Ein Schneidergeselle, der seines Handwerks überdrüssig war, wanderte in die Welt hinaus. Als er die erste Tagesreise zurückgelegt hatte, kam er in einen dunklen Wald und hörte hier jemand singen. Er ging näher hinzu und sah einen Jäger, der neben einem Baum saß und sich ein Liedchen sang. Der Schneider fragte den Jäger, warum er hier im Wald müßig sitze, statt seinem Geschäft nachzugehen.
"Dessen bin ich satt", erwiderte der Jäger, "lieber wäre es mir, wenn ich auf Abenteuer ausgehen könnte."
Froh dieser Worte lud ihn der Schneider ein, mit ihm zu gehen. Der Jäger willigte ein, und nun streiften die beiden durch den Wald. Aber die Nacht ereilte sie, ehe sie aus dem Wald gelangen konnten, und sie mußten daher in demselben übernachten.
Beide setzten sich auf einen hohen Baum und schliefen fest bis zum anbrechenden Morgen. Beim Aufgang der Sonne erwachten sie und gingen nun wieder neu gestärkt weiter. Als sie schon lange im Wald gegangen waren, wurden sie plötzlich durch ein schallendes Gelächter in ihrem Gespräch gestört. Sie schauten auf und erblickten wenige Schritte vor ihnen ein Männlein, das ihnen mit dem Finger winkte, ihm zu folgen.
Sie taten es, und bald standen sie vor einem gewaltigen Schloß. Das Männlein schlug mit einem Stäbchen an das große eiserne Tor, und es öffnete sich. Das Männlein zeigte auf eine Tür im Hofraum und verschwand. Der Schneider meinte, das Männlein wolle damit anzeigen, daß sie durch jene Tür gehen sollten. Er nahm daher den Jäger bei der Hand und führte ihn mit sich. Sie kamen in eine Küche, wo sich links ein kleiner Herd, rechts eine Tür befand. Durch diese gelangten sie in ein geräumiges Zimmer, in dem zwei Betten, ein Tisch und zwei Sessel standen. Das alles schien für sie schon bereit.
Der Jäger war mutig und kühn; nicht so der Schneider. Dieser war vielmehr vorsichtig; er fand es daher für gut, die Maßregeln so zu treffen, daß nachts immer nur einer sich zur Ruhe begebe, der andere aber wache, denn es kam ihm in diesem Schloß etwas unheimlich vor, seitdem das Männlein verschwunden war.
Die erste Nacht hatte der Schneider die Wache. Er stellte sich einen Sessel in die Küche neben den Herd und heizte, denn es war Spätherbst und kalt. Der Jäger hatte sich mittlerweile in eines der im Zimmer befindlichen Betten gelegt und schlief schon fest, als die Mitternachtsstunde nahte. Da wurde leise die Tür geöffnet, und herein trat ein grün gekleideter Zwerg. Der ging zum Herd, hielt die Hände über das Feuer und sah dabei den Schneider mit wehmütigem Blick an. Als der Schneider dies sah, legte er ein Stück Holz ins Feuer; er glaubte dadurch dem Männlein nach seinem Willen getan zu haben. Wirklich freute sich der Zwerg, denn er klopfte dem Schneider auf die Achsel und entfernte sich dann mit heiterer Miene.
Als der Morgen angebrochen war, erwachte der Jäger. Als er sich nun im Bett aufrichtete, um den Schneider von seiner Wache abzurufen, gewahrte er auf dem Tisch eine Menge Speisen. Hocherfreut darüber sprang er gleich aus dem Bett und holte den Schneider. Noch immer staunend machten sie sich über das treffliche Mahl her und ließen es sich wohl schmecken, denn ihre Mägen hingen schon etwas schief. Nach dem Mahl unterhielten sie sich noch einige Zeit über ihre Reise und die Abenteuer, die sie wohl noch zu erleben hätten.
Als die Nacht anbrach, sollte diesmal der Jäger die Wache haben. Voll Angst und Bangigkeit ging der Schneider zu Bett, während der Jäger ohne Furcht in die Küche hinausging und dann tüchtig auf dem Herd feuerte. Auch diese Nacht kam das Männlein und wollte sich wärmen, aber es fand jetzt nicht den gutherzigen Schneider. Der Jäger, ein roher, unbesonnener Kerl, wollte es sich durchaus nicht gefallen lassen, daß ein so kleiner Sterzel es wage, sich an seinem Feuer zu wärmen. Er nahm daher ein Stück Holz und klopfte mit demselben wacker auf die Finger des armen Männleins los.
Über diese Roheit und Unbarmherzigkeit erzürnt, entfernte sich das Männlein mit den Worten: "Du sollst es büßen."
Der Schneider hatte dem Jäger von dem Vorfall in der vorigen Nacht nichts gesagt, denn er wollte die Wachenacht des Jägers abwarten, um zu sehen, ob denn dieser nicht auch einen solchen Besuch bekäme. Als ihm nun der Jäger die Sache erzählte, tat auch er ein gleiches und machte dem Jäger Vorwürfe, daß er so grob und keck gewesen war.
Mit noch größerer Furcht als das erstemal ging er diesen Abend auf die Wache. Zur bestimmten Stunde erschien auch wieder das Männlein und wärmte sich. Der Schneider wollte die Unart des Jägers wiedergutmachen und legte statt eines mehrere Stücke Holz nach.
Das Männlein war darüber sichtlich erfreut, zog einen Ring von seinem Finger und steckte ihn an den Finger des Schneiders, indem es sprach: "Willst du irgendeinen Wunsch erfüllt haben, so brauchst du nur den Ring am Finger zu drehen, und ich werde dir sogleich zu Diensten sein." Dann verneigte es sich und ging. Am Morgen erzählte der Schneider dem Jäger wieder das Vorgefallene, nur vom Ring sagte er ihm nichts.
Der Jäger aber verlachte ihn nur und sagte: "Du bist ein feiger Kerl, warte nur, ich werde dem Kleinen schon zusetzen."
Der Schneider aber warnte ihn davor, denn er hatte die sichere Überzeugung, daß sie sich in einem Zwergenschloß befänden, und er meinte, wenn sie hier keck wären, so würde es mit ihrem Fortkommen schlecht aussehen. Er suchte daher den Jäger zur eiligen Flucht zu bewegen, was ihnen möglich gewesen wäre, da der Schneider den Zauberring hatte. Der Jäger aber wollte den armen Zwerg durchaus noch einmal tüchtig durchprügeln, falls er es wagen würde, in die Küche zu kommen.
Der Jäger ging auf die Wache, der Schneider legte sich unruhig ins Bett und konnte nicht schlafen, denn er ahnte die Schläge, die sie bald erhalten würden. Zur gewöhnlichen Stunde kam das Männlein wie vorher und wollte sich wärmen. Der Jäger tat, wie er sich vorgenommen, und hieb mit aller Kraft auf den Buckel des Kleinen los.
Jetzt aber war der Zwerg nicht so geduldig und ruhig wie früher; er erhob vielmehr ein Schreien, worauf es augenblicklich in der Küche von Zwergen wimmelte, die alle über den Jäger herfielen und ihn so lange derb durchprügelten, bis er sich durch das offene Tor ins Freie gerettet hatte. Der Schneider war aus dem Bett gesprungen und hatte glücklich ohne Schläge das Freie erreicht.
Noch eine lange Strecke liefen beide miteinander fort, bevor sie sich getrauten, stehenzubleiben. Jetzt erst schmerzten den Jäger die Wunden, die ihm die Zwerge geschlagen hatten; er mußte aber trotzdem lachen über den Schneider, denn er sah diesen bis auf Hemd und Unterhose ausgezogen vor sich stehen. In der Eile hatte nämlich dieser vergessen, sich anzukleiden, und war so, wie er im Bett gelegen hatte, fortgelaufen.
Nun aber fiel es ihm ein, daß er ja den Zauberring habe. Er drehte ihn, und augenblicklich standen zwei Zwerge vor ihm, die ihm sein zurückgelassenes Gewand hinhielten. Der Schneider nahm das Gewand und zog es an. - Die beiden Zwerge waren mittlerweile verschwunden.
Der Jäger war vor Erstaunen fast außer sich und meinte, der Schneider habe mit den Zwergen einen geheimen Bund geschlossen. Seit dieser Zeit war er auch gegen den Schneider immer mißtrauisch und suchte ihn loszuwerden.
Sie mochten wohl schon wieder eine große Strecke Weg zurückgelegt haben, da setzten sie sich unter einem Baum nieder, um auszuruhen von den Beschwerden, sie sie gehabt hatten. Der Hunger quälte sie auch nicht wenig, und ein gedeckter Tisch wäre da nicht am unrechten Platz gewesen. - Der Schneider, der sich fortwährend seines Ringes erinnerte, drehte diesen, und sogleich entstand eine ungeheure Spalte vor ihnen in der Erde. Aus dieser Spalte heraus kamen zuerst vier Zwerge mit einem Tisch, den sie vor die beiden Wanderer hinstellten; dann kamen sieben Zwerge mit Speisen, und hinter diesen sieben kamen noch fünf, die Eßwerkzeuge, Geschirr und Sessel trugen; auch an Wein fehlte es nicht. Ebenso wie die ganze Zwergendienerschaft gekommen, so war sie auch wieder verschwunden.
Der Jäger unterließ diesmal das Staunen, denn der Hunger quälte ihn zu sehr; er fiel vielmehr über die Speisen her und verschlang, was er nur fassen konnte. Nachdem die beiden satt waren, verschwand der Tisch samt den Speisen und dem Geschirr.
Nun erst fiel es dem Jäger ein, daß die Speisen und sämtlichen Geräte von Zwergen gebracht worden waren; er erinnerte sich auch zugleich der beiden Zwerge, die dem Schneider das Gewand gebracht hatten, und nun glaubte er desto fester, der Schneider stünde mit den Zwergen im Bund, und sein Mißtrauen wuchs immer mehr.
Der gutmütige Schneider merkte jedoch von alledem nichts. Merkwürdigerweise war, seit er den Zauberring hatte, alle Furcht aus ihm gewichen, und sein Mut übertraf jetzt den des Jägers.
Sie waren endlich aus dem Wald heraus auf eine Landstraße gekommen; auf dieser gingen sie nun fort und kamen zu einer Stadt. Als sie diese betraten, bemerkten sie in den Gesichtern der Leute Traurigkeit. Sie fragten um die Ursache derselben und erfuhren folgendes: Es herrschte daselbst ein äußerst hartherziger König. Dessen Tochter sollte heiraten, und er gab den Befehl, daß von sämtlichen Schneidern der Stadt einer nach dem anderen ein Kleid für seine Tochter anfertigen solle, und zwar so schön und passend, als es dem König erwünscht war. Konnte dies ein Schneider, so stand ihm eine große Belohnung bevor; könnte er es nicht, wartete seiner der Tod.
Der Schneider dachte sich: Schau, da kannst du vielleicht die Schneider dieser Stadt aus ihrer Not retten, und er kehrte bei einem Schneider ein.
Zufälligerweise war dieser Schneider derjenige, an den die schwere Aufgabe zuerst gestellt war. Als sie in das Haus dieses Schneiders eintraten, begegneten sie nur Klagenden. Der Schneider sollte nämlich am folgenden Morgen das Kleid zum König bringen, und gefiele es diesem nicht, so würde er nicht mehr nach Hause zu Weib und Kind zurückkehren. Nachdem beide dies erfahren hatten, versprach der wandernde Schneidergeselle, den bedrängten Schneider zu retten. Er begehrte daher den Stoff; diesen hatte aber der Schneider schon in Stücke zerschnitten, und nun schien die Rettung unmöglich. Aber der Schneidergeselle nahm den Stoff, indem er meinte, das tue nichts zur Sache, und er ging mit dem Jäger in das für sie bestimmte Kämmerlein.
Abends legte der Schneidergeselle den Stoff auf den Tisch, dann drehte er seinen Ring mit dem Wunsch, daß die Zwerge, während der Schneider mit seiner Familie schlafe, herbeikämen und das Kleid anfertigten; dann legte er sich schlafen. Nachts um zwölf Uhr wachte er auf, und schon standen zwei Zwerge an seinem Bett, die ihm das fertige Kleid übergaben. Der Schneidergeselle stand auf und übergab das Kleid dem Schneider. Dieser ging zitternd damit zum König.
Die Königstochter zog das Kleid an, und siehe - es war so gelungen, daß es kein Schneider in der Welt besser hätte machen können. Der Schneider erhielt die zugesagte Belohnung und lief freudig nach Hause. Hier aber traf er die beiden Wanderer nicht mehr. Diese waren nämlich, während der Schneider beim König war, fortgereist.
Hocherfreut war der Schneidergeselle bei dem Gedanken, einen Schneider glücklich gemacht und vielleicht viele vor dem Tod gerettet zu haben. Der Jäger hingegen war jetzt noch viel neidischer gegen den Schneider als vorher.
Sie waren schon wieder lange gegangen, da kamen sie auf eine sehr schöne Wiese. In der Mitte dieser Wiese lag ein ungeheuer großer Stein. Sie gingen hin, um zu untersuchen, was sich unter dem Stein befinde. Aber wie sollten sie den Stein wegbringen? Ihn wegzuwälzen waren beide nicht imstande, und anders ging es nicht. Der Schneider aber drehte seinen Ring, und sogleich rollte der Stein von der Stelle, und an derselben war ein großes Loch in der Erde.
Da an Neugierde einer den anderen übertraf, so wollte nun jeder wissen, was denn in diesem Loch verborgen wäre. Sie kamen überein, daß der eine von dem anderen hinabgelassen werden sollte. Der Jäger flocht Stricke aus Stroh, band sie zusammen, und dies sollte als Strick zum Hinunterlassen dienen. Zuerst ließ der Jäger den ihm an Mut überlegenen Schneider hinunter.
Der Schneider glaubte in eine neue Welt gekommen zu sein; die Schönheit, die hier herrschte, übertraf alles, was er bisher noch gesehen. Er ging durch einen wunderschönen Garten und kam zu einem Schloß. Als er so stand und bewundernd schaute, traten aus dem Schloß drei Prinzessinnen. Alle drei waren Schwestern, Königstöchter, und von einem Drachen geraubt worden. So waren sie in dieses Schloß gekommen, und die Ihrigen wußten nichts davon. Täglich flog der Drache fort, und wenn er wiederkam, mußten sie schon im Garten auf ihn warten. Da legte er sich auf ihren Schoß, und sie mußten seinen Rücken bürsten, währenddem er immer einschlief. Der Vater der Prinzessinnen hatte die Hand seiner jüngsten Tochter nebst seinem Reich demjenigen versprochen, der seine Töchter befreien würde. Alle drei grüßten nun den Schneider, gingen zu ihm und fragten ihn, ob er sie erlösen wolle; er müsse aber, fügten sie hinzu, einen Drachen bekämpfen. Der Schneider willigte ein. Die Prinzessinnen gaben ihm ein Schwert, und nun mußte er hinter einem Busch die Ankunft des Drachen erwarten, während sich die Prinzessinnen auf die eine Bank setzten.
Es währte nicht lange, da hörte der Schneider ein Brausen, und Flammen sprühten in der Luft. Der Drache kam schnaubend in den Garten und legte sich auf den Schoß der Prinzessinnen, und indem ihn diese bürsteten, schlief er ein.
Da trat der Schneider mit dem Schwert hervor und stieß es dem Drachen in den Hals. Der Drache war tot, und die Prinzessinnen waren gerettet. Schnell begab sich der Schneider mit den Prinzessinnen zur Öffnung und rief dem Jäger, er solle zuerst die Prinzessinnen und dann ihn hinaufziehen. Der Jäger tat es. Als er aber den Schneider schon zur Hälfte in die Höhe gezogen hatte, schnitt er den Strick ab, und so fiel dieser wieder zurück.
Der Schneider hatte bisher seinen Ring ganz vergessen, und so mußte er eine geraume Zeit in der Höhle bleiben.
Unterdessen war der falsche Kamerad mit den Prinzessinnen zum König gekommen, hatte sich dort für ihren Befreier ausgegeben, und schon nahte der Tag der Vermählung.
Da erinnerte sich der Schneider seines Ringes. Er drehte ihn, und augenblicklich waren Hunderte von Zwergen beschäftigt, eine Stiege zu bauen, die zum Ausgang des Lochs führte. Als dieselbe fertig war, gelangte der Schneider ins Freie. Nun drehte er den Ring mit dem Wunsch, ein Zwerg möchte kommen und ihm den Weg zum König zeigen. Wirklich erschien ein Zwerg und führte ihn zum König. Dort beteuerte er, daß er der Befreier der Prinzessinnen sei. Diese Aussage bestätigten die Prinzessinnen.