Der Wind saust in dem alten Weidenbaum!
Es ist, als hörte man ein Lied; der Wind singt es, der Baum erzählt es. Verstehst du es nicht, dann frage die alte Johanne im Armenhaus, sie weiß Bescheid, sie ist hier im Dorfe geboren.
Vor vielen Jahren, als die Landstraße noch hier vorüberführte, war der Baum schon groß und bemerkbar. Er stand, wo er noch jetzt steht, vor dem weißen Fachwerkhaus des Schneiders, dicht am Teich, der damals so groß war, daß das Vieh darin getränkt wurde, und wo im heißen Sommer die kleinen Bauernjungen nackt herumliefen und im Wasser plätscherten. Dicht unter dem Baum war ein Meilenzeiger aus gehauenen Steinen aufgestellt; jetzt ist er umgefallen, die Brombeerranken wachsen darüber hin.
Jenseits des reichen Bauernhofes wurde die neue Landstraße angelegt, die alte wurde Feldweg, der Teich eine Pfütze, mit Entenflott überwuchert; plumpste ein Frosch hinein, so trennte sich das Grüne, und man sah das schwarze Wasser; ringsumher wuchsen und wachsen noch heute Rohrkolben, Bitterklee und gelbe Iris.
Das Haus des Schneiders wurde alt und schief, das Dach ein Mistbeet für Moos und Hauslauch; der Taubenschlag war eingestürzt, und der Star baute da; die Schwalben hängten Nest an Nest unter dem Giebel des Hauses und unter dem Dach auf, als sei hier eine Stätte des Glücks.
Das war es hier auch einmal; jetzt war es einsam und still geworden. Einsam und willensschwach lebte hier drinnen »der dumme Rasmus«, wie sie ihn nannten; er war hier geboren, er hatte hier gespielt, war über Feld und Zaun gesprungen, hatte als kleiner Junge im offenen Teich geplätschert und war in den alten Baum hinaufgeklettert.
Der erhob seine großen Zweige mit Pracht und Schönheit, so wie er sie noch jetzt erhebt, aber der Sturm hatte den Stamm schon ein wenig schief gebogen, und die Zeit hatte ihm einen Riß beigebracht; jetzt haben Wind und Wetter Erde in den Riß hineingelegt, es wachsen Gras und Kräuter darin, ja, ein kleiner Vogelbeerbaum hat sich selber da hineingepflanzt.
Wenn im Frühling die Schwalben kamen, flogen sie um den Baum und um das Doch, sie klebten und besserten ihre alten Nester aus, der dumme Rasmus ließ sein Nest stehen oder verfallen, wie es wollte; er besserte es weder aus noch stützte er es. »Was kann das nützen!« war seine Redensart, und das war auch die seines Vaters gewesen.
Er blieb in seinem Heim, die Schwalben flogen fort, aber die kamen wieder, die treuen Tiere. Der Star flog fort, er kam wieder zurück und flötete sein Lied; einmal konnte Rasmus mit ihm um die Wette flöten; jetzt flötete und sang er nicht mehr.
Der Wind sauste in dem alten Weidenbaum, er saust noch, es ist, als hörte man ein Lied; der Wind singt es, der Baum erzählt es; verstehst du es nicht, dann frage die alte Johanne im Armenhaus, sie weiß Bescheid, sie ist klug in alten Geschichten, sie ist wie eine Chronik mit Aufzeichnungen und alten Erinnerungen.
Als das Haus neu und gut war, zog der Dorfschneider Ivar Ölse mit seiner Frau Maren hinein; strebsame, rechtschaffene Leute alle beide. Die alte Johanne war damals ein Kind, sie war die Tochter des Holzschuhmachers, eines der ärmsten Leute im Dorf. Manch ein gutes Butterbrot bekam sie von Maren, in deren Hause kein Mangel an Essen war; die stand sich gut mit der Schloßherrin, immer lachte sie und war froh, sie ließ sich nicht einschüchtern. Sie brauchte ihren Mund, aber auch ihre Hände; sie führte die Nähnadel ebenso schnell wie den Mund und besorgte dabei ihr Haus und ihre Kinder. Es war fast ein Dutzend, volle elf, das zwölfte blieb aus.
»Arme Leute haben immer das Nest voll von Gören!« brummte der Schloßherr. »Könnte man sie wie die kleinen Katzen ersäufen und nur ein oder zwei von den stärksten behalten, so gäbe es nicht so viel Unglück!«
»Gott erbarme sich!« sagte die Schneidersfrau. »Kinder sind doch ein Segen Gottes, sie sind die Freude im Hause. Jedes Kind ist ein Vaterunser mehr. Ist es knapp und hat man viele Münder zu versorgen, so strengt man sich stärker an, findet Rat und Tat in aller Ehrlichkeit, der liebe Gott verläßt uns nicht, wenn wir ihn nicht verlassen.«
Die Schloßherrin stimmte ihr bei, nickte freundlich und streichelte Marens Wange, das hatte sie oft getan, ja, sie hatte sie auch geküßt, aber da war die gnädige Frau noch ein kleines Kind und Maren ihr Kindermädchen. Sie liebten einander, und diese Gesinnung veränderte sich nicht.
Jedes Jahr, zur Weihnachtszeit, kam vom Schloß Wintervorrat für das Haus des Schneiders: eine Tonne Mehl, ein Schwein, zwei Gänse, eine Vierteltonne Butter, Käse und Äpfel. Das half der Speisekammer auf. Ivar Ölse sah denn auch recht vergnügt aus, kam aber doch bald wieder mit seiner alten Redensart: »Was kann das nützen!«
Rein und nett war es dort im Hause, Gardinen vor den Fenstern und Blumen auf den Fensterbrettern, Nelken und Balsaminen. Ein Namentuch prangte im Bilderrahmen, und dicht daneben hing ein Gedicht, das Maren Ölse selber gedichtet hatte; sie wußte die Reime zu fügen. Sie war stolz auf den Familiennamen Ölse. Immer bewahrte sie ihre gute Laune, niemals sagte sie wie der Mann: »Was kann das nützen!« Ihre Redensart war: »Halte auf dich und halte dich am Herrn!« Das tat sie, und das hielt das Ganze zusammen. Die Kinder gediehen gut und wuchsen über das Nest hinaus, kamen weit umher und schickten sich gut. Rasmus war der kleinste; er war ein so hübsches Kind, daß einer der großen Bildermaler in der Stadt ihn sich lieh, um ihn zu malen, und zwar so nackt, wie ihn der liebe Gott erschaffen hatte. Das Bild hing jetzt im königlichen Schloß, da hatte die Schloßherrin es gesehen und den kleinen Rasmus erkannt, obwohl er keine Kleider anhatte.
Aber nun kamen schwere Zeiten. Der Schneider bekam Gicht in beiden Händen, es setzten sich große Knoten, kein Doktor konnte helfen, nicht einmal die kluge Stine, die »dokterte«.
»Man muß nur nicht verzagen!« sagte Maren. »Es hilft nicht, den Kopf hängen zu lassen! Nun kann der Vater die Hände nicht mehr gebrauchen, da muß ich sehen, daß ich meine um so flinker gebrauche. Der kleine Rasmus kann auch die Nadel führen!«
Es saß schon auf dem Tisch, pfiff und sang, er war ein lustiger Junge. Den ganzen Tag solle er nicht dasitzen, sagte die Mutter, das sei Unrecht gegen das Kind; spielen und springen sollte er auch.
Holzschuhmachers Johanne war sein bester Spielkamerad; sie hatte noch ärmere Eltern als Rasmus. Schön war sie nicht, barfüßig ging sie; die Kleider hingen ihr in Lumpen vom Leibe, sie hatte niemand, der sie ihr hätte ausbessern können, und es selber zu tun, fiel ihr nicht ein; sie war ein Kind und froh wie ein Vogel in des lieben Gottes Sonnenschein.
Am Meilenzeiger unter dem großen Weidenbaum spielten Rasmus und Johanne.
Er hatte hochfliegende Gedanken; er wollte einmal ein feiner Schneider werden und in der Stadt wohnen, wo Meister waren, die zehn Gesellen auf dem Tisch sitzen hatten, das hatte er von seinem Vater gehört; dort wollte er Geselle werden, und dort wollte er Meister werden, und dann sollte Johanne kommen und ihn besuchen, und wenn sie dann zu kochen verstand, sollte sie das Essen für sie alle machen und ihre eigene Stube haben.
Johanne wagte nicht recht daran zu glauben, aber Rasmus glaubte, daß es wohl geschehen würde.
Dann saßen sie unter dem alten Baum, und der Wind sauste in den Blättern und Zweigen, es war, als wenn der Wind sang und der Baum erzählte. Im Herbst fielen alle Blätter vom Baum, der Regen tropfte von den kahlen Zweigen.
»Sie schlagen wieder aus!« sagte Mutter Ölse.
»Was kann das nützen!« sagte der Mann. »Ein neues Jahr, neue Sorgen fürs Auskommen!«
»Die Speisekammer ist gefüllt!« sagte die Frau. »Dafür können wir unserer guten gnädigen Frau danken. ich bin gesund und habe gute Kräfte. Es wäre unrecht von uns, wenn wir klagen wollten!«
Während der Weihnachtszeit blieben der Schloßherr und seine Frau in ihrem Schloß auf dem Lande, aber in der Woche nach Neujahr zogen sie in die Stadt, wo sie ihren Winter in Freude und Lustbarkeit verbrachten. Sie gingen auf Bälle und zu Festlichkeiten beim König selber.
Die gnädige Frau hatte zwei herrliche Kleider aus Frankreich bekommen; sie waren aus einem solchen Stoff, von einem solchen Schnitt und einer solchen Machart, daß die Schneiderfrau Maren noch nie eine solche Herrlichkeit gesehen hatte. Sie bat sich denn auch bei der gnädigen Frau aus, daß sie mit ihrem Mann auf das Schloß kommen dürfe, so daß auch er die Kleider sehen könnte. So etwas hätte der Dorfschneider noch nie gesehen, sagte sie.
Er sah sie und hatte kein Wort dafür, bis er nach Hause kam, und was er dann sagte, war nur, was er immer sagte: »Was kann das nützen!« und diesmal wurden seine Worte Wahrheit.
Die Herrschaft kam in die Stadt, Bälle und Lustbarkeiten begannen da drinnen, aber während all dieser Herrlichkeit starb der alte Schloßherr und die Frau kam gar nicht in ihre kostbaren Kleider. Sie war so betrübt und von Kopf bis zu den Füßen in schwarze, dichte Trauerkleidung gehüllt; nicht einmal ein weißer Streifen war zu sehen; alle Dienstboten waren in Schwarz, selbst die Staatskutsche wurde mit schwarzem, feinem Tuch überzogen.
Es war eine eiskalte Frostnacht, der Schnee leuchtete, die Sterne blitzten; der schwere Leichenwagen kam mit der Leiche aus der Stadt nach der Schloßkirche, wo sie in dem Erbbegräbnis der Familie beigesetzt werden sollte. Der Verwalter und der Dorfschulze hielten zu Pferde und mit Fackeln vor der Kirchhofspforte. Die Kirche war erleuchtet, und der Pfarrer stand in der öffnen Kirchentür und nahm die Leiche in Empfang. Der Sarg wurde in den Chor hinaufgetragen, die ganze Gemeinde folgte. Der Pfarrer redete, ein Gesang wurde gesungen; die gnädige Frau war auch in der Kirche, sie war in der schwarzüberzogenen Staatskutsche dahin gefahren, die war inwendig schwarz und auswendig schwarz; so etwas war noch nie im Dorfe gesehen worden.
Von all diesen Trauerfeierlichkeiten wurde den ganzen Winter hindurch geredet, ja, das war ein »herrschaftliches Begräbnis«.
»Da sah man, was der Mann bedeutete!« sagten die Leute im Dorf. »Er war hochadelig geboren, und er wurde hochadelig begraben!«
»Was kann das nützen!« sagte der Schneider. »Jetzt hat er weder Leben noch Güter. Wir haben doch wenigstens einen Teil davon!«
»Rede doch nicht solche Worte!« sagte Maren. »Er hat das ewige Leben im Himmelreich!«
»Wer hat dir das gesagt; Maren?« fragte der Schneider. »Ein toter Mann ist guter Dünger! Aber der Mann hier war gewiß selber zu vornehm, um in der Erde Nutzen zu schaffen. Er soll in der Grabkapelle liegen!«
»Rede doch nicht so gottlos!« sagte Maren. »Ich sage es dir nochmals: er hat das ewige Leben!«
»Wer hat dir das gesagt, Maren?« wiederholte der Schneider.
Und Maren warf ihre Schürze über den kleinen Rasmus; er sollte solche Reden nicht hören.
Sie trug ihn hinüber in den Torfschuppen und weinte.
»Das, was du vorhin gehört hast, lieber Rasmus, das waren nicht deines Vaters Worte, die sagte der Böse, der durch die Stube ging und die Stimme deines Vaters annahm. Bete ein Vaterunser! Wir wollen beide beten!« Sie faltete die Hände des Kindes.
»Jetzt bin ich wieder froh!« sagte sie. »Halte auf dich und halte fest an dem lieben Gott!«
Das Trauerjahr war zu Ende, die Witwe ging in Halbtrauer. Im Herzen trug sie volle Freude.
Es wurde davon geflüstert, daß sie einen Bewerber habe und schon an Hochzeit denke. Maren wußte etwas davon, und der Pfarrer wußte noch ein wenig mehr.
Am Palmsonntag, nach der Predigt, sollten die Witwe und ihr Verlobter aufgeboten werden. Er war Holzschnitzer oder Bildhauer, den Namen seiner Beschäftigung wußte man nicht so recht, damals waren Thorwaldsen und seine Kunst noch nicht recht im Volksmund. Der neue Schloßherr war nicht hochadelig, aber doch ein sehr stattlicher Herr; er war etwas, was niemand verstand, sagten sie, er haute Bilder aus, war tüchtig in seinem Beruf, jung und schön.
»Was kann das nützen!« sagte Schneider Ölse.
Am Palmsonntag wurde das Aufgebot von der Kanzel verlesen; dann folgten Gesang und Abendmahl. Der Schneider, seine Frau und der kleine Rasmus waren in der Kirche. Die Eltern gingen zum Abendmahl, Rasmus saß im Kirchenstuhl, er war noch nicht konfirmiert. Es hatte in der letzten Zeit in dem Haus des Schneiders an Kleidern gefehlt; die alten, die sie hatten, waren wieder und wieder gewendet, genäht und geflickt; nun waren sie alle drei in neuen Kleidern, aber es war schwarzes Zeug, wie zu einem Begräbnis, die waren in den Überzug der Trauerkutsche gekleidet. Der Mann hatte Rock und Hose davon bekommen, Maren ein hochhalsiges Kleid und Rasmus einen ganzen Anzug, in den er zur Konfirmation hineinwachsen konnte. Man hatte das auswendige wie auch das inwendige Zeug von der Trauerkutsche genommen. Niemand brauchte zu wissen, wozu es früher gebraucht worden war, aber die Leute bekamen es doch bald zu wissen, die kluge Frau Stine und ein paar andere ebenso kluge Frauen, die freilich nicht von ihrer Klugheit lebten, sagten, daß die Kleider Unglück und Krankheit ins Haus bringen würden. »Man darf sich nicht in eine Leichenkutsche kleiden, außer wenn man zu Grabe fährt.
Holzschuhmachers Johanne weinte, als sie das hörte, und da es sich nun so traf, daß der Schneider seit jenem Tage mehr und mehr kränkelte, so würde es sich wohl zeigen, wer daran glauben müsse.
Und es zeigte sich.
Am ersten Sonntag nach Trinitatis starb Schneider Ölse. Nun mußte Maren das Ganze allein zusammenhalten; sie hielt es zusammen, sie hielt auf sich selber, und sie hielt sich am Herrn.
Das Jahr darauf wurde Rasmus eingesegnet; nun sollte er zur Stadt, zu einem großen Schneider, freilich nicht mit zwölf Gesellen auf dem Tisch, sondern mit einem; der kleine Rasmus konnte für einen halben gerechnet werden; froh sah er aus, aber Johanne weinte, sie liebte ihn mehr, als sie es selber wußte. Die Frau des Schneiders blieb in dem alten Haus und setzte die Profession fort.
Um die Zeit war es, daß die neue Landstraße eröffnet wurde, und die alte, die an dem Weidenbaum und an dem Hause des Schneiders vorüberführte, wurde Feldweg, der Teich wuchs zu. Entenflott legte sich über die Wasserpfütze, die zurückgeblieben war, der Meilenzeiger fiel um, er hatte keinen Zweck mehr, aber der Baum hielt sich kräftig und schön, der Wind sauste in Zweigen und Blättern.
Die Schwalben flogen fort, der Star flog fort, aber sie kamen im Frühling wieder, und als sie nun zum viertenmal zurückkehrten, kam auch Rasmus nach Hause. Er hatte sein Gesellenstück gemacht, war ein schöner Bursche, freilich ein wenig schmächtig. Jetzt wollte er seinen Ranzen schnüren, fremde Länder sehen; danach stand sein Sinn. Aber die Mutter hielt ihn zurück; daheim war es doch am besten! Alle die anderen Kinder waren ringsumher verstreut, er war der jüngste, er sollte das Haus haben. Arbeit könne er genug bekommen in der Gegend als reisender Schneider, vierzehn Tage auf dem einen Hof, vierzehn Tage auf dem anderen. Das war auch Reisen. Und Rasmus fügte sich seiner Mutter.
So schlief er wieder unter dem Dach seines Elternhauses, saß wieder unter dem alten Weidenbaum und hörte ihn sausen.
Gut sah er aus, pfeifen konnte er und neue und alte Lieder singen. Gern gesehen war er auf den großen Höfen, namentlich bei Klaus Hansen, dem zweitreichsten Bauer in der Gemeinde.
Die Tochter Else war wie die schönste Blume anzusehen, und sie lachte immer; es gab ja Leute, die schlimm genug waren, zu sagen, sie lache nur, um ihre schönen Zähne zu zeigen. Zum Lachen aufgelegt war sie und immer bereit, Narrenpossen zu treiben; alles kleidete sie.
Sie verliebte sich in Rasmus, und er verliebte sich in sie, aber niemand von ihnen sagte es mit klaren Worten.
Und dann ging er hin und wurde schwermütig; er hatte mehr von dem Sinn seines Vaters als von dem seiner Mutter. Guter Laune war er nur, wenn Else kam, dann lachten sie alle beide, scherzten und trieben Narrenpossen; aber obwohl Gelegenheit genug da war, sagte er doch nicht ein einziges heimliches Wort über seine Liebe. »Was kann das nützen!« war sein Gedanke. »Die Eltern sehen auf Wohlstand für sie, und den habe ich nicht; am klügsten ist es, wegzureisen!« Aber er konnte sich nicht von dem Hofe trennen, es war, als halte ihn Else an Fäden fest, er war in ihren Händen wie ein abgerichteter Vogel, er sang und pfiff nach ihrem Belieben und nach ihrem Willen.
Johanne, die Tochter des Holzschuhmachers, war Dienstmagd auf dem Hof, bei der geringsten Arbeit angestellt. Sie fuhr den Milchwagen aufs Feld, wo sie mit den andern Mägden die Kühe molk, ja, Dünger mußte sie auch fahren, wenn es nötig war. Sie kam nicht in die beste Stube hinein, und sie sah nicht viel von Rasmus und Else, aber doch hörte sie, daß die beiden so gut wie verlobt seien.
»Dann kommt Rasmus in Wohlstand!« sagte sie. »Das kann ich ihm gönnen!« Und ihre Augen wurden ganz feucht, aber das war doch kein Grund zum Weinen.
Es war Markt in der Stadt; Klaus Hansen fuhr dahin, und Rasmus war mit dabei, er saß neben Else. Er war ganz berauscht vor Liebe, aber davon sagte er kein Wort zu ihr.
»Er muß mir doch etwas davon sagen!« meinte das Mädchen, und darin hatte sie recht. »Wenn er nicht reden will, dann will ich ihn aufschrecken!«
Und bald sprach man auf dem Hofe davon, daß der reichste Hofbesitzer im Kirchspiel um Else gefreit habe, und das hatte er auch getan, aber niemand wußte, welche Antwort sie ihm gegeben hatte.
Die Gedanken schwirrten Rasmus im Kopfe herum.
Eines Abend steckte Else einen goldenen Ring an den Finger und fragte Rasmus dann, was er glaube, daß das zu bedeuten habe.
»Verlobung!« sagte er.
»Und mit wem, glaubst du?« fragte sie.
»Mit dem reichen Hofbesitzer!« sagte er.
»Das hast du getroffen!« sagte sie, nickte und schlüpfte davon.
Aber er schlich auch davon, kam heim in das Haus seiner Mutter wie ein verwirrter Mensch und schnürte seinen Ranzen. In die weite Welt hinaus wollte er; es half nichts, daß die Mutter weinte.
Er schnitt sich einen Stecken von dem alten Weidenbaume, er pfiff, als sei er guter Laune, er wollte hinaus, um die Herrlichkeit der ganzen Welt zu sehen. »Das ist ein großer Kummer für mich!« sagte die Mutter. »Aber für dich ist es wohl am besten und am richtigsten, daß du fortkommst, dann muß ich mich dareinschicken. Halte auf dich, und halte dich am Herrn, dann bekomme ich dich froh und vergnügt wieder.«
Er ging die neue Landstraße entlang, da sah er Johanne, die mit einem Fuder Dünger gefahren kam, sie hatte ihn nicht bemerkt, und er wollte nicht von ihr gesehen werden; er setzte sich hinter den Grabenzaun, da saß er gut verborgen – und Johanne fuhr vorüber.
In die Welt hinaus ging er. Niemand wußte wohin, seine Mutter dachte, er kommt wohl wieder nach Hause, ehe das Jahr um ist; nun bekommt er Neues zusehen, Neues zu denken und kommt dann wieder in die alten Falten hinein, die sich nicht mit einem Bügeleisen auspressen lassen. Er hat ein wenig zuviel von dem Sinn seines Vaters, ich sähe es lieber, wenn er meinen Sinn hätte, das arme Kind! Aber er kommt wohl heim, er kann ohne mich und das Haus nicht leben.
Die Muter wollte Jahr und Tag waren. Else wartete nur einen Monat, dann ging sie heimlich zu der klugen Frau Stine Madsdatter, die »doktern« konnte und aus Karten und Kaffee wahrsagen und mehr wußte als ihr »Vaterunser«. Sie wußte denn auch, wo Rasmus war. Das las sie aus dem Kaffeesatz. Er war in einer fremden Stadt, aber den Namen konnte sie nicht lesen. In der Stadt waren Soldaten und hübsche Mädchen. Seine Gedanken waren darauf gerichtet, die Flinte oder eins von den Mädchen zu nehmen.
Else konnte es nicht ertragen, das zu hören. Sie wollte gern ihr Spargeld geben, um ihn freizukaufen, aber niemand durfte es wissen.
Und die alte Stine versprach, daß er zurückkommen solle. Sie verstand sich auf eine Kunst, auf eine gefährliche Kunst für den, dem sie galt, aber das war das äußerste Mittel. Sie wollte den Kessel aufsetzen, um nach ihm zu kochen, und dann mußte er fort, wo in der Welt er auch war, er mußte heim, dahin, wo der Kessel und die Liebste ihn erwarteten; es konnten Monate darüber hingehen, ehe er kam, aber kommen mußte er, wenn er noch am Leben war. Ohne Ruhe und Rast, Tag und Nacht mußte er wandern, über See und Berg, mochte das Wetter mild oder rauh sein, mochten die Füße noch so müde werden. Heim sollte er, heim mußte er.
Der Mond war im ersten Viertel, das sei nötig für die Kunst, sagte die alte Stine. Es war stürmisches Wetter, es krachte in dem alten Weidenbaume; Stine schnitt einen Zweig ab, band einen Knoten hinein, das sollte schon helfen, Rasmus nach dem Hause seiner Mutter zurückzuziehen. Moos und Hauslauch wurden vom Dach genommen und in den Kessel getan, der auf das Feuer gesetzt wurde. Else sollte ein Blatt aus dem Gesangbuch reißen, sie riß zufällig das letzte Blatt heraus, das mit den Druckfehlern. »Das ist ganz egal!« sagte Stine und warf es in den Kessel.
Alles mögliche mußte in die Grütze hinein, die kochen und immer kochen mußte, bis Rasmus nach Hause kam. Der schwarze Hahn in der Stube bei der alten Stine mußte seinen roten Kamm hergeben, der kam in den Kessel. Elses dicker, goldener Ring kam auch hinein, und den würde sie nie wieder zu sehen bekommen, das sagte ihr Stine im voraus. Sie war so klug, Stine. Mancherlei, was wir nicht nennen können, kam in den Kessel hinein; er stand beständig auf dem Feuer oder auf glühenden Kohlen oder heißer Asche. Nur sie und Else wußten es.
Der Mond nahm zu, der Mond nahm ab; jedesmal kam Else und fragte: »Siehst du ihn nicht kommen?« »Vieles weiß ich«, sagte Stine, »und vieles sehe ich, aber die Weglänge, die er zu gehen hat, kann ich nicht sehen. Nun ist er über die ersten Berge! Nun ist er auf der See bei bösem Wetter! Der Weg ist lang, durch große Wälder, er hat Blasen an den Füßen, er hat Fieber im Kopf, aber weiter muß er.«
»Nein, nein!« sagte Else. »Es tut mir so leid!«
»Jetzt kann er nicht zurückgehalten werden, denn wenn wir das tun, so stürzt er tot auf der Landstraße um!«
Jahr und Tag sind vergangen. Der Mond schien rund und groß, der Wind sauste in dem alten Baum, am Himmel zeigte sich ein Regenbogen im Mondschein.
»Das ist das Zeichen der Bestätigung!« sagte Stine. »Nun kommt Rasmus.«
Aber er kam doch nicht.
»Die Wartezeit ist lang!« sagte Stine.
»Jetzt habe ich es satt!« sagte Else. Sie kam seltener zu Stine, brachte ihr keine neuen Geschenke.
Ihr Sinn wurde leichter, und eines schönen Morgens wußten sie alle im Dorfe, daß Else dem reichsten Hofbesitzer ihr Wort gegeben hatte.
Sie fuhr hinüber, um Hof und Acker, Vieh und Hausgerät anzusehen. Alles war in gutem Stande, da war kein Grund, mit der Hochzeit zu warten.
Sie ward mit einem großen Gastmahl, das drei Tage währte, gefeiert. Da wurde zu Klarinetten und Violinen getanzt. Niemand im Dorfe war bei der Einladung vergessen. Mutter Ölse war auch da, und als das Fest zu Ende war und die Schaffner den Gästen gedankt hatten und die Trompeten abgeblasen hatten, ging sie nach Hause mit den Resten von der Festmahlzeit.
Sie hatte die Tür nur mit einem Pflocke geschlossen, der war herausgenommen, die Tür stand offen, und in der Stube saß Rasmus. Er war heimgekehrt; in dieser Stunde gekommen. Herrgott, wie sah er aus! Nichts als Haut und Knochen, bleich und gelb war er.
»Rasmus!« sagte die Mutter. »Bist du es, den ich da sehe! – Wie siehst du elend aus! Aber ich freue mich von ganzem Herzen, daß ich dich wiederhabe!« Und sie gab ihm von den guten Speisen, die sie vom Gastmahl heimgebracht hatte, ein Stück vom Braten und von der Hochzeitstorte.
Er habe in der letzten Zeit, sagte er, soviel an seine Mutter, seine Heimat und den alten Weidenbaum gedacht. Es war sonderbar, wie oft er in seinen Träumen den Baum und die barfüßige Johanne gesehen habe.
Else erwähnte er nicht. Krank war er und zu Bett mußte er; aber wir glauben nicht, daß der Kessel schuld daran war oder daß er seine Macht über ihn ausgeübt hatte. Nur die alte Stine und Else glaubten es, aber sie sprachen nicht davon.
Rasmus lag in heftigem Fieber, ansteckend war es, niemand kam daher in das Haus des Schneiders außer Johanne, des Holzschuhmachers Tochter. Sie weinte, als sie sah, wie elend Rasmus war.
Der Doktor verschrieb ihm etwas von der Apotheke; er wollte keine Medizin nehmen. »Was kann das nützen!« sagte er.
»Ja, dann wirst du wieder besser!« sagte die Mutter. »Halte auf dich, und halte dich am Herrn! Könnte ich doch nur sehen, daß du wieder Fleisch auf den Knochen hast, könnte ich dich doch wieder flöten und singen hören, dann wollte ich gern mein Leben lassen!«
Und Rasmus genas von der Krankheit, aber seine Mutter bekam sie. Der liebe Gott rief sie zu sich und nicht ihn.
Einsam war es dort im Hause, und noch ärmer wurde es da drinnen. »Er ist verbraucht!« sagten sie im Dorfe. »Der dumme Rasmus!«
Ein wildes Leben hatte er auf seinen Reisen geführt, das und nicht der Kessel, der kochte, hatte sein Mark ausgesogen und ihm die Unruhe in den Körper gebracht. Das Haar wurde dünn und grau; etwas Ordentliches tun mochte er nicht. »Was kann das nützen!« sagte er. Er ging lieber in den Krug als in die Kirche.
An einem Herbstabend kam er, in Regen und Wind, beschwerlich den schmutzigen Weg vom Kruge nach seinem Hause gegangen. Seine Mutter war lange fort, in ihr Grab gelegt. Die Schwalben und der Star waren auch fort, die treuen Tiere. Johanne, die Tochter des Holzschuhmachers, war nicht fort; sie holte ihn auf dem Wege ein, sie begleitete ihn eine Strecke.
»Nimm dich zusammen, Rasmus!«
»Was kann das nützen!« sagte er.
»Das ist eine dumme Redensart, die du da hast!« sagte sie. »Denke an die Worte deiner Mutter: »Halte auf dich, und halte dich am Herrn!« Das tust du nicht, Rasmus! Das muß man und soll man tun. Sage niemals: »Was kann das nützen«, dann reißt du all dein Tun mit der Wurzel aus!«
Sie begleitete ihn bis an seine Haustür, da ging sie von ihm. Er blieb nicht im Hause. Er ging nach dem alten Weidenbaum, setzte sich auf einen Stein des umgestürzten Meilenzeigers.
Der Wind sauste in den Zweigen des Baumes; es war wie eine Rede. Rasmus antwortete darauf, er sprach laut, aber niemand hörte es, nur der Baum und der sausende Wind.
»Mich überfällt eine solche Kälte! Es ist wohl Zeit, zu Bett zu gehen! Schlafen! Schlafen!«
Und er ging aber nicht nach Hause, an den Teich hinab ging er; dort schwankte er und fiel. Der Regen strömte herab, der Wind war so eisig kalt, er fühlte es nicht; aber als die Sonne aufging und die Krähen über das Röhricht des Teiches flogen, erwachte er, halbtot. Hätte er seinen Kopf dahin gelegt, wo seine Füße lagen, dann hätte er sich nie wieder erhoben, das grüne Entenflott wäre sein Leichentuch geworden.
Als der Tag vorüber war, kam Johanne nach dem Hause des Schneiders. Sie war seine Hilfe, sie brachte ihn ins Krankenhaus.
»Wir haben einander von klein auf gekannt«, sagte sie. »Deine Mutter hat mir Bier und Essen gegeben, das kann ich ihr nie vergelten. Du wirst wieder gesund werden, du wirst ein Mensch werden und leben.«
Und der liebe Gott wollte, daß er leben sollte. Aber auf und ab ging es mit Gesundheit und Stimmung.
Die Schwalben und der Star kamen und flogen wieder fort. Rasmus war alt vor den Jahren. Einsam saß er im Hause, das mehr und mehr verfiel. Arm war er, ärmer jetzt als Johanne.
»Du hast keinen Glauben!« sagte sie, »und wenn wir den lieben Gott nicht haben, was haben wir dann! – Du solltest zum Abendmahl gehen!« sagte sie. Du bist seit deiner Einsegnung nicht dagewesen!«
»Ja, was kann das nützen!« sagte er.
»Wenn du das sagst und glaubst, dann laß es nur sein! Unwillige Gäste will der Herr nicht an seinem Tische haben. Denke doch an deine Mutter und an deine Kindheit! Du warst einmal ein guter, frommer Junge. Soll ich dir einen Gesang vorlesen?«
»Was kann das nützen!« sagte er.
»Mich tröstet es immer!« antwortete sie.
»Johanne, du bist wohl unter die Frommen gegangen?« Er sah sie mit matten, müden Augen an.
Und Johanne betete den Gesang, aber nicht aus einem Buch, sie hatte keins, sie wußte ihn auswendig. »Das waren schöne Worte«, sagte er; »aber ich konnte nicht ganz folgen. Mir ist der Kopf so schwer!«
Rasmus war ein alter Mann geworden; aber Else war auch nicht mehr jung, wenn wir von ihr reden sollen; Rasmus redete nie von ihr. Sie war Großmutter; ein kleines, geschwätziges Mädchen war ihre Enkelin; die Kleine spielte mit den anderen Kindern im Dorfe. Rasmus kam, auf seinen Stock gestützt; er stand still, sah dem Spiel der Kinder zu, lächelte ihnen zu, alte Zeiten schimmerten in seine Gedanken hinein. Elses Enkelin zeigte auf ihn. »Dummer Rasmus!« rief sie; die anderen kleinen Mädchen folgten ihrem Bespiel. »Dummer Rasmus!« riefen sie und verfolgten den alten Mann mit Geschrei.
Das war ein grauer, schwerer Tag und dem folgten mehrere solcher Tage; aber nach grauen und schweren Tagen kommt auch wieder ein sonniger Tag.
Es war ein schöner Pfingstmorgen; die Kirche war mit grünen Birkenzweigen geschmückt; es war ein Duft wie im Walde drinnen, und die Sonne schien über die Kirchenstühle hin. Die großen Altarkerzen waren angezündet; es war Abendmahl. Johanne war zwischen den Knienden, aber Rasmus war nicht unter ihnen. Gerade an dem Morgen hatte der liebe Gott ihn zu sich gerufen.
Bei Gott ist Gnade und Barmherzigkeit.
Viele Jahre sind seitdem vergangen; das Haus des Schneiders steht noch da, aber niemand wohnt dort; der erste Nachtsturm kann es umwerfen. Der Teich ist mit Schilf und Bitterklee überwuchert. Der Wind saust in dem alten Baum, es ist, als hörte man ein Lied; der Wind singt es, der Baum erzählt es; verstehst du es nicht, dann frage die alte Johanne im Armenhaus.
Sie lebt dort, sie singt ihren Gesang, denselben, den sie Rasmus vorgesungen hat; sie denkt an ihn, sie betet zu dem lieben Gott für ihn, die treue Seele. Sie kann erzählen von der Zeit, die verging, und von den Erinnerungen, die in dem alten Baum sausen.