Die Sonne war schon hoch über die Kronen der Buchen emporgestiegen, als Maja am anderen Morgen in ihrer Waldburg erwachte. Anfangs glaubte sie, das ganze Erlebnis der letzten Nacht sei ein schöner Traum gewesen, aber dann entsann sie sich, daß sie in der kühlen Morgendämmerung in ihrer Behausung angelangt war, und nun war es fast schon Mittag. Nein, es war Wirklichkeit gewesen, sie hatte die Nacht mit dem Elfen verbracht und die Menschen gesehen, die sich in der Jasminlaube im Mondschein umschlungen gehalten hatten.
Draußen brannte die Sonne heiß auf den Blättern, es zog ein warmer Wind, und sie hörte die vielerlei Stimmen der Insekten. Ach, was wußten die anderen, und was wußte sie! Sie war so stolz auf ihr Erlebnis, daß sie gar nicht rasch genug hinauskommen konnte, sie meinte, alle müßten es ihr ansehen, was ihr geschehen war.
Aber draußen in der Sonne nahm alles den gewohnten Gang. Nichts war verändert, und nichts erinnerte an die blaue Nacht. Die Insekten kamen, grüßten und zogen, drüben auf der Wiese war über den hohen bunten Sommerblumen, im Flimmern der heißen Luft, ein großer Verkehr. Maja ward plötzlich ganz traurig zumut. Sie fühlte, daß es niemand in der Welt gab, der an ihrem Glück oder an ihrer Betrübnis teilnahm. Sie konnte sich nicht entschließen, zu den anderen hinüberzufliegen. Ich will in den Wald, dachte sie, der Wald ist ernst und feierlich, er paßt zu dem Zustand, in welchem mein Herz sich befindet.
Wieviel Geheimnisvolles und wie viele Wunder das Waldesdunkel birgt, ahnt wohl niemand, der rasch und gedankenlos auf den gebahnten Wegen dahingeht. Dazu muß man die Zweige der Büsche auseinandergebogen haben, oder seine Blicke zwischen den Brombeerranken hindurch in die hohen Gräser und über das dichte Moos schweifen lassen. Unter schattigen Blättern der Pflanzen, in Erdlöchern und Baumhöhlen, zwischen den morschen Rinden verwitterter Holzstümpfe und im krausen Schlingwerk der Wurzeln, die sich wie Schlangenleiber über den Erdboden dahinwinden, ist Tag und Nacht ein reges und vielgestaltiges Leben, voller Freuden und Gefahren, voller Kampf und Leid und Vergnügen.
Die kleine Maja ahnte von alledem nur wenig, als sie zwischen den braunen Stämmen und dem grünen Blätterdach dahinflog. Sie erkannte unter sich im Gras eine schmale Spur, die als ein deutlicher Weg durch Dickicht und Lichtungen führte. Zuweilen schien es ihr, als verschwände die Sonne hinter Wolken, so tief wurden die Schatten unter den hohen Kronen und im dichten Buschwerk; dann wieder flog sie in lauter goldgrünem Glänzen dahin, unter sich die breitblätterigen kleinen Wälder der Waldfarren und blühende Brombeerranken.
Endlich öffnete der Wald seine überdachten Säulentore, und vor Majas Blicken lag ein weites Kornfeld in der goldenen Sonne. In den Ähren leuchteten Kornblumen und Mohn. Die kleine Biene ließ sich in den Zweigen einer Birke nieder, die am Rand des Feldes stand, und betrachtete entzückt das goldene Meer, das sich im Frieden des stillen Tags vor ihr ausbreitete. Es erschien ihr unabsehbar weit, und es gingen sanfte Wogen darüber hin; das tat der schüchterne Sommerwind, der so liebreich wehte, um nirgends die Ruhe der schönen Welt zu stören.
Ein paar kleine braune Schmetterlinge spielten unter der Birke über dem Korn ‚Von Mohn zu Mohn‘. Das ist unter jungen Schmetterlingen ein sehr beliebtes Gesellschaftsspiel. Jeder Schmetterling setzt sich auf eine Blume, und es muß ein Spieler mehr da sein, als Blumen in der Nähe stehen. Dieser eine sitzt in der Mitte des Kreises und ruft. Wenn sein Ruf erklingt, müssen alle auffliegen und die Blumen wechseln. Wer zu spät kommt und keine Blume mehr findet, wird in die Mitte geschickt und muß abrufen. Das war sehr unterhaltend.
Maja sah eine Weile zu, es machte ihr viel Vergnügen. Das könnte man auch die kleinen Bienen im Stock lehren, dachte sie, da nennen wir es dann ‚Von Zelle zu Zelle‘. Aber Kassandra wird wahrscheinlich zu streng sein.
Die kleine Maja wurde plötzlich traurig gestimmt, das kam sicher durch ihre Erinnerung an die Heimat. Als sie darüber nachdenken wollte, sagte neben ihr jemand:
„Guten Morgen. Sie sind eine Bestie, wie mir scheint.“
Die kleine Maja erschrak sehr und drehte sich rasch um.
„Nein,“ sagte sie, „bestimmt nicht!“
Neben ihr saß eine kleine braune Halbkugel mit sieben schwarzen Punkten darauf. Unter dieser rotbraunen Kuppel, die übrigens prächtig glänzte, sah man ein winziges schwarzes Köpfchen, in dem zwei helle Äuglein funkelten, und nun erkannte Maja auch die dünnen Beinchen, die, fein wie Fäden, unter der punktierten Kuppel hervorschauten und sie so gut trugen als sie eben konnten. Dieser kleine Dicke war es, der Maja angerufen hatte. Trotz seiner seltsamen Gestalt gefiel er der Biene ausgezeichnet, er hatte etwas gradezu Anmutiges.
„Wer sind Sie nur?“ fragte sie, „ich selbst bin Maja, vom Volk der Bienen.“
„Wollen Sie mich beleidigen?“ fragte der Kleine. „Dazu liegt kein Grund vor, das merken Sie sich.“
„Aber wie sollte ich dazu kommen?“ fragte die kleine Maja ganz erschrocken, „ich kenne Sie in der Tat nicht.“
„Das kann jeder sagen“, meinte der Dicke. „Nun, ich will Ihrem Gedächtnis nachhelfen. Zählen Sie.“ Und der Kleine begann sich langsam umzudrehn.
„Soll ich Ihre Punkte zählen?“
„Ja, bitte schön“, sagte der Käfer.
„Es sind sieben Punkte“, sagte Maja.
„Nun?“ fragte der Käfer, „also? Sie wissen es immer noch nicht? So will ich es Ihnen sagen. Ich heiße genau so, wie sich nachzählen läßt. Ich gehöre zur Familie der Siebenpunkte, heiße Alois und bin meines Zeichens Dichter. Die Menschen nennen mich auch Marienkäfer. Das ist ihre Sache. Aber das wissen Sie ja jedenfalls.“
Maja wagte nicht nein zu sagen, denn sie fürchtete Alois zu kränken.
„O,“ sagte Alois, „ich lebe vom Sonnenschein, vom Frieden des Tages und von der Liebe der Menschen.“
„Aber essen Sie denn nichts?“ fragte Maja überrascht.
„Doch, Blattläuse. Sie nicht?“
„Nein,“ sagte Maja, „das ist doch ...“
„Was ist es denn? Wie?“
„Es ist nicht üblich“, sagte Maja schüchtern.
„Natürlich!“ rief Alois und versuchte die eine Schulter hochzuziehen, was ihm aber wegen seiner festen Kuppel nicht gelang, „Sie tun als Bürgerliche selbstverständlich nur das, was üblich ist. Damit kämen wir Dichter nicht weit. Haben Sie Zeit?“
„Doch,“ sagte Maja, „gewiß.“
„Dann werde ich Ihnen eine Dichtung vortragen. Sitzen Sie still und schließen Sie die Augen, damit die Umgebung Sie nicht stört. Das Gedicht heißt ‚Der Menschenfinger‘. Es ist ein persönliches Erlebnis und von mir. Hören Sie?“
„Ja,“ sagte Maja, „jedes Wort.“
„Also:
Der Menschenfinger
Einmal hast du mich entdeckt,
als ich Glück im Leben hatte.
Du bist rund und langgestreckt.
Oben hast du eine glatte,
zugespitzte Panzerplatte,
welche sich bewegen läßt,
aber unten sitzt du fest!
Nun?“ fragte Alois nach einem kleinen Schweigen. Er hatte Tränen in den Augen und seine Stimme zitterte.
„Der Menschenfinger hat mich sehr ergriffen“, meinte Maja, die etwas verlegen geworden war. Eigentlich kannte sie schönere Lieder.
„Wie finden Sie die Form?“ fragte Alois und lächelte wehmütig. Er war sichtlich durch die Wirkung überwältigt, die er hervorgebracht hatte.
„Rund und langgestreckt“, antwortete Maja. „Sie haben es ja selbst gedichtet.“
„Ich meine die künstlerische Form, ich meine die Form meiner Dichtung.“
„Ah,“ sagte Maja, „ach so. Ja, die finde ich gut.“
„Nicht wahr?“ rief Alois. „Sie wollten sagen, daß dies Lied dem besten eingereiht werden kann, was Sie kennen, daß man weit zurückgreifen muß, ehe man etwas Verwandtes findet. Die Kunst muß zunächst Neuigkeiten enthalten, das ist es, was die meisten Dichter übersehen. Und dann Größe, nicht wahr?“
„Doch,“ sagte Maja, „ich glaube ...“
„Ihr zuversichtlicher Glaube an meine Bedeutung, den Sie ausgesprochen haben,“ sagte Alois, „beschämt mich gradezu. Haben Sie Dank. Ich muß nun weiter, denn die Einsamkeit ist die Zierde des Künstlers. Leben Sie wohl.“
„Adieu“, sagte Maja, die gar nicht recht wußte, was der Kleine eigentlich gewollt hatte. Nun, er selbst wird es schon wissen, dachte sie. Groß ist er ja eigentlich nicht, aber vielleicht wächst er noch. Sie sah ihm nach, wie er eifrig den Zweig hinaufkrabbelte. Man konnte seine winzigen Beinchen kaum unterscheiden, so daß es aussah, als schöbe er sich auf kleinen Rollen davon.
Dann sah Maja wieder auf das goldene Kornfeld nieder, über dem die Schmetterlinge spielten. Das gefiel ihr weit besser als das Werk des Alois Siebenpunkt.