Tante gab mir süße Näschereien, als ich klein war. Meine Zähne hielten es aus, wurden nicht schlecht dadurch; jetzt bin ich älter geworden, bin Student; sie verhätschelt mich noch immer mit Süßigkeiten, sagt, daß ich ein Dichter bin.
Ich habe etwas vom Poeten in mir, aber nicht genug. Oft, wenn ich in den Straßen der Stadt gehe, ist es mir, als ginge ich in einer großen Bibliothek; die Häuser sind Bücherregale, jedes Stockwerk ist ein Brett mit Büchern. Dort steht eine gute, alte Komödie, dort stehen wissenschaftliche Werke aus allen Fächern, hier Schnitzliteratur und gute Lektüre. Ich kann über alle die Bücher phantasieren und philosophieren.
Es ist etwas vom Poeten in mir, aber nicht genug. Manche Menschen haben gewiß ebenso viel davon in sich und tragen doch kein Schild oder Halsband mit dem Namen Poet.
Ihnen wie mir ist eine Gabe Gottes gegeben, ein Segen, groß genug an sich, aber zu klein, um ausgestückt und an andre gegeben zu werden. Es kommt ganz plötzlich, wie ein Sonnenstrahl, füllt die Seele und den Gedanken, es kommt wie ein Blumenduft, wie eine Melodie, die man kennt, ohne doch zu wissen, woher sie kommt.
Neulich abends saß ich in meinem Zimmer, hatte Verlangen, etwas zu lesen, hatte kein Buch, kein Blatt, da fiel ein grünes Blatt vom Lindenbaum. Der Wind trug es zum Fenster, zu mir herein.
Ich betrachtete die vielen verzweigten Adern; ein kleiner Wurm bewegte sich darüber hin, als wollte er ein gründliches Studium des Blattes unternehmen.
Da mußte ich an Menschenweisheit denken, wir krabbeln auch auf dem Blatt umher, kennen nur das, aber halten sofort einen Vortrag über den ganzen großen Baum, die Wurzeln, den Stamm und die Krone; über den großen Baum: Gott, die Welt und die Unsterblichkeit, und kennen von dem ganzen Baum nur ein kleines Blatt.
Wie ich so dasaß, bekam ich Besuch von Tante Mille.
Ich zeigte ihr das Blatt mit dem Wurm, sagte ihr meine Gedanken dabei, und ihre Augen leuchteten.
"Du bist ein Dichter", sagte sie, "vielleicht der größte, den wir haben! Wenn ich das erleben sollte, dann gehe ich gern in mein Grab. Du hast mich seit Brauer Rasmussens Begräbnis immer durch deine mächtige Phantasie in Erstaunen versetzt."
Das sagte Tante Mille, und dann küßte sie mich.
Wer war Tante Mille, und wer war Brauer Rasmussen?