Ein Hirtenknabe trieb eines Abends seine Ziegen von der Weide heim, aber es fehlte davon Eine und zwar gerade die seiner Mutter. Diese schalt ihn aus und schickte ihn hinaus, die verlorene Ziege zu suchen. Der Knabe ging und suchte, bis es Nacht wurde, aber er fand sie nicht. Da er sich aus Furcht vor der Mutter nicht nach Hause getraute, ging er unter einen hohen Felsen und gedachte hier die Nacht zuzubringen. Es dauerte nicht lauge, so hörte er um sich Geflüster weiblicher Stimmen, doch wie sehr er sich auch anstrengte, er sah nichts. Endlich kam eine Alte, die fragte ihn: "Was thust du hier, Knabe?" "Ach", sagte er, "da hab' ich heute eine Ziege verloren und meine Mutter hat mich herausgeschickt sie zu suchen. Könnt Ihr mir vielleicht sagen, wo sie ist?" "Das kann ich, komm nur mit mir!" brummte die Alte und schloss im Felsen eine Thüre auf. Sie führte den Knaben hinein und er sah in einem weiten hell-erleuchteten Räume viele Frauen, welche alle Hexen waren; in der Mitte aber stund ein Herd, da hing über dem Feuer ein grosser Kessel und darin wurde die Ziege gesotten, welche der Knabe verloren hatte. Dann setzten sich die Hexen alle um einen langen Tisch zum Essen und der Knabe musste auch mithalten. Da assen sie das Fleisch der Ziege; die Beine aber, die grossen wie die kleinen, warfen sie alle auf das Fell der Ziege, welches nebenan auf dem Boden ausgebreitet lag. Da dachte sich der Knabe: "Ei, ich will doch sehen, was dies bedeuten soll!" und steckte heimlich ein Beinchen in seinen Schuh. Als sie nun gegessen hatten, ging eine zum Ziegenfell und schleuderte es mit dem Fusse von sich weg. Da wurde die Ziege wieder lebendig, man öffnete dem Knaben wieder die Thüre im Felsen und er konnte sie nach Hause führen. Das arme Gaislein aber sah sehr mager und elend aus und war fast nur Haut und Bein; auch hinkte es, weil ein Fuss zu kurz war, denn das dort fehlende Bein hatte der Knabe ja in seinen Schuh gethan. (Vallarsa.)