösen Kindes hingegen wollen die Rosen keine Wurzeln fassen; der Engel, der an seinem Bette sitzt, sie zu pflegen, wendet trauernd sein Antlitz ab und kehrt endlich zu Dem zurück, der ihn als Gärtner gesandt. Und an der Stelle der Rosen beginnt nun das Unkraut zu wuchern, aus diesem wächst mit dem Kinde selbst ein Dorn empor, der immer größer wird, und um seinen Stamm windet sich eine Schlange, die auch die letzte Rosenblüthe erstickt. – Also folgen auch die Rosen dem Engel in seine Heimath zurück und auf dem Grabe des Kindes wächst dereinst nur der Dorn, und an dem großen Rosenbaum droben welkt jene Blüthe, aus der einst die zehn Körner in seine Brust gefallen, denn sie trauert um eine verlorene Seele.
Am Sarge des guten Kindes jedoch flicht der Engel zehn weiße Rosen um die bleiche Stirn desselben zu einem Kranze; die Rosen folgen ihm in das Grab, schlagen dort neue Wurzeln, wachsen aus dem Hügel und sagen der Welt: »hier ruht ein gutes Kind!« – Und das Abendroth leuchtet doppelt schön über dem Grabe, der große Rosenbaum droben rauscht mit seinen Blättern, in seinen Zweigen sitzen Millionen von Engeln, die empfangen mit lieblichem Gesang den Bruder, der ihnen die Seele des guten Kindes, einen neuen Gespielen hinauf bringt.