Sophie klammerte sich mit beiden Händen an die Kante der Untersuchungsliege, auf der sie saß. Ihre Beine hingen ins Leere. Der Arzt, der vor ihr saß, leuchtete ihr mit einer schneidend hellen Taschenlampe ins Gesicht. "Kann es sein, dass Sie Alkoholikerin sind?", fragte er sie. Kein Vorwurf, keine Neugier in der Stimme. Sachlich. Aber so, dass sie hörte: Er kannte die Antwort und wollte herausfinden, ob sie sie auch wusste. Ob sie es zugeben würde.
Sophie war klar, dass dies der Augenblick war, auf den sie sich zubewegt hatte, seit sie sich erinnern konnte. Der Augenblick, an dem sich die Wahrheit groß und unvermeidlich vor ihr aufbaute wie eine Betonwand, gegen die man knallt, ganz gleich wie sehr man auf die Bremse steigt. Doch es fehlte ihr die Kraft, das Ja auszusprechen. Stattdessen nickte sie langsam: zweimal, um ganz sicher zu gehen. Der Arzt sah ihr noch einen Augenblick länger ins Gesicht, dann schaltete er die Taschenlampe aus, als sei er zufrieden. Sophie wusste, wenn sie verneint hätte, hätte er gesagt: "Dann kann ich ja nichts für Sie tun", und sie allein gelassen. Sie hätte gehen müssen, und es wäre ihr Tod gewesen. Daran hatte sie keinerlei Zweifel.
Heute Morgen hatte der Wecker wie immer um vier Uhr geklingelt. Sie hatte mit zitternder Hand nach der Bierflasche gegriffen, deren Inhalt ihren Magen auf den Rest des Tages vorbereitete, dann nach dem verdünnten Wodka. Sie stellte abends beides neben das Bett, sonst hätte sie am nächsten Morgen gar nicht aufstehen können. Schluck für Schluck hörte ihre Hand auf zu zittern und mit dem ersten Vogelzwitschern in der Dämmerung vor dem Fenster konnte sie sich aufsetzen. Wenn sie ihren Pegel erreicht hatte, stand sie auf, zog ein fröhlich geblümtes Sommerkleid an, frisierte sorgfältig ihre glatten, mit untertriebener Eleganz geschnittenen Haare, packte ihre Akten und zwei Wasserflaschen, eine mit Wasser, eine mit Wodka gefüllt, und fuhr zum Dienst. Das heißt, normalerweise fuhr sie zum Dienst. Seit Jahren. Doch an diesem Morgen, als sie auf der Bettkante saß, wusste sie, dass der Tag der Entscheidung gekommen war. Sie würde entweder heute aufhören zu trinken oder sie würde statt zur Arbeit zu gehen den Rest ihres Lebens unwiderruflich in dem dunklen Abwasserteich mit den steilen Ufern versenken, an dem sie nachmittags oft saß und beobachtete, wie Algen und Blütenstaub verzerrte Bilder wie Gesichter auf die Oberfläche malten. Sie sehnte sich danach, dass dieses Dunkel und diese Oberfläche sie verschluckten. Der Teich rief sie, lockte mit einer tonlosen unwiderstehlichen Musik.
In dieser Nacht aber hatte sie geträumt, wie sie in ihrem eigenen Sarg lag, hatte gesehen und gespürt, wie weiße Maden ohne Eile ihren Körper verzehrten. So deutlich war alles gewesen als wäre es viel mehr als ein Traum, und die Erinnerung daran verflog nicht wie andere Träume mit dem Tageslicht. Sophie hatte sich zum Telefon getastet und ein Taxi gerufen. Sie kannte den Namen des Krankenhauses, das für solche wie sie Hilfe anbot.
Der Arzt steckte die Taschenlampe ein wie eine Waffe, die nicht mehr gebraucht wird, jedenfalls nicht gleich. "Nun", sagte er, "dann gehen Sie zum Ihrem Hausarzt, lassen sich eine Überweisung geben, und wenn irgendwann ein Therapieplatz frei wird, können wir Sie aufnehmen. Wenn Sie dann noch wollen." Es klang nicht, als ob er daran glaubte.
Sie durfte also doch nicht hier bleiben! Sophie trafen die Worte wie ein riesiges Gewicht, und auf einmal war es, als sei ihr der Teich gefolgt, entgegengekommen mit seiner eisigen Schwärze, die sie endlich verschluckte. Als sie irgendwann wieder blinzelte, lag sie in einem Bett und der Arzt saß auf dem Fußende. "Sie sind einfach umgefallen", sagte er. "Wir behalten Sie hier. Für alle gelten die gleichen Regeln. Drei Tage Bettruhe, auf die Toilette nur in Begleitung einer Krankenschwester, dann sechs Wochen Gruppentherapie. Sie werden den Mist, den Sie sich eingebrockt haben, selbst auslöffeln. Wir machen hier einen kalten Entzug, das heißt, wir werden Ihnen nichts leichter machen, indem Sie Pillen gegen Erbrechen, Zittern, Alpträume, Halluzinationen bekommen. Wenn sie Medikamente, Alkohol oder Drogen schlucken oder auch nur einen Schritt vom Gelände machen, fliegen Sie raus. Sie sind morgens um sieben angezogen, haben Ihr Bett gemacht und erscheinen zum Frühsport. In der ersten Woche kein Telefonieren. Radio und Fernsehen ist verboten. Konzentrieren Sie sich auf sich selbst."
Eine Schwester prüfte ihren Blutdruck, kritzelte etwas in eine Akte, murmelte dabei, "weiblich, vierunddreißig Jahre, Untergewicht". Dann war Sophie allein in einem Zimmer mit drei Betten. Vor dem Fenster war Herbst; ein Kirschbaum trug gelbe Blätter und lärmende Spatzen. Die Welt drehte sich in einem Strudel und sie schloss die Augen, unendlich erleichtert. Sie musste nicht mehr lügen, zum ersten Mal seit Jahrzehnten, nichts anderes zählte. Als sie sie wieder öffnete, saß eine Frau auf dem gegenüberliegenden Bett. "Was für ein wunderschönes Gesicht", war Sophies erster Gedanke. Veilchenblaue gütige Augen unter einem Kopftuch, eine fein geschwungene Nase und ein melancholisches Lächeln. Ein Anblick, der Sophies Augen wohltat in diesem kahlen, ölfarbigen Zimmer mit dem zerkratzten Linoleum und metallenen Wandschränken. Vielleicht auch nur ein Trugbild, aber jedenfalls besser als Maden.
"Hallo, ich bin Elvira", sagte die Vision. "Herzlich willkommen. Ich bin schon zwei Wochen hier. Wenn du irgendwie Hilfe brauchst, frage ruhig."
"Sophie", murmelte sie. "Wo ist die Toilette?"
Elvira hakte sie stützend unter und brachte sie zur Krankenschwester, auch wieder zurück. "Das geht vorbei. Es geht alles vorbei. Fast alles", sagte sie und schenkte Sophie Taschentücher. Das dritte Bett im Zimmer war leer. "Da kommt morgen eine Neue", sagte Elvira. "Vorgestern lag noch Tina drin. Sie hatte vom Schnaps Krampfadern in der Speiseröhre. Ist auf der Intensivstation verblutet. Sie konnten nichts machen. Dabei wollte sie zur Einschulung ihres Enkels trocken sein. Ich muss jetzt zur Therapie. Ruf die Schwester, wenn was ist."
Sophie döste den Rest des Tages, löschte alle Gedanken aus, träumte von Freiheit, einem neuen Weg. Abends sah sie Elvira zu, die im Nachthemd aus dem Bad kam, sorgfältig ihre Bluse und Hose zusammenlegte, im Schrank verstaute, die Zahnbürste wegräumte. Zuallerletzt nahm sie das Kopftuch ab. Darunter kam eine Glatze zum Vorschein, spiegelblank. Kein Flaum, nichts. Sophie war zu verblüfft, um höflich beiseite zu sehen. Elvira erschien ihr seltsamerweise noch schöner als zuvor; das zarte Gesicht auf dem langen Hals wurde von dem verletzlich nackten, wohlgeformten Schädel seltsam betont. Elvira begegnete Sophies Blick. "Nein", sagte sie. "Kein Krebs. Keine Chemotherapie. Es ist eine genetisch bedingte Krankheit. Da wird nichts mehr wachsen. Nie wieder." Sie ging zu dem verkratzten, bekümmerten Spiegel hinter der Tür und starte hinein. "Seit ich hier bin, versuche ich, mich daran zu gewöhnen, mein Spiegelbild nicht mehr zu hassen. Deswegen habe ich damals angefangen zu trinken. Ich bin Lehrerin", sagte sie und setzte sich auf Sophies Bettkante. "Als mir die Haare ausgingen, begannen die Kinder zu lachen, zu tuscheln. Ich fühlte mich verachtet. Meine Autorität, mein Selbstbewusstsein, es war, als verschwände alles mitsamt den Haaren im Abfluss." Sie zuckte mit den Schultern. "Nicht einmal eine Perücke hält auf meinem Kopf. Nur der Alkohol hielt noch zu mir. Dachte ich …" Sie sah zu dem leeren Bett hinüber. "Aber irgendwann müssen wir uns entscheiden." Sie wies auf etwas Braunes, das schlaff an einem Kleiderhaken hing. "Tinas Perücke. Sie hatte schöne, weiße Haare, aber sie trug die Perücke darüber damit man ihr Alter nicht sah. Sah noch älter aus dadurch. Jetzt ist sie weg und ihre Perücke noch da. Dafür sind meine Haare weg, aber ich noch da, weiß nur nicht, wozu."
"Ich finde dich schön", sagte Sophie und dachte, dass das seit langem das die erste Wahrheit war, die sie aussprach.
"Viele sagen das. Aber ich kann es nicht sehen. Nicht glauben. Immerhin habe ich seit vierzehn Tagen und drei Stunden nichts mehr getrunken. Gute Nacht."
"Gute Nacht, Elvira". Sophie war heilfroh, nicht allein zu sein mit dem Dunkel, in dem die Maden sich verbergen mochten.
Als sie beide nicht schlafen konnten, erzählte sie Elvira von den Maden. Elvira war ein Mensch, dem man Dinge erzählen konnte. "Maden", sagte Elvira nachdenklich. "Je mehr ich getrunken habe, desto nackter sah ich die Wahrheit und mich. Glaubst du, wenn ich weiter trinken würde, würde ich irgendwann Haare auf meinem Kopf sehen?"
"Nein", behauptete Sophie. "Maden."
Drei Tage später war ihre Bettruhe vorbei. Ihr Magen akzeptierte wieder Nahrung und ihre Knie fühlten sich beim Gehen nicht mehr so unzuverlässig an. Von nun an begleitete sie Elvira dreimal am Tag in die Gesprächsgruppen. Als sie am ersten Abend zurück ins Zimmer kamen, saß auf dem leeren Bett eine Neue. "Hallo", sagte sie mit einem hellen Lächeln, das nicht an diesen Ort zu passen schien. "Ich bin Nelly." Nelly hatte eine Haut von der Farbe feinen Tees an einem goldenen Sommerabend und trug tiefschwarze Locken bis zur Taille. Neben ihr und Elvira kam sich Sophie durchschnittlicher vor denn je. Alle Gründe, warum sie damals mit dem Trinken begonnen hatte, schossen ihr wie neu durch den Kopf. Von einer lähmenden Schüchternheit geplagt, die ihr die Stimme raubte und den Hals bis zum Ersticken zuschnürte, so war sie gewesen, seit sie sich erinnern konnte. Bis zu jener eigentlich traurigen Familienfeier, an der sie mit neun Jahren ihren ersten Sekt trinken durfte. Als ihr Vater ihr fünf Jahre später vor einer Party einen Martini in die Hand drückte und sagte: "Trink einen Schluck, dann bist du charmanter", war sie auf diesen Trick längst selbst gekommen. Mit dem Alkohol hatte sie einen Zauber in der Hand, der ihr schließlich sogar eine Karriere im Umweltamt ermöglichte. Was nun ohne diese trügerische, tödliche Stütze aus ihr werden sollte, wusste der Himmel. Aber Nelly, die Schönheit, war offenbar auch nicht ohne ausgekommen.
Mit Nelly kam eine seltsame Art von Fröhlichkeit in das Zimmer. Die drei Frauen lachten viel, abends, so wie man eben lacht am Rande des Abgrunds. Ein wenig war es wie im Mädcheninternat, und mit jedem Lachen rückte dieser Abgrund ein wenig weiter in die Ferne. Doch Nelly war es auch, die nach ihrem ersten Gruppengespräch nach einer Nagelschere griff und sich dicht an der Kopfhaut eine ihrer glänzenden langen Locken abschnitt. "Bist du wahnsinnig?", entfuhr es Elvira. "Was soll der Irrsinn?" Nelly heftete die Strähne ungerührt mit einem Pflaster an die Wand über ihrem Bett. "Ich war mal Model", erzählte sie. "Dann Verkäuferin in einer Edelboutique mit angeschlossenem Kosmetikladen. Die wandelnde Werbung für Haarpflegemittelchen und Wimperntusche." Sie ging zum Spiegel und betrachtete ihre Schläfe, die nun bloß lag. "Niemanden hat je interessiert wie ich bin. Und ich habs vergessen. Jetzt will ich nachsehen!" Nelly drehte sich zu Elvira um. "Bei dir …", sagte sie zögernd, "bei dir sieht man, wer du bist."
"So habe ich das noch nie betrachtet", sagte Elvira verblüfft. "Aber glaub mir, es hat mehr Nachteile als Vorteile!"
"Außerdem wird das mein Kalender", meinte Nelly und zeigte auf die einsame Locke, die wie erhängt an der Wand baumelte. "Mit jedem Tag werde ich hier ein Stück von meinem alten Leben zurücklassen. Und jede Strähne wird mir zeigen, dass ich wieder einen Tag trocken geblieben bin." Sie ließ sich nicht davon abbringen. Jeden Abend gesellte sich eine weitere Locke zu jenen an der Wand. Nelly begann links mit dem Kahlschlag und arbeite sich zur rechten Schädelhälfte hin.
"Mach es doch wenigstens symmetrisch!", jammerte Elvira.
"Ein Schmetterling schlüpft auch nicht an beiden Enden aus der Larvenhaut", sagte Nelly.
"Schwester", sagte Elvira zur resoluten Schwester Lina, die auch trockene Alkoholikerin war und wusste, wovon sie sprach, "können Sie ihr das nicht verbieten?"
"Was sie nicht schluckt, ist erlaubt", sagte Schwester Lina. "Wenn es ihr hilft, ist es in Ordnung. Wir können da nicht wählerisch sein. Wenn du ertrinkst, fragst du auch nicht, wie das Seil aussieht, das man dir zuwirft."
Von da an hörte Elvira auf zu murren, aber es fiel ihr sichtlich schwer. Wenn sie abends ordentlich in einer Reihe anstanden, um ihr Abendbrot mit den abgezählten Scheiben Wurst und Käse zu bekommen, betrachtete Sophie Elvira, die so groß und aufrecht und mit eleganter Gelassenheit vor ihr stand. Souverän wirkte sie und überlegen. Niemand sah ihr die Verletzlichkeit an und die Angst und die Geheimnisse, die sie ausmachten.
Einmal bekam Sophie Besuch von einem älteren Kollegen. Er kam gerade von einer Vortragsreise aus Paris und brachte ihr eine Flasche französisches Parfüm mit. Sophie teilte es mit Nelly und Elvira und für einen Moment fühlten sie sich nicht mehr wie Patienten, auch nicht mehr als Sünder, sondern zum ersten Mal seit langer Zeit als Frauen. Im Zimmer duftete es statt nach Linoleum und Desinfektionsmitteln nach Sommer, Ernte und Hoffnung. Auf der Packung glänzte ein goldener Schmetterling, der sich zu einem tiefblauen Abendhimmel aufschwang. Sophie stellte die Schachtel auf die Fensterbank wo sie das Licht einfing, und träumte davon es ihm eines Tages nachzumachen.
Die Tage vergingen, dann Wochen. Nellys Schädel wurde zusammen mit dem Kirschbaum vorm Fenster stetig kahler. Wenn kein Gruppengespräch war, verrichteten sie Dienst in der Kleiderkammer oder in der Küche. In ihrer Freizeit gingen sie spazieren, das heißt, sie liefen wie aus dem Rhythmus gekommene Uhrzeiger eine Runde nach der anderen um das Klinikgelände. Hätten sie auch nur einen Schritt vom Grundstück getan, wären sie rausgeflogen. Und das traute sich noch keine von ihnen. Die "Käseglocke", wie es hier hieß, gab ihnen Sicherheit. Hier gab es keinen Alkohol, selbst wenn sie gewollt hätten. In der Cafeteria verkauften sie nicht einmal Kindermilchschnitten, wegen des Alkoholgehalts darin. Dafür stopften sie sich mit Überraschungseiern voll. Aus irgendeinem Grunde half die Schokolade gegen die Gier nach dem Suchtstoff, und das alberne Spielzeug darin packten sie aus als übten sie dafür, auch in sich selbst am Ende solch fröhliche Überraschungen zu finden.
Irgendwann mussten sie dann doch das Gelände verlassen. Jeder Patient war ab der dritten Woche verpflichtet, auch Selbsthilfegruppen außerhalb zu besuchen. Sie bekamen ein Mundstück, und jedes Mal, wenn sie nach der Sitzung in die Klinik zurückkehrten, mussten sie ins Gerät pusten. Wer Promille hatte, war verurteilt, seine Sachen zu packen. Als Sophie das erste Mal aus dem Tor trat, hatte sie das Gefühl, der Boden schwanke unter ihren Füßen. Sie musste sich an Elvira festhalten, und in der U-Bahn an der Haltestange. Auf dem Rückweg ging es schon besser, aber erst in der Klinik atmete sie auf. In der Einfahrt kam ihnen schwarz ein Leichenwagen entgegen. "Habt ihr schon gehört?", erzählte ihnen oben Inga aus dem Nebenzimmer. "Das war Wolfgang. Der hat zum vierten Mal Brennspiritus getrunken. Das war einmal zu viel."
Wolfgang. Der dicke, freundliche Wolfgang aus der Nachmittagsgruppe, über dessen Witze man sogar lachen konnte. Er war Schornsteinfeger gewesen. Die Balance auf den Dächern hatte er nur volltrunken halten können, hatte er erzählt. Den Brennspiritus hatte er immer dann getrunken, wenn er sonst nichts mehr im Haus hatte. "Aber ich habe ihn mit Tee verdünnt. Dann geht das schon", hatte er versichert. Die Ärzte jedoch waren recht verwundert, dass er das überlebt hatte.
Nelly, Sophie und Elvira lachten an diesem Abend nicht. Es war, als ginge nichts voran und der Schrecken sei kein bisschen zurückgewichen. Doch dann deutete Nelly auf die lange Reihe Locken an der Wand. "Das sind meine Zeugen! So viele Tage bin ich schon trocken", sagte sie entschieden. "Da können es auch noch ungefähr tausend mehr werden."
"Dafür reichen aber nicht mal deine Haare", sagte Elvira ein wenig spitz.
"Nein. Von jetzt an weiß ich es auch so!" Nelly schnitt sich die letzte Locke ab. Über dem linken Ohr wuchs bereits wieder dunkler Flaum, der sich, kurz wie er war, selbstbewusst zu kringeln begann.
Am nächsten Tag waren Elviras sechs Wochen um und sie musste die Klinik verlassen. Die Ärzte hielten sie für stabil. "Willst du unsere Adressen haben?", fragte Nelly. "Wir könnten uns schreiben."
"Nein. Ich mache einen klaren Schnitt. Von hier an muss ich es allein schaffen. Ich wünsch Euch Glück, Kinder!"
Sie sahen ihr nach, wie sie mit dem kleinen Koffer in der Hand aus dem Tor trat und hinter den Pappeln verschwand, eine elegante Frau mit sicherem Schritt.
"Lässt du deine Haare jetzt wieder wachsen?", fragte Sophie in die Stille hinein.
"Ja", sagte Nelly. "Komm, ich lade dich in die Cafeteria ein." Sie setzten sich an ihren üblichen Tisch. Neben jede Tasse legte Nelly ein Überraschungsei. Als Sophie die gelbe Plastikkapsel öffnete, freute sie sich im Stillen, dass ihre Hände schon lange nicht mehr zitterten. Aus der Kapsel ringelte sich ihr etwas Buntes entgegen. "Was ist das denn?"
Nelly nahm es ihr aus der Hand und lächelte. "Eine von diesen künstlichen Haarsträhnen mit einer Klammer oben dran, die sich die Kinder ins Haar stecken. Komm her!" Sie befestigte die Strähne geschickt hinter Sophies rechtem Ohr. "Ein bisschen Farbe steht dir ganz gut!"
Später betrachtete sich Sophie im Spiegel. Es stand ihr wirklich. Früher hätte sie sich mit so etwas niemals auf die Straße getraut. Doch ihr war, als blickten ihr aus dem halbblinden alten Spiegel nicht nur ihr eigenes, sondern auch Elviras und Nellys Gesicht entgegen und dahinter schemenhaft die Gesichter vieler Frauen, die sie nicht gekannt hatte, die aber etwas von sich in diesem Zimmer zurückgelassen und neuen Mut aus dem Nichts gefischt hatten.
Draußen fiel der erste Schnee. Sophie steckte sich die Überraschungssträhne, in der alle Farben des Frühlings verflochten waren, auch am nächsten Tag ins Haar.