In der engen Gasse hier dicht nebenan – sie ist so schmal, daß ich nur eine Minute meine Strahlen an des Hauses Mauern niedergleiten lassen kann, aber in dieser Minute sehe ich genug, um die Welt zu kennen, die sich hier bewegt – sah ich eine Frau. Vor sechzehn Jahren war sie ein Kind; draußen auf dem Lande in dem Pfarrhofgarten spielte sie; die Rosenhecken waren alt und ganz abgeblüht; sie wucherten draußen im Gange und schossen lange Zweige hinauf bis in die Apfelbäume; nur da und dort saß noch eine Rose, zwar nicht schön, wie es die Königin der Blumen doch sein kann, aber die Farben waren da, der Duft war da. Des Pfarrers kleine Tochter schien mir eine weit schönere Rose; sie saß auf ihrem Schemel unter der wildwachsenden Hecke und küßte die Puppe mit den eingedrückten Wangen von Pappe. Zehn Jahre später sah ich sie wieder; ich sah sie in dem prächtigen Ballsaal, sie war des reichen Kaufmanns schmucke Braut; ich freute mich über ihr Glück, ich suchte sie an stillen Abenden auf. Ach, niemand denkt an meine hellen Augen, meinen sichern Blick! Meine Rose trieb auch wilde Schößlinge, wie die Rose im Pfarrhofgarten! Das Alltagsleben hat auch seine Tragödie; heute sah ich den letzten Akt. In der engen Gasse, todkrank lag sie auf dem Bett, und der böse Hauswirt, ihr einziger Schutz, riß ihr roh und kalt den Teppich weg und sagte: ›Steh auf! deine Wangen verscheuchen die Leute, putze dich! Schaffe Geld oder ich werfe dich auf die Straße, rasch, steh auf!‹ – ›Der Tod wühlt in meiner Brust!‹ sagte sie, ›o laß mich ruhen!‹ Aber er riß sie heraus, malte ihre Wangen, flocht Rosen in ihr Haar, setzte sie ans Fenster, das brennende Licht dicht daneben und ging fort. Ich stierte sie an; sie saß unbeweglich, die Hand fiel ihr in den Schoß. Das Fenster schlug zurück, daß eine Scheibe zerbrach, aber sie saß still; die Gardine flatterte wie eine Flamme um sie, sie war tot. Von dem offenen Fenster predigte die Tote Moral – meine Rose vom Pfarrhofgarten!