Es war einmal ein Mann, der war sehr arm und krank dazu. Als er nun fühlte, daß er sterben sollte, rief er seine Frau an sein Bett und sprach zu ihr: »Liebe Frau, ich fühle, daß es mit mir zu Ende geht; nun würde ich ruhig und ohne Sorgen sterben, wenn ich nur wüßte, daß es dir und unserem Karl nach meinem Tode gut ginge. Ich kann euch nichts hinterlassen, was euch vor Not schützen könnte; aber wenn ich gestorben bin, so geh' du mit unserm Sohn zu meinem Bruder, der jenseits des großen Waldes in einem Dorfe wohnt. Das ist ein wohlhabender Mann, und er ist immer brüderlich gegen mich gesinnt gewesen; der wird für euch sorgen.« Darauf starb der Mann; und als er begraben war, begab die Frau sich mit ihrem Sohn auf den Weg zu dem Bruder, wie ihr verstorbener Mann ihr befohlen hatte. Aber die Mutter haßte den Sohn und war ihm feind auf alle Weise; Karl aber war ein guter Junge und schon ziemlich erwachsen. Als sie nun eine gute Strecke gegangen waren, lag da ein blaues Band am Wege. Karl bückte sich und wollte es aufnehmen, aber die Mutter sprach: »Laß doch das alte Band liegen; was willst du damit?« Karl aber dachte: »Wer weiß, wozu es gut ist! Es wäre doch wirklich schade, wenn das schmucke Band hier liegen bliebe«, nahm es also mit und band es heimlich, damit seine Mutter es nicht gewahr würde, unter seiner Jacke um den Arm. Da ward er nun so stark, daß niemand, so lange er das Band trug, ihm etwas anhaben konnte und alle ihn fürchten mußten.
Nun gingen sie weiter und kamen in den großen Wald, und nachdem sie lange darin herumgewandert waren, gelangten sie an eine Höhle. Da stand ein gedeckter Tisch da, besetzt mit herrlichen Speisen in silbernen Schüsseln. Karl sprach: »Da kommen wir just zur rechten Zeit, mich hungert schon lange; ich will mich erst einmal hier satt essen, das Essen scheint gut zu sein.« Nun setzten sie sich nieder und aßen und tranken nach Herzenslust. Als sie eben gegessen hatten, kam der große Riese, dem die Höhle gehörte, nach Hause; er war aber ganz freundlich und sprach: »Das ist recht, daß ihr schon zugelangt und nicht auf mich gewartet habt; wenn's euch hier gefällt, so könnt ihr gerne für immer bei mir in der Höhle bleiben«, und zu der Frau sagte er, daß sie seine Frau werden könnte. Sie sagten beide ja dazu, und nun lebten sie ganz vergnügt eine Zeitlang bei dem Riesen in der Höhle.
Der Riese gewann Karl von Tag zu Tag lieber; aber seine Mutter haßte ihn noch immer, und als sie merkte, wie stark er geworden war, ward sie noch grimmiger und sprach eines Tages zu dem Riesen: »Siehst du wohl, wie stark Karl ist? Er kann doch für uns gefährlich werden, je älter er wird und je mehr er an Kräften zunimmt. Dann kann es leicht soweit kommen, daß er uns totschlägt, damit er die Höhle allein hat, oder er uns auch hinausjagt. Es wäre besser und klug von dir, wenn du dich beizeiten vorsähest und bei Gelegenheit ihn auf die Seite schafftest.« Aber der Riese antwortete: »Sprich mir doch nicht so etwas vor! Karl ist ein guter Junge und wird uns nichts zuleide tun; ich werde ihm kein Haar krümmen, es würde mir übel ansteh'n.«
Als die Frau nun sah, daß der Riese nicht dazu zu bewegen war, legte sie sich den ändern Tag aufs Bett und stellte sich krank. Dann rief sie ihren Sohn und sprach: »Lieber Karl, ich bin so krank, daß ich gewiß sterben werde. Aber ein Mittel gibt es noch, das mich retten kann. Mir hat geträumt, daß, wenn ich von der Milch der Löwin, die hier nicht weit von uns ihre Höhle hat, einen Trunk erhalten könnte, ich gewiß genesen würde. Wenn du mich lieb hast, so könntest du mir helfen; du könntest hingehen und mir etwas Milch holen.« »Jawohl, liebe Mutter«, antwortete Karl, »das will ich gerne tun, wenn ich nur weiß, daß es dir helfen wird.« Nahm also einen Napf und ging in die Höhle der Löwin. Die lag da mit ihren Jungen und säugte sie. Karl aber legte die Jungen beiseite und fing an zu melken; das litt die Löwin ganz ruhig. Da aber kam der alte Löwe mit Gebrüll in die Höhle und fiel Karl von hinten an. Aber schnell wandte Karl sich um, nahm den Hals des Löwen unter den Arm und drückte ihn so fest an sich, daß er jämmerlich zu winseln anfing und ganz zahm ward. Da ließ Karl den Löwen los. Der Löwe legte sich in die Ecke und Karl molk weiter, bis die Schale voll war. Als er nun die Höhle verließ, sprang die Löwin hinter ihm her mit ihren Jungen, und bald folgte auch der alte Löwe ihnen. So kam er zu seiner Mutter und brachte ihr die Milch; sie erschrak sich aber so vor den Löwen, daß sie rief: »Karl, bringe doch die wilden Tieren hinaus, sonst sterbe ich noch vor Angst.« Da gingen die Tiere von selbst still hinaus, aber legten sich vor die Tür, und wenn Karl hinauskam, so sprangen sie auf ihn zu und freuten sich.
Da nun dieser Anschlag der bösen Mutter so mißlungen war, sprach sie wieder zu dem Riesen: »Wärest du gleich meinem Rate gefolgt, so hätten wir nun nichts mehr zu fürchten; jetzt aber steht's noch schlimmer als vorher, und da er nun die Tiere hat, werden wir so leicht ihm nichts anhaben können.« Der Riese antwortete: »Ich weiß auch nicht, warum wir ihm etwas tun sollten. Karl ist ja gut, und die Tiere sind zahm!«
Aber die Mutter sagte: »Es könnte ihm doch leicht in den Sinn kommen, uns zur Höhle hinauszujagen oder gar totzuschlagen, um selber darin Herr zu sein; ich kann nicht glücklich sein, so lange ich das fürchten muß.«