Es war einmal eine arme, arme Witwe, die aus einem sehr vornehmen Geschlecht stammte und einen einzigen Sohn hatte. Sie wohnte mit ihm in stiller Einsamkeit in einem Wald und erzog ihn zu aller Zucht und Tugend. Der Knabe, der Johannes hieß, nahm lernbegierig die guten Lehren seiner Mutter auf und machte ihr Freude und erweckte ihr die schönsten Hoffnungen. Nur eines wollte ihr nicht gefallen, und das war seine Reiselust. Bei Tag und Nacht dachte er nur an die Schönheit und Pracht ferner Städte und Schlösser, von denen er erzählen gehört hatte. Die kluge Mutter war mit diesem Wandertrieb desto weniger einverstanden, da sie wußte, daß ihrem Sohn doch immer das Geld zum Reisen fehlen würde. Ihr Abmahnen davon half jedoch nichts. Dem Sohne wurde es im Wald immer mehr und mehr zu eng, und es trieb und drängte ihn seine Sehnsucht nach der Fremde so, daß er sich eines Tages aufmachte und seiner weinenden Mutter und der Waldhütte Lebewohl sagte.
Wie er so frank und frei, voll schöner Hoffnungen durch den dunklen, dichten Wald ging, hörte er plötzlich ein fürchterliches Geheul. Da dachte er sich: Ich muß doch sehen, was es da gibt, vielleicht kann ich helfen, und eilte mutig der Gegend zu, aus der der Lärm herkam. Als er so ein Stück gelaufen und zur Stelle gekommen war, sah er einen Löwen, einen Storch und eine Ameise, die sich um den Körper eines toten Pferdes stritten und dadurch diesen Lärm vollführten. Kaum waren sie aber des Fremden ansichtig geworden, als sie vom Streit ließen und ihn baten, er möchte ihren Rechtshandel schlichten.
Da besann sich Hans nicht lange und machte den Schiedsrichter. Dem Löwen teilte er das Fleisch zu, dem langschnabeligen Storch überließ er die Gebeine zum Abnagen, und der Ameise gab er den hohlen Kopf, damit sie darin nisten könne. Die Tiere waren über diese Teilung seelenvergnügt und dankten dem Jüngling aufs beste.
Der Löwe sprach: "Guter Freund, ich will dich belohnen und nicht ohne Dank von dir scheiden. Wenn du sagst: 'Hans, der Löwe', so sollst du siebenmal stärker sein als der stärkste Löwe."
Darauf sprach der Storch: "Guter Freund, ich will dich belohnen und nicht ohne Dank von dir scheiden. Wenn du sagst: 'Hans, der Storch', so wirst du siebenmal höher fliegen können als meinesgleichen."
Dann nahte die kleine Ameise und wisperte: "Guter Freund, ich will dich belohnen und nicht ohne Dank von dir scheiden. Wenn du sagst: 'Hans, die Ameise', so wirst du siebenmal kleiner werden als die kleinste Ameise."
Hans ging nun von den Tieren weg und wanderte weiter durch den Wald. Da wurde das Gehölz endlich lichter, und als er aus dem Forst hinaustrat, lag eine große, große Stadt vor ihm. Hans konnte sich nicht satt daran schauen und wanderte schnurstracks auf sie los. Als er aber in die Stadt kam, war er durch ihr düsteres Aussehen nicht wenig überrascht. Denn alle Häuser waren mit schwarzen Decken behangen, und alle Einwohner trugen sich schwarz. Da wunderte sich Hans, was das zu bedeuten habe, und er fragte einen Bürger, der ihm begegnete, um die Ursache der Trauer.
Darauf antwortete ihm der Mann mit trauriger Miene: "Ach, weh uns! Unsere geliebte Königstochter ist in ein fernes Schloß verwunschen worden, und ihre Rettung ist beinahe unmöglich, denn ein fürchterlicher Drache mit drei Köpfen bewacht die verwünschte Jungfrau." Mit diesen Worten ging der Mann traurig von dannen.
Hans blieb allein stehen und hatte mit der armen Prinzessin das tiefste Mitleid. Er wünschte sie zu erlösen, möge es kosten, was es wolle. Er erkundigte sich daher um die Lage des Schlosses und machte sich dann fröhlich auf den Weg dahin. Er mußte einige Tage wandern, bis er zum Schloßberg kam. Da bemerkte er aber zu seinem Schrecken, daß man nicht zum Schloß hinaufkommen könne, denn der Berg war steil und so glänzend und schlüpfrig, als wäre er mit Öl übergossen. Hans dachte nun nach, wie er hinaufkommen könnte, doch all sein Sinnen und Trachten war vergebens.
Da fiel ihm plötzlich die Geschichte mit den Tieren ein, und er sprach vor sich hin: "Hans, der Storch."
Kaum hatte er es gesagt, da war er auf einmal in einen Storch verwandelt und flog auf den Berg hinauf. Er stand nun vor dem Schloß, doch die Pforte war eisenfest verschlossen, und niemand öffnete sie. Da sprach der Jüngling: "Hans, die Ameise!", und in einem Nu war er die kleinste Ameise und schlüpfte durch ein Astloch der Tür in den Hofraum. Dort bekam er wieder seine vorige Gestalt und besichtigte das große, feste Gebäude. Wie er so dastand und sann, wo etwa die Prinzessin gefangen sei, erschien ein altes Männchen, das sehr klein war, aber einen ungeheueren Bart hatte. Dieses fragte den Jüngling mit grunzender Stimme: "Bürschchen, was willst du hier?"
"Die verwunschene Prinzessin erlösen", erwiderte Hans.
Darauf entgegnete der Alte: "Das wird schwer gehen, denn sie wird von einem fürchterlichen Drachen bewacht, der auf ihrem Schoß liegt."
Hans verlor durch diese Rede gar nicht den Mut und meinte, es würde schon gehen. Dann fragte er das Männchen: "Wo ist ein Schwert?"
Das Zwerglein gab darauf den Bescheid: "Geh hinauf in die Rüstkammer, und dort wirst du ein Schwert finden, das du kaum tragen kannst. Das nimm!"
Hans stieg alsogleich in die Rüstkammer hinauf und holte das großmächtige Schwert, das er fast nicht tragen konnte. Dann ging er auf das Zimmer zu, in dem der Drache die Jungfrau bewachte, und sprach: "Hans, der Löwe." Da wurde er siebenmal stärker als der stärkste Löwe, trat in das Zimmer und schlug dem Drachen alle drei Köpfe mit einem Hieb herunter. Kaum war dies geschehen, so begann es im ganzen Schloß zu poltern und zu donnern, und der Berg senkte sich mehr und mehr, bis er ganz verschwand.
Dann machten sich Hans und die erlöste Königstochter auf den Weg und gingen in die Residenzstadt. Dort entstand ein unermeßlicher Jubel über die Befreiung der schönen Jungfrau, und es folgte deshalb ein Fest auf das andere. Die Königstochter heiratete dann aus Dankbarkeit ihren Erlöser und lebte mit ihm vergnügt und glücklich bis zu ihrem seligen Ende.