Es war einmal ein armer Holzhacker, der lebte sehr sparsam mit seiner Frau und seinem Kind, denn nur mit der größten Anstrengung konnte er sich und den Seinigen den nötigsten Lebensunterhalt verschaffen. Als er aber starb, härmte sich die Frau so ab, daß sie ihm bald nachfolgte und Seppl, so hieß das Kind, ganz einsam und verlassen dastand. Nachdem es zwei Tage und zwei Nächte bei dem Grabe seiner Eltern geweint, machte es sich auf, um aus dem Wald zu kommen, den es früher noch nie verlassen hatte, und wollte durch seiner Hände Fleiß sich das Notwendigste verdienen.
Da kam Seppl an eine breite Straße, auf der er getrost weiterging, und gelangte nach langem Wandern in eine große, schöngebaute Königsstadt. Hier fragte er fast in jedem Haus, ob er nicht Arbeit bekommen könne, er verlangte nichts als die notwendige Nahrung, aber überall wies man den zerlumpten, furchtsamen Knaben ab, so daß er traurig und hungrig jede Hoffnung aufgab, sich in einem abgelegenen Winkel verbarg und herzzerbrechend weinte.
Nachdem er so die ganze Nacht mit Weinen zugebracht, raffte er sich am Morgen auf, um zum letzten Mal zu versuchen, ob er nicht Arbeit bekommen könnte. Er ging auf ein großes, schönes Haus zu, in dem der König wohnte, und fragte nach Arbeit. "Ja", sagte man zu ihm, "wenn du die Ziegen hüten willst, so kannst du schon bleiben, sonst braucht man dich nicht." Seppl ging freudig auf den Vorschlag ein.
Als der König erfuhr, daß sich ein Ziegenhirt gemeldet habe, war er herzlich froh, denn er glaubte nicht, daß noch einer kommen würde, da schon so viele ihr Leben mit dem Hüten eingebüßt hatten. Er ließ deshalb den Knaben zu sich rufen und sprach zu ihm:
"Wenn du fleißig dein Geschäft verrichtest, so bekommst du eine neue Kleidung, gute Nahrung und am Ende eines jeden Jahres einen großen Lohn. Aber merke wohl, was ich dir sage: Die Ziegen mußt du auf den Berg bei der Stadt treiben, wo das prächtige Schloß steht. Um das Schloß herum befinden sich schöne Gärten, Felder und Wiesen, die nur durch einen schwachen Zaun vom Wald getrennt sind, wo du die Ziegen hüten mußt. Die darfst du aber nicht in die fetten Felder und Wiesen hinein- und darauf weiden lassen; wenn das geschehen sollte, wird der Herr des Schlosses, ein furchtbarer Riese, erscheinen und dich in viele Stücke zerreißen. Er beobachtet dich immer, nur eine kurze Zeit des Morgens ausgenommen, wenn er schläft." Nach diesen Worten entließ der König den Knaben.
Dieser, froh, einen Dienst erhalten zu haben, sprang sogleich in den Ziegenstall, um sich mit seinen Pflegebefohlenen vertraut zu machen. Er blieb den ganzen Tag bei ihnen, ja er schlief soear im Stall, eine solche Freude hatte er an seinen Tierlein, und so gerne hörte er ihr Meckern.
Morgens stand er in aller Früh auf und trieb seine Herde froh und munter den Berg hinan, die nötigen Lebensmittel trug er in der Tasche. Vor dem Riesen hatte er keine Furcht; denn er nahm sich vor, die Ziegen weit vom Schloß weg in den Wald hineinzutreiben. Als er aber oben ankam, liefen alle zum Schloß hin - denn sie kannten die fetten Wiesen zu gut -, so daß Seppl den ganzen Tag atemlos laufen mußte, um sie abzuwehren. Den Riesen aber sah er nicht.
Als er seine Herde nach Hause getrieben, lobte ihn der König sehr, daß er so achtsam gewesen, und gab ihm einen Taler.
Die ganze Nacht hindurch kam aber dem Seppl das Schloß samt dem Riesen nicht mehr aus dem Kopf; er wollte, er mußte alles sehen. Deshalb trieb er am ändern Tag in aller Früh seine Ziegen auf den Berg, überließ sie ihrem Schicksal und schlich sich ganz heimlich ins Schloß. Aber wie erstaunte er über die Pracht und Herrlichkeit, die er im Schloß fand, wo Tür und Tor ihm offenstanden. Sein Auge wurde geblendet vom Schimmer des Goldes, des Silbers und dem Glanz der Edelsteine, die haufenweise dalagen, sowie von den blanken Rüstungen, die an den Wänden hingen. Er ging von einem Saal in den ändern und fand endlich den Riesen, auf einem Bett dahingestreckt, im tiefen Schlaf; neben ihm befand sich seine herrliche Rüstung. Seppl erschrak anfangs über das Ungeheuer mit seinem furchtbaren Gesicht, besann sich aber nicht lange, sondern ergriff mit beiden Händen des Riesen Schwert und hieb ihm den Kopf ab. Kaum hatte er "diese Arbeit vollbracht, so stand ein kleines Männlein vor ihm, verneigte sich tief, begrüßte ihn als den Herrn des Schlosses samt allem, was darin und darum herum war, und fragte, was er befehle. "Jetzt will ich etwas Ordentliches zu essen und zu trinken", war die Antwort.
Kaum hatte Seppl das gesagt, so verschwand das Männlein, kehrte aber bald mit Speise und Trank zurück.
"Während ich mich hier nun sättige", sprach Seppl, "sieh dich um meine Ziegen um, treib sie in die Schloßfelder herein und gib auch wohl acht darauf!"
Aber nicht bloß während des Essens und Trinkens mußte das Männlein die Ziegen hüten, sondern audi noch so lange, als Seppl das Schloß besichtigte. Spätabends löste er erst das Männlein ab, das zu ihm sagte: "Wenn du meiner bedarfst, so stampfe nur in dem Zimmer, wo du den Riesen getötet hast, mit dem Fuß dreimal auf den Boden, und ich werde alsogleich zu Diensten stehen."
Darauf verschwand es.
Lustig und munter trieb Seppl seine Herde nach Hause; doch war er klug genug, von seinem Abenteuer nichts auszuschwätzen.
Täglich trieb er seine Herde auf den Berg, ging in sein Schloß, stampfte mit dem Fuß dreimal auf den Boden, das Männlein mußte ihm dann Essen und Trinken bringen und während des Tages die Ziegen hüten. Und so trieb er es längere Zeit fort. Die Ziegen wurden fett, gaben sehr reichlich Milch, und der König war dem Hirten, der unterdessen bei guter Kost zu einem schönen, starken Jüngling herangewachsen war, wegen seines Diensteifers sehr gewogen.
Der König hatte eine wunderschöne Tochter, um deren Hand sich viele beworben hatten; aber immer umsonst, denn sie war dem schönen Hirten sehr in Liebe zugetan und hätte niemanden lieber geheiratet als ihn, wenn er nur von besserer Abkunft gewesen wäre. Weil sie keine Hoffnung hatte, ihren Wunsch je erfüllt zu sehen, verschmähte sie jeden Freier. Da jedoch der König einen Nachfolger wünschte, so schrieb er ein großes Turnier aus, und der Ritter, der drei Tage nacheinander die übrigen Bewerber aus dem Sattel heben würde, der sollte mit der Hand der Tochter nach des Königs Tod auch den Thron erhalten.
Alle Vorbereitungen wurden aufs beste getroffen, und mit Freude sah man überall diesem Fest entgegen, nur die Königstochter war trauriger und in sich gekehrter als jemals.
Am Tag des Turniers, während der König mit seiner Tochter, den Rittern und Großen des Reiches nach dem Kampfplatz zog, trieb Seppl scheinbar ganz unbekümmert um alles, was vorging, seine Herde auf den Berg, trat aber schnell ins Schloß und forderte vom dienstbeflissenen Männlein, ihm alsogleich einen Schimmel und eine stahlblaue, kostbare Rüstung zu bringen. Wie befohlen, so geschah es. Das Männlein brachte die verlangte Rüstung samt Helm mit wallendem Federbusch, ein Schwert und eine große Turnierlanze; im Hof stand ein mutiger Schimmel, kostbar geschirrt.
Seppl rüstete sich mit Hilfe des Männchens und schwang sich auf den Schimmel, jagte den Berg hinab und erschien zum Erstaunen aller spät und ganz unbekannt auf dem Platz. Auf der entgegengesetzten Seite stand der bisherige Sieger. Ihn forderte Seppl zum Kampf heraus, dann legte er die Lanze ein, sprengte gegen ihn und warf ihn aus dem Sattel weithin in den Sand. Unter allgemeinem Beifall sprengte er durch die Stadt dem Schloß zu. Er war schon entschwunden, bevor man vor Verwunderung sich zu sammeln imstande war. Alles Nachforschen nach dem unbekannten Ritter war vergebens. Denn Seppl trieb spätabends in seiner gewöhnlichen Kleidung die Herde nach Hause.
Am zweiten Tag begann das Turnier aufs neue. Wieder trieb Seppl die Herde auf den Berg und forderte eine silberne Rüstung samt einem Rappen, sprengte den Berg hinab in die Mitte des Kampfplatzes, warf den Sieger des Tages aus dem Sattel und jagte auf und davon, ohne von den Reitern eingeholt zu werden, die der König aufgestellt hatte. Auf Umwegen gelangte Seppl ins Schloß.
Noch größer war an diesem Tag die Verwunderung des Königs, aber auch seine Betrübnis; die Tochter hingegen freute sich, weil sie dadurch die lästigen Freier loszuwerden hoffte. Am dritten und letzten Tag erschien Seppl in einer goldenen Rüstung auf einem braunen Pferd. Auch diesmal stach er den Sieger des Tages aus dem Sattel, ward aber von ihm an der Wade verwundet. Auch diesmal war das Verfolgen umsonst; er kam auf Umwegen und ungesehen ins Schloß. Als er aber seine Herde nach Hause trieb, hinkte er wegen der Wunde.