Aber sie steht viel zu hoch für dich! Erwiderte der Müller, sie steht, das weißt du ja, auf einem Berge, auf einem Goldberge! Zu ihr klimmst Du nicht hinauf! – Nichts steht so hoch, daß man es nicht erreichen könnte, wenn man ernstlich will! sagte Rudi, denn um eine Antwort ist er nicht verlegen. – Aber das Adlernest ist dir doch zu hoch; den jungen Adler kannst du dir doch nicht erbeuten, sagtest du selbst das letzte Mal. Babette steht höher! – Ich erbeute sie alle beide! rief Rudi rasch. – Ja, ich will sie dir schenken, wenn du mir den jungen Adler lebendig bringst, versetzte der Müller und lachte, daß ihm die Tränen in die Augen traten. Aber nun habe schönen Dank für deinen freundlichen Besuch, Rudi; komm morgen wieder, dann ist hier niemand zuhause! Lebe wohl, Rudi! Und Babette sagte ebenfalls Lebewohl, so kläglich, wie ein junges Kätzchen, das seine Mutter nicht sehen kann. Ein Mann, ein Wort! Sprach Rudi entschlossen. Weine nicht, Babette, ich bringe den jungen Adler! – Ich hoffe, du brichst den Hals! Entgegnete der Müller, und dann sind wir dich los! Das heiße ich einen Fußtritt versetzen! Rudi ist nun fort, und Babette sitzt und weint, aber der Müller singt ein deutsches Lied, das er auf der Reise gelernt hat. Ich will mich nicht weiter über die Geschichte grämen; es hilft doch nichts!2 »Es kann ja immer noch anders kommen!« sagte die Küchenkatze.
Sachen, wie sie sich für Herrschaften passen, bringst du in das Haus!« rief die alte Pflegemutter, und ihre sonderbaren Adleraugen blitzten, sie bewegte den mageren Hals noch geschwinder in seltsamen Verdrehungen. »Das Glück ist mit dir, Rudi! Ich muß dich küssen, mein süßer Junge!«
Und Rudi ließ sich küssen, aber es war seinem Gesicht anzusehen, dass er sich in die Umstände, in die kleinen häuslichen Beschwerden nur mit Mühe fand. »Wie schön du bist, Rudi!« sagte die alte Frau.
»Bilde mir nichts ein!« versetzte Rudi lachend, aber es war ihm doch angenehm.
»Ich sage es noch einmal«, fuhr die Alte fort, »Das Glück ist mit dir!2
»Ja, darin schenke ich dir Glauben!« antwortete er und dachte an Babetten.
Nie hatte er sich vorher so wie jetzt nach dem tiefen Tale gesehnt.
»Sie müssen jetzt zurückgekommen sein!« sagte er bei sich selbst. »Es sind schon zwei Tage über die festgesetzte Zeit. Ich muß nach Bex!«
Und Rudi kam nach Bex, und Müllers waren daheim. Gut wurde er aufgenommen und empfing Grüße von der Familie in Interlaken. Babette sprach nicht viel, sie war schweigsam geworden, aber ihre Augen sprachen, und das war auch Rudi völlig genug. Der Müller, der sonst gerne das Wort führte, denn er war gewöhnt, daß man seine Einfälle und Wortspiele stets belachte, war er doch der reiche Müller, fand merkwürdigerweise ein Vergnügen daran, Rudi seine Jagdabenteuer, die Beschwerden und Gefahren, welche die Gemsenjäger auf den hohen Felsenzacken zu bestehen haben, erzählen zu hören. Aufmerksam lauschte er der Erzählung, wie sie über die unsicheren Schneegesimse, welche Wind und Wetter fest an den Felsenrand kitten, kriechen müssten, über die kühnen Brücken hinwegkriechen, welche das Schneegestöber über die tiefen Abgründe gezogen hat. So kühn sah Rudi dabei aus, seine Augen glänzten, während er von dem Jägerleben, von der Klugheit und den verwegenen Sprüngen der Gemsen, vom wütenden Föhn und von den rollenden Lawinen erzählte. Er merkte sehr wohl, daß er bei jeder neuen Beschreibung mehr und mehr bei dem Müller gewann. Das, was diesen aber ganz besonders ansprach, war sein Bericht über die Lämmergeier und die kühnen Königsadler.
Nicht weit von hier befand sich im Kanton Wallis ein unter einem überhängenden Felsenrande sehr schlau angelegtes Adlernest. Es war ein Junges darin, das niemand auszunehmen wagte. Ein Engländer hatte Rudi vor wenigen Tagen eine ganze Handvoll Gold geboten, wenn er ihm das Junge lebendig verschaffen wollte. Aber »es hat alles seine bestimmten Grenzen«, hatte er geantwortet. »Der junge Adler lässt sich nicht ausnehmen, es wäre eine Torheit, sich darauf einzulassen.«
Und der Wein floß, und die Rede floß, aber der Abend deuchte Rudi zu kurz, und doch war es weit über Mitternacht, als er nach seinem ersten Besuch in der Mühle Abschied nahm.
Einen kurzen Augenblick blinkten die Lichter noch durch das Fenster und zwischen die grünen Zweige hindurch. Aus der offenen Dachluke kam die Stubenkatze und die Dachrinne entlang spazierte die Küchenkatze.
»Weißt du was Neues aus der Mühle?« fragte die Stubenkatze. »Es gibt hier im Hause eine heimliche Verlobung! Vater weiß noch nichts davon. Rudi und Babette haben sich während des ganzen abends einander unter dem Tische auf die Füße getreten. Mich traten sie zweimal, aber ich miaute doch nicht, es hätte sonst Aufmerksamkeit erregt!«
»Ich würde es doch getan haben!« entgegnete die Küchenkatze.
»Was sich in der Küche schickt, schickt sich nicht in der Stube!« erwiderte die Stubenkatze. »Ich möchte nur wissen, was der Müller sagen wird, wenn er von der Verlobung hört!«
Ja, was würde der Müller sagen, das hätte auch Rudi gern wissen mögen; aber lange darauf zu warten, bis er es erfuhr, vermochte er nicht. Und deshalb saß Rudi nicht viele Tage später, als der Omnibus über die Rhonebrücke zwischen Wallis und Waadt rollte, guten Mutes wie immer darin und wiegte sich in herrliche Träume von dem Jaworte, das er noch heute abend zu erhalten hoffte.
»Weißt du es schon, du aus der Küche! Der Müller weiß jetzt alles. Es hat ein merkwürdiges Ende genommen. Rudi kam hier gegen Abend an, und er und Babette hatten viel mit einander zu flüstern und zu tuscheln; sie standen auf dem Gange gerade vor des Müllers Zimmer. Ich lag zu ihren Füßen, aber sie hatten für mich weder Auge noch Sinn. Ich gehe direkt zu deinem Vater hinein, sagte Rudi, es ist eine ehrliche Sache. – Soll ich dich begleiten? fragte Babette. Meine Gegenwart wird dir Mut einflößen! – An Mut fehlt es mir nicht! Versetzte Rudi, aber bist du zugegen, muß er wenigstens Ruhe bewahren, er mag wollen oder nicht! Und darauf gingen sie hinein. Rudi trat mich dabei heftig auf den Schwanz. Rudi ist schrecklich linkisch. Ich miaute, aber weder er noch Babette hatten Augen, um zu hören. Sie öffneten die Tür und traten beide ein, ich voran, schnell sprang ich auf eine Stuhllehne, konnte ich doch nicht wissen, was für Kratzfüße Rudi machen würde. Aber jetzt kam die Reihe an den Müller, seine Füße zu gebrauchen. Ohne Fußtritte ging es nicht ab. Hinaus zur Tür und zu den Gemsen ins Gebirge hinauf! Nach ihnen kann nun Rudi zielen und nicht nach unserer kleinen Babette!«
»Aber was wurde denn gesagt?« fragte die Küchenkatze.
»Gesagt? – Nun, es wurde alles gesagt, was die Leute bei einer Bewerbung zu sagen pflegen: Ich habe sie lieb und sie hat mich lieb; und wenn Milch im Topfe für einen da ist, so ist auch genug Milch im Topfe für zwei!