Ach, dachte die kleine Maja im Dahinfliegen, nun habe ich vergessen, Peppi nach den Menschen zu fragen. Ein so erfahrener Mann, wie er, hätte mir sicherlich die beste Auskunft geben können. Aber vielleicht würde sie heute noch selbst einem Menschen begegnen. Voll Unternehmungslust und Frohsinn ließ sie ihre blanken Augen über das weite bunte Land schweifen, das sich unter ihr in seiner sommerlichen Pracht ausbreitete.
Sie kam an einem großen Garten vorüber, in dem es von tausend Farben leuchtete. Es begegneten ihr vielerlei Insekten, die ihr Wandergrüße zuriefen und frohe Fahrt und gute Ernte wünschten. Jedesmal wenn sie einer Biene begegnete, schlug anfänglich ihr Herz ein wenig, denn sie fühlte sich in ihrer Untätigkeit doch etwas schuldig und fürchtete sich, Bekannte zu treffen. Aber sie merkte bald, daß die Bienen sich weiter nicht um sie kümmerten.
Da sah sie plötzlich den blauen Himmel in unendlicher Tiefe unter sich leuchten. Sie dachte zuerst in großem Schrecken, sie wäre vielleicht viel zu hoch geflogen und hätte sich im Himmel verirrt, aber da sah sie, daß sich am Rande dieses unterirdischen Himmels die Bäume spiegelten, und sie erkannte zu ihrem Entzücken, daß es ein großes, stilles Wasserbecken war, das blau und klar im ruhigen Morgen dalag. Sie ließ sich voll Freude bis dicht auf die Oberfläche nieder und konnte nun sich selbst im Spiegelbild im Wasser fliegen sehen, sie sah ihre hellen Flügel wie reines flimmerndes Glas blinken, gewahrte, daß ihre Beinchen richtig am Körper lagen, wie Kassandra es sie gelehrt hatte, und sah die schöne Goldfarbe ihres Körpers im Wasser scheinen.
Es ist wirklich eine Wonne, so über eine Wasserfläche dahinzufliegen, jubelte sie. Sie erblickte große und kleine Fische, die in der hellen Flut dahinschwammen, oder ganz ruhig darin zu schweben schienen. Maja hütete sich wohl, ihnen zu nahe zu kommen, denn sie wußte, daß ihr vom Geschlecht der Fische Gefahr drohte.
Als sie am andern Ufer des Sees anlangte, lockte das warme Schilf sie und die riesengroßen Blätter der Seerosen, die wie grüne Teller auf dem Wasser lagen. Sie wählte eines der verborgensten Blätter, über dem die hohen blanken Schilfhalme sich in der Sonne wiegten, und das selbst beinahe ganz im Schatten lag. Nur ein paar runde Sonnenflecke lagen darauf, wie Goldmünzen.
„Herrlich,“ sagte die kleine Biene, „also wirklich ganz herrlich.“ Sie begann sich ein wenig zu säubern, indem sie mit beiden Armen hinter ihren Kopf griff und ihn etwas nach vorn zog, als ob sie ihn abreißen wollte. Aber sie hütete sich, zu fest zu ziehn, es handelte sich nur darum, den Staub zu entfernen. Dann strich sie mit den Hinterbeinchen über die Flügeldecken, so daß sie sich nach unten bogen und wundervoll blank wieder in ihre alte Lage zurückschnellten.
Da kam ein kleiner stahlblauer Brummer zu ihr, ließ sich neben ihr auf dem Blatt nieder und schaute sie erstaunt an.
„Was wollen Sie hier auf meinem Blatt?“ fragte er.
Maja erschrak.
„Man wird sich doch wohl einen Augenblick ausruhen dürfen“, sagte sie. Sie erinnerte sich, daß Kassandra ihr mitgeteilt hatte, daß das Volk der Bienen überall in der Insektenwelt in großem Ansehen stehe. Nun wollte sie einmal eine Probe machen, ob es ihr gelänge, sich in Respekt zu setzen. Aber ihr Herz klopfte doch etwas, weil sie sehr laut und entschieden geantwortet hatte.
Der Brummer erschrak in der Tat sichtlich, als er merkte, daß Maja nicht willens war, sich etwas vorschreiben zu lassen. Mit verdrossenem Summen schwang er sich auf einen Schilfhalm, der sich über das Blatt neigte, auf dem Maja saß, und sagte um vieles höflicher von oben herunter aus dem Sonnenschein:
„Sie sollten lieber einiges arbeiten, wie es sich für Sie gehört, aber wenn Sie der Ruhe bedürfen ... immerhin. Ich werde hier warten.“
„Es sind doch wirklich Blätter genug da“, meinte Maja.
„Alles vermietet“, sagte er. „Man ist heutzutage froh, wenn man ein kleines Grundstück sein eigen nennt. Wäre mein Vorgänger nicht vor zwei Tagen vom Frosch gefangen worden, so hätte ich heute noch keine rechte Unterkunft. Immer bald hier, bald dort zu übernachten, hat viel gegen sich. Es hat halt nicht jeder ein so geordnetes Staatswesen, wie Sie es pflegen. Übrigens mein Name ist Hans Christoph, mit Verlaub mich Ihnen vorzustellen.“
Maja schwieg und dachte mit Schrecken darüber nach, wie furchtbar es sein müsse, in die Gewalt des Frosches zu geraten.
„Gibt es in diesem Gewässer viele Frösche?“ fragte sie den Brummer und setzte sich genau in die Mitte des Blattes, damit man sie vom Wasser aus nicht erblickte.
Der Brummer lachte.
„Geben Sie sich keine Mühe,“ spottete er, „der Frosch kann Sie von unten sehn, wenn die Sonne leuchtet, weil das Blatt dann durchscheint. Er sieht ganz genau, wie Sie auf meinem Blatt sitzen.“
Maja, die von der bösen Vorstellung befallen wurde, dicht unter ihrem Blatt säße vielleicht ein großer Frosch und schaute sie mit seinen vorquellenden, hungrigen Augen an, wollte rasch auffliegen, als etwas ganz Furchtbares geschah, worauf sie in der Tat in keiner Weise vorbereitet war. Anfangs konnte sie in der ersten Verwirrung nicht genau unterscheiden, was eigentlich vor sich ging, sie hörte nur ein helles, klirrendes Sausen über sich, das so klang, als schwirrte der Wind in welken Blättern; dazu hörte sie ein singendes Pfeifen, einen hellen zornigen Jagdruf, und ein feiner, durchsichtiger Schatten huschte über ihr Blatt. Und dann erkannte sie, und ihr Herz stand still vor Angst, daß eine große, schillernde Libelle sich des armen Hans Christophs bemächtigt hatte und den verzweifelt Schreienden in ihren großen, messerspitzen Fängen hielt. Sie ließ sich mit ihrer Beute auf dem Schilfhalm nieder, der sich unter ihrer Last etwas niederbeugte, so daß Maja die beiden über sich schweben sah und zugleich das Spiegelbild im klaren Wasser. Hans Christophs Geschrei zerriß ihr Herz. Ohne Besinnen rief sie laut:
„Lassen Sie sofort den Brummer los, wer immer Sie sein mögen. Sie haben nicht das geringste Recht, in so eigenmächtiger Weise in die Gewohnheiten anderer einzugreifen.“
Die Libelle ließ den Brummer aus ihren Fängen, hielt ihn aber sorgfältig mit den Armen fest und drehte den Kopf nach Maja um. Maja erschrak sehr über die großen ernsten Augen der Libelle und über die bösen Beißzangen, die sie hatte, aber das Glitzern ihrer Flügel und ihres Leibes entzückte sie. Es blitzte wie Wasser, Glas und Edelsteine. Nur die ungeheure Größe der Libelle entsetzte sie, sie begriff ihren Mut nicht mehr und begann auf das heftigste zu zittern.
Aber die Libelle sagte ganz freundlich:
„Kind, was ist denn mit Ihnen?“
„Lassen Sie ihn los,“ rief Maja und in ihre Augen kamen Tränen, „er heißt Hans Christoph ...“
Die Libelle lächelte.
„Weshalb denn, Kleine?“ fragte sie und machte ein interessiertes Gesicht, das aber einen Ausdruck von großer Herablassung hatte.
Maja stotterte hilflos:
„Ach, er ist doch ein so netter, sauberer Herr und hat Ihnen, soviel ich weiß, nichts zuleide getan.“
Die Libelle sah Hans Christoph nachdenklich an:
„Ja, er ist ein lieber, kleiner Kerl“, antwortete sie zärtlich und biß ihm den Kopf ab.
Maja glaubte die Besinnung zu verlieren, so sehr erschütterte sie dieser Vorgang. Sie konnte lange kein Wort hervorbringen und mußte nun, voll Grauen, die krachenden und knuspernden Laute hören, unter denen der Körper des stahlblauen Hans Christoph über ihr zerlegt wurde.
„Stellen Sie sich doch nicht an,“ sagte die Libelle mit vollem Mund und kaute weiter, „Ihre Empfindsamkeit macht nur geringen Eindruck auf mich. Machen Sie es denn besser? Augenscheinlich sind Sie noch sehr jung und haben sich im eigenen Hause nur wenig umgesehn. Wenn im Sommer das Drohnenmorden in Ihrem Stock beginnt, empört sich die Umwelt nicht weniger, und ich meine, mit mehr Recht.“
Maja fragte: „Sind Sie fertig da oben?“ Sie konnte sich nicht entschließen hinaufzusehen.
„Ein Bein ist noch da“, sagte die Libelle.
„Schlucken Sie es bitte herunter, dann werde ich Ihnen antworten“, rief Maja, die genau wußte, weshalb die Drohnen im Sommer im Bienenstock getötet werden mußten, und die sich über die Dummheit der Libelle ärgerte. „Aber unterstehen Sie sich nicht, mir auch nur um einen Schritt näher zu treten. Ich würde mich nicht besinnen, unverzüglich von meinem Stachel Gebrauch zu machen.“
Die kleine Maja war wirklich sehr ärgerlich geworden. Zum erstenmal erwähnte sie ihren Stachel und zum erstenmal freute sie sich dieser Waffe.
Die Libelle machte böse Augen. Sie hatte ihre Mahlzeit beendet und saß nun, etwas geduckt, da, schaute Maja lauernd an und sah aus wie ein Raubtier, das im Begriff ist, sich auf seine Beute zu stürzen. Aber die kleine Biene blieb nun ganz ruhig. Sie konnte nicht recht begreifen, woher ihr Mut kam, aber sie empfand keine Furcht mehr. Sie ließ ein ganz feines helles Summen hören, wie sie es einmal im Stock vom Wächter gehört hatte, als eine Wespe sich dem Flugloch näherte.
Die Libelle sagte drohend und langsam:
„Die Libellen leben in bestem Einvernehmen mit dem Volk der Bienen.“
„Sie tun auch gut daran“, sagte Maja rasch.
„Meinen Sie etwa, ich hätte Furcht vor Ihnen, ich — vor Ihnen?“ fragte die Libelle. Sie ließ mit einem Ruck den Schilfhalm los, der in seine alte Lage zurückschnellte, und sauste mit einem klirrenden, blitzenden Flügelschlag bis dicht auf die Oberfläche des Wassers nieder. Es sah ganz herrlich aus, wie sie sich im See spiegelte, man glaubte zwei Libellen zu sehn, und beide bewegten ihre gläsernen Flügel so rasch und fein, daß es aussah, als fließe ein heller Silberschein um sie her. Es sah so herrlich aus, daß die kleine Maja ihren ganzen Verdruß um den armen Hans Christoph und jede Gefahr vergaß. Sie klatschte in die Hände und rief ganz begeistert:
„Wie wunderschön. Wie wunderschön!“
„Meinen Sie mich?“ fragte die Libelle ganz erstaunt. Aber dann fügte sie rasch hinzu: „Ja, ich kann mich sehn lassen, das ist wahr. Sie hätten die Begeisterung erleben sollen, in die gestern einige Menschen gerieten, die mich am Bach sahn, wo sie sich hingelegt hatten.“
„Menschen?“ fragte Maja, „ach, Menschen haben Sie gesehn?“
„Natürlich,“ sagte die Libelle, „aber es wird Sie zweifellos auf das lebhafteste interessieren, wie ich heiße, mein Name ist Schnuck, von der Familie der Netzflügler, im besonderen der Libellen.“
„Ach, erzählen Sie von den Menschen“, bat Maja, nachdem sie ihren Namen genannt hatte.
Die Libelle schien versöhnt. Sie setzte sich neben Maja auf das Blatt, und die kleine Biene ließ es zu. Sie wußte, daß Schnuck sich hüten würde, ihr zu nahe zu treten.
„Haben die Menschen einen Stachel?“ fragte Maja.
„Mein Gott,“ sagte Schnuck, „was sollten sie wohl damit anfangen. Nein, sie haben schlimmere Waffen gegen uns und sie sind uns sehr gefährlich. Es gibt niemand, der nicht Angst vor ihnen hätte, besonders vor den kleinen, bei denen man die beiden Beine deutlich unterscheiden kann. Diese heißen Knaben.“
„Stellen sie Ihnen nach?“ fragte Maja, ganz atemlos vor Erregung.
„Ja, ist Ihnen denn das nicht verständlich?“ fragte Schnuck mit einem Blick über ihre Flügel. „Ich bin nur selten einem Menschen begegnet, der nicht den Versuch gemacht hätte, mich zu greifen.“
„Weshalb denn nur?“ fragte Maja ängstlich.
„Wir haben eben etwas sehr Anziehendes“, sagte Schnuck mit einem bescheidenen Lächeln und sah schräg vor sich nieder. „Einen andern Grund weiß ich nicht. Es ist vorgekommen, daß Leute unserer Familie, die sich haben greifen lassen, die furchtbarsten Qualen und zuletzt den Tod haben erleiden müssen.“
„Sind sie aufgefressen worden?“
„Nein, nein,“ sagte Schnuck beruhigend, „das grade nicht. Soviel bekannt ist, nährt sich der Mensch nicht von Libellen. Aber im Menschen leben zuweilen Mordgelüste, die wohl ewig unaufgeklärt bleiben. Es mag Ihnen unglaublich erscheinen, aber in der Tat sind Fälle vorgekommen, in denen sogenannte Knabenmenschen Libellen gefangen haben und ihnen aus purem Vergnügen die Flügel oder die Beine ausgerissen haben. Sie zweifeln?“
„Natürlich zweifle ich daran“, rief Maja entrüstet.
Schnuck zuckte die glitzernden Achseln, ihr Gesicht sah ganz alt aus vor Erkenntnis.
„Ach, wenn man einmal offen sein dürfte,“ sagte sie, ganz blaß vor Traurigkeit, „ich hatte einen Bruder, er berechtigte zu den besten Hoffnungen, nur war er etwas leichtsinnig und leider sehr neugierig. Er fiel in die Hände eines Knaben, der ihm unversehens ein Netz überwarf, das an einer langen Stange befestigt war. Sagen Sie selbst, wer denkt an so was?“
„Nein,“ antwortete die kleine Maja, „an so etwas habe ich niemals gedacht.“
Die Libelle sah sie an.
„Es ist ihm dann ein schwarzes Seil um die Brust gebunden worden, mitten zwischen seinen Flügeln, so daß er wohl auffliegen, aber niemals entrinnen konnte. Jedesmal, wenn mein armer Bruder glaubte, seine Freiheit zurückgewonnen zu haben, sah er sich auf die grausamste Weise an jenem bereits erwähnten Seil wieder in das Bereich des Knaben zurückgezerrt.“
Maja schüttelte nur den Kopf.
„Man darf es sich gar nicht vorstellen“, flüsterte sie traurig.
„Wenn ich einmal einen Tag nicht daran gedacht habe, so träume ich sicher davon“, fuhr Schnuck fort. „Es kam damals sehr viel zusammen. Schließlich starb mein Bruder.“ Schnuck seufzte tief auf.
„Woran starb er?“ fragte Maja in aufrichtiger Teilnahme.
Schnuck konnte nicht gleich antworten, große Tränen brachen aus ihren Augen und liefen langsam über die Wangen:
„Er ist in die Tasche gesteckt worden,“ schluchzte sie, „das hält niemand aus ...“
„Was ist das?“ fragte Maja ängstlich, die kaum in der Lage war, so viel Neues und Böses auf einmal zu verstehn und zu bewältigen.
„Die Tasche“, erklärte ihr Schnuck, „ist eine Vorratskammer, die die Menschen in ihrem äußeren Fell haben. Aber was glauben Sie, das sonst noch darin war? O, in welch furchtbarer Gesellschaft mußte mein armer Bruder seine letzten Atemzüge tun. Sie werden niemals darauf kommen!“
„Nein,“ sagte Maja mit bebendem Atem, „ich werde es nicht ... vielleicht Honig?“
„Nein, nein“, meinte Schnuck, sehr wichtig und sehr traurig zugleich. „Honig werden Sie selten in den Taschen der Menschen finden. Ich will Ihnen sagen, was darin war: es war ein Frosch, ein Taschenschwert und eine gelbe Rübe. Nun?“
„Schaurig,“ flüsterte Maja, „was ist ein Taschenschwert?“
„Es ist gewissermaßen der künstliche Stachel des Menschen. Da ihm die Natur diese Waffe versagt hat, sucht er sie nachzubilden. Der Frosch war gottlob bereits im Begriff, das Zeitliche zu segnen. Er hatte ein Auge verloren, ein Bein gebrochen und sein Unterkiefer war ausgerenkt. Aber sobald mein Bruder in der Tasche erschien, zischte der Frosch aus seinem schiefen Maul:
‚Wenn ich genesen bin, werde ich Sie unverzüglich verschlingen.‘ Dabei schielte er mit dem übriggebliebenen Auge auf den bedauernswerten Ankömmling. Dieser Blick muß in der Dämmerung des Gefängnisses auf das furchtbarste gewirkt haben. Mein Bruder hat die Besinnung verloren, als er gleich darauf durch eine unerwartete Erschütterung so gegen den Frosch gepreßt wurde, daß seine Flügel an dem kalten nassen Leib des Sterbenden kleben blieben. O, man kann keine Worte finden, um dies Elend in der treffendsten Weise zu kennzeichnen.“
„Woher wissen Sie das alles?“ stotterte Maja aufs äußerste entsetzt.
„Später warf der Knabe meinen Bruder und den Frosch fort, als er Hunger bekam und die Rübe suchte, um sie zu verzehren. Ich fand sie nebeneinander im Gras liegen, angelockt durch die Hilferufe meines Bruders. Aber ich kam nur noch zeitig genug, um alles zu hören und ihm die Augen zuzudrücken. Er legte seinen Arm um meinen Hals und küßte mich zum Abschied. Dann starb er tapfer und ohne Klage, als ein kleiner Held. Als das letzte Beben seiner zerknitterten Flügel aufgehört hatte, legte ich Eichblätter über ihn und suchte ein erblühtes Männertreu, dessen blaue Blume zu seiner Ehre auf dem Hügel verwelken sollte. ‚Leb wohl,‘ rief ich, ‚schlaf gut, mein kleiner Bruder‘, und flog in den stillen Abend hinaus, den beiden roten Sonnen entgegen, denn man sah die Sonne zweimal, am Abendhimmel und im See. So traurig und feierlich ist noch niemandem zumut gewesen. — Ist Ihnen auch schon etwas Trauriges passiert? Dann erzählen Sie es mir vielleicht ein andermal.“
„Nein,“ sagte Maja, „ich bin eigentlich bis jetzt immer froh gewesen.“
„Da können Sie Gott danken“, meinte Schnuck, etwas enttäuscht.
Maja fragte nach dem Frosch.
„Ach so, der“, sagte Schnuck. „Er erlitt voraussichtlich den Tod, den er verdiente. Wie konnte er nur die Herzenshärtigkeit aufbringen, einen Sterbenden zu ängstigen? Er versuchte damals zu entkommen, aber da sein eines Bein sowohl als auch sein eines Auge völlig außer Tätigkeit gesetzt waren, hüpfte er ununterbrochen im Kreise herum. Es sah außerordentlich komisch aus. ‚So wird der Storch Sie bald gefunden haben‘, rief ich ihm zu, bevor ich davonflog.“
„Der arme Frosch“, sagte die kleine Maja.
„Nun, ich muß doch bitten,“ meinte die Libelle nicht ohne Entrüstung, „Sie gehn zu weit. Einen Frosch bedauern, heißt sich in den eigenen Flügel schneiden. Sie sind eine gewissenlose Person, wie mir scheint.“
„Das kann ja sein,“ antwortete Maja, „aber es wird mir sehr schwer, jemanden leiden zu sehn.“
„O,“ tröstete sie Schnuck, „das liegt an Ihrer Jugend, Sie werden es lernen, nur Mut, meine Freundin. Aber ich muß nun fort in die Sonne. Es ist hier reichlich kühl. Leben Sie wohl!“
Es klirrte leise, und tausend helle Farben blitzten auf, blasse, liebliche Farben, wie rinnendes Wasser sie hat und klare Edelsteine. Schnuck schwang sich durch die grünen Schilfhalme bis auf die Oberfläche des Wassers, und Maja hörte sie in der Morgensonne singen. Sie lauschte dem feinen Gesang, der etwas von der schwermütigen Süßigkeit eines Volksliedes hatte und das Herz der kleinen Maja fröhlich stimmte und traurig zugleich. Es klang zu ihr herüber:
Lieblich ist der stille Fluß,
wenn der Morgensonne Gruß
seine Flut getroffen.
Wo der grüne Schilfhalm weht
und die Wasserrose steht,
weiß und gelb und offen.
Warmer Duft und Wind und Flut,
auf den Flügeln Sonnenglut
und im Herzen Freude.
Ach, das Leben ist nicht lang,
goldner Sommer, habe Dank,
herrlich ist es heute.
„Horch, das Lied der Libelle erschallt“, rief ein weißer Schmetterling seiner Freundin zu. Sie schaukelten sich dicht an Maja vorüber durch das strahlende Blau des schönen Tags. Da hob auch die kleine Biene ihre Flügel, und mit leisem Summen begrüßte sie den silbernen See zum Abschied und flog landeinwärts davon.